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Künstliche Intelligenz in Lettland
Übersetzen und Fische sortieren mit neuronalen Netzen

Ein KI Roboter sortiert Fisch
Foto: Peruza

In Lettland wird Künstliche Intelligenz (KI) sowohl in Forschungsinstituten als auch für Geschäftszwecke erforscht und entwickelt, etwa zur Nutzung für Prozesssteuerung in der Fischindustrie oder automatisierte Übersetzung und Bearbeitung im Sprachbereich. Von großer Bedeutung für die Entwicklung von KI, sowohl in der „reinen“ Forschung als auch im unternehmerischen Bereich, ist das maschinelle Lernen. 

Von Juris Kaža

Künstliche Intelligenz ist in Medien vielerorts auf der Welt ein aktueller Begriff. Ganz allgemein gesagt entspricht KI einer früheren, „volkssprachlichen“ Bezeichnung von Computersystemen – dem elektronischen Gehirn. So nannte man kleiderschrankgroße Geräte, die schon in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Unternehmensräumen und Forschungseinrichtungen anzutreffen waren. Doch erst in den letzten Jahrzehnten haben Computersysteme Fähigkeiten erworben, die echten Gehirnen gewissermaßen ähneln, nämlich das Lernen und die damit einhergehende Verbesserung von Präzision und Effizienz in den Arbeitsprozessen.

In der Entwicklung von KI und insbesondere dem Unterbereich des maschinellen Lernens (ML) gab es in den letzten Jahren Erfolge und entsprechende Medienaufmerksamkeit für ML-gestützte Lösungen wie Übersetzen, Sprach- und Textbearbeitung, industrielle Prozesssteuerung, gesellschaftliche und Verkehrssicherheit, Drohnensteuerung u.a.  

„KI ist ein breiter Wissenschaftszweig, der schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts besteht. Sie beinhaltet Studien über alle möglichen Methoden, Computern, Robotern und anderen Maschinen intelligente Fertigkeiten beizubringen, etwa Wahrnehmen, Denken, Planen, Lernen u.a.,“ so Dr. Roberts Kadiķis, Leiter des Laboratoriums für Robotik und maschinelle Wahrnehmung am lettischen Institut für Elektronik und Computerwissenschaften (EDI). Wie Dr. Kadiķis erklärt, „erlebt der Bereich KI in den letzten Jahren einen Boom. Genauer gesagt erlebt diesen ein Unterbereich der KI: das ML.“ 

In Lettland wird aktiv an KI und ML geforscht, neue Methoden werden entwickelt oder bestehende verfeinert, Entdeckungen und Erfindungen kommerzialisiert. Dies geschieht im Labor von Dr. Kadiķis. Dort findet, wie er es beschreibt, „der größte Teil unserer Forschung im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Das Ergebnis solcher Projekte ist meist neues Wissen in Form von Publikationen, oder auch Demonstrationen, bei denen unter Laborbedingungen beispielsweise gezeigt wird, wie ein Roboter wirklich ein aufzuhebendes Objekt in einem Haufen findet, es aufnimmt, klassifiziert und in einem entsprechenden Fach ablegt.“ 

Roboter lernen, Fische und Packungen zu sortieren 

Zu ganz praktischen Zwecken wird das ML vom lettischen Unternehmen „Peruza“ genutzt, das schon seit knapp 30 Jahren dafür sorgt, dass die von Fischern angelieferten Fische (oder deren Teile) „in die entsprechende Dose geworfen werden“. „Peruza“ stellt automatisierte Fischverarbeitungs- und Konservenverpackungslinien für den Export in die ganze Welt her. Mancherorts haben die in Lettland entwickelten und hergestellten Fischkonservenlinien schon lange in großem Maßstab eintönige und nicht besonders saubere oder angenehme Handarbeit mit Fischstücken und -innereien ersetzt. Das übernehmen die von „Peruza“ zusammengestellten Roboterlinien, deren Steuerungsprogrammen nun (für Computer) immer kompliziertere Aufgaben beigebracht werden. In einem Film des Lettischen Fernsehens wurde letztes Jahr gezeigt, wie einem „Peruza“-Roboter beigebracht wird, in einem unordentlichen Fischhaufen einen großen Fisch (eine Lachsatrappe) zu erkennen, aufzuheben und woanders abzulegen. Der Roboter „lernt“, indem er das aufnimmt, was die Sensoren als Fisch erkennen, und von seinem menschlichen Trainer oder einem anderen System ein Signal erhält, ob die Wahl richtig war. So versteht der Steuerungscomputer – genauer gesagt, das sogenannte neuronale Netz, das elektronisch menschliche Gehirnzellen simuliert – immer besser, welche Gegenstände einem „Fisch“ entsprechen. Bald könnten solche Roboter menschliche Handarbeit in der norwegischen Lachszuchtindustrie ersetzen.

Wenn das Steuerungssystem des Roboters mit ML-Methoden einen Lachs erkennen kann, so kann man ihm durch „Fütterung“ mit anderen Daten auch beibringen, mit Obst und Gemüse zu arbeiten. So erweitert „Peruza“ seine Tätigkeit in der Lebensmittelverarbeitung außerhalb von Fischkonserven. Es wurde auch ein Roboter entwickelt, der gelernt hat, Glas- und Kunststoffverpackungen zu sortieren. Dieser könnte eventuell bei der Einführung eines automatisierten Pfandsystems in Lettland verwendet werden. Dann kann die Bevölkerung, wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, Verpackungen sowie Glas- und Plastikflaschen einfach abgeben, und der Pfandautomat „erkennt“ und sortiert diese dann entsprechend. 

Mit maschinellem Lernen werden Übersetzungsprozesse verbessert und redende Roboter trainiert

Der Bereich, in dem das lettische Unternehmen „Tilde“ zu Recht als führend in der Nutzung von KI und ML angesehen wird, ist die sogenannte Sprachtechnologie. Der Begriff beinhaltet maschinelle Übersetzung, das Verstehen von Korrespondenz in Alltagssprache, Stimmerkennung und -imitation durch das Lesen eingegebener Texte sowie die Kombination all dieser Fertigkeiten, u.a. für Roboter in der Kundenbetreuung. Solch ein Roboter, eine bewegliche Gestalt einer jungen Frau auf einem Bildschirm, die Englisch versteht und auf Englisch antwortet, bedient Besucher im Foyer von „Tilde“ in Riga.  

Mārcis Pinnis, Entwicklungsleiter und Forscher für Künstliche Intelligenz bei „Tilde“, erklärt: „Bei „Tilde“ nutzen wir Methoden des maschinellen Lernens zur Entwicklung eines Großteils der Sprachtechnologien und -produkte. In den letzten fünf Jahren haben wir für einen großen Teil der Aufgaben verschiedene Arten tiefer neuronaler Netze verwendet. Zum Beispiel verwenden wir für das Trainieren von Systemen für maschinelle Übersetzung, Spracherkennung und Sprachsynthese sowie das Erkennungsmodell für natürliche Sprache des virtuellen Assistenten tiefe neuronale Netze.

Pinnis erzählt auch, dass man nicht nur dieses neuronale Netz programmieren können muss, damit „Tildes“ Sprachlösungen funktionieren und überhaupt möglich sind, sondern auch viel über die entsprechenden Sprachstrukturen, Grammatik, Wortformen u.a. wissen muss, damit der ML-Prozess sinnvoll geschieht.  „Wenn wir einen Wörterbucheintrag zur Übersetzung aus dem Englischen ins Lettische haben, reicht es nicht, die Wörterbuchform des übersetzten Wortes zu kennen, um dieses richtig in die Übersetzung einzusetzen. Denn im Lettischen benutzen wir im Satz nicht nur die Form aus dem Wörterbuch – wir müssen alle Deklinationen kennen. Wenn wir wiederum aus dem Deutschen ins Englische übersetzen, ist die Wörterbuchform in den meisten Kontexten ausreichend,“ so Pinnis. 

Ein wesentlicher Faktor für die Anwendung von ML ist der Umfang und die Vielfalt des zugänglichen Datensatzes. So können für eine Sprache etwa ausreichend schriftliche Daten wie Wörterbücher und literarische Texte zum Trainieren des neuronalen Netzes vorhanden sein, aber Stimmbeispiele für die Sprache und ihre möglichen Dialekte fehlen. „In Lettland gibt es zum Beispiel derzeit keinen Korpus übersetzter mündlicher Reden, daher ist bei uns die Technologie zur Übersetzung von Reden noch nicht weit entwickelt. Für das Lettische gibt es auch noch keinen zu „Siri“, „Alexa“ oder „Cortana“ analogen Sprachassistenten, denn die Entwicklung einer solchen Technologie erfordert sehr große Datensätze. Doch wir haben spezialisierte und an bestimmte Bereiche angepasste Chat-Bots (z.B. den Covid-Bot, die Helferin des Unternehmensregisters, den Roboter Tom des Finanzamts u.a.), für deren Erschaffung weitaus kleinere Datensätze erforderlich sind,“ erzählt Pinnis. 

Doch der „Tilde“-Experte weist darauf hin, dass das Sprachtechnologie-Unternehmen auch ohne eine lettische Version von „Siri“ Grund hat, stolz zu sein. „Unsere neuronalen Technologien für maschinelle Übersetzung sind unser erfolgreichstes Exportprodukt unter den Sprachtechnologien. Wir haben bereits acht Ratspräsidentschaften in der EU mit Maschinenübersetzungstechnologien unterstützt. Zum Präsidentschafts-Übersetzungstool finden Sie weitere Informationen unter presidencymt.eu und auf der Website der deutschen Ratspräsidentschaft. Außerdem bieten wir Beratungen an und unterstützen die Europäische Kommission bei der Entwicklung von Maschinenübersetzungslösungen mit Daten und verschiedenen Lösungen,“ schreibt Pinnis in einer E-Mail. 

KI-Laborleiter Dr. Kadiķis berichtet, dass der Boom der neuronalen Netze, für die immer breitere Anwendungsfelder entstehen, unter dem Einfluss einiger Neuheiten in den Informationstechnologien entstanden ist. „Die Idee eines Netzes ist nicht neu, doch diese begannen überraschend gut zu funktionieren, als die Forschung Zugang zu zwei neuen Elementen bekam: Big Data – riesige Datenmengen, mit denen die Netze trainiert werden können – und große, leicht für diesen Zweck nutzbare Rechenkapazitäten (Grafikprozessoren bzw. Grafikkarten),“ erklärt der Forscher. Mit den sog. „tiefen“ neuronalen Netzen beschäftigt sich das EDI seit 2014. 

KI-Systeme müssen an Chaos gewöhnt werden; man muss verstehen, was diese „denken“ 

Auf die Frage, welche teilweise oder gänzlich ungelösten KI-Probleme sein Labor und das EDI noch erforschen, nennt Dr. Kadiķis mehrere: 
  • Den Einsatz von Robotern in unvorhergesehenen und chaotischen Umständen. 
    „In unseren Studien arbeiten wir mit Objekten, die durcheinander auf einem Haufen liegen. Eine Zusatzherausforderung ist, dass die Objekte untereinander ähnlich sein können und die Algorithmen für das Computersehen unterscheiden können müssen, welches davon zum jeweiligen Zeitpunkt gut aufnehmbar und nicht teilweise von gleichen oder ähnlichen Objekten bedeckt ist,“ erklärt er. Diese Studien seien etwa beim Sortieren von Verpackungen und ähnlichen Anwendungen von Nutzen.
  • Das Datenproblem in Bezug auf das Training der Steuerungssysteme autonomer Fahrzeuge.
    Derzeit versuche man, dies mit Hilfe von Videos vom Blickfeld echter fahrender Autos zu tun, doch dabei müssen wichtige Gegenstände – Bäume, Fußgänger, Wände, am Rand geparkte Fahrzeuge u.ä. – „per Hand“ markiert werden. „Eine der Möglichkeiten, die das EDI auch nutzt, ist die Generierung und Nutzung synthetischer Daten. Ein Blick auf die Entwicklung von Filmen und Computerspielen zeigt, dass Computergrafiken sich rasant verbessern und dem echten Leben immer ähnlicher sind. In der virtuellen Welt gibt es keine Probleme mit der Datenmarkierung, weil jedes Objekt sich bereits an einem genau definierten Ort in dieser Welt befindet,“ sagt Kadiķis.
  • Erklärbare KI
    KI-Lösungen erreichen mit der Nutzung von ML und neuronalen Netzen oft bemerkenswert gute Ergebnisse, etwa bei der Untersuchung von Hautanomalien per maschinellem Sehen in der medizinischen Diagnostik, doch oft ist nicht verständlich, was in der „Black Box“ der KI geschehen ist. „Das neuronale Netz kann eine Formung der Haut als bösartig klassifizieren, doch wir erhalten keine Antwort darauf, wie es zu diesem Schluss kommt oder nach welchen Parametern es sich bei dieser Diagnose gerichtet hat,“ sagt der Laborleiter, „daher ist derzeit die erklärbare KI (explainable AI oder xAI) weltweit ein sehr dynamischer Bereich, in dem auch das EDI forscht. Damit ließen sich Antworten oder Hinweise darauf erhalten, was genau in diesen Daten die Entscheidung der KI beeinflusst hat.“
  • Eingebettete Intelligenz
    Wie Dr. Kadiķis erklärt, arbeitet das EDI an einem besonderen, bereits mit KI- und ML-Fähigkeiten ausgestatteten Mikroprozessor-Design, das mit geringem Energieverbrauch auf mobilen Geräten zum Einsatz kommen könnte, zum Beispiel in Telefonen, Drohnen oder anderen Geräten, bei denen der Prozessor keinen dauerhaften Stromanschluss hat.
Auch „Tilde“ hofft, seine maschinellen Übersetzungstools in Zukunft weiter zu verbessern und ein System zu entwickeln, das in Echtzeit lettische oder englische Untertitel für fremdsprachige Reden erstellen kann. Das bedeutet, dass die KI-Entwicklung in Lettland auch in den kommenden Jahren neue Lösungen und Innovationen für den europäischen und den Weltmarkt bringen wird.

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