Interview 5 plus 1
Kooperationen mit sozialem Twist

Anne Beate Hovind in der Nordmarka
Anne Beate Hovind | ©Tina Norris

Anne Beate Hovind beauftragt und produziert als Stadtentwicklerin Kunst im öffentlichen Raum. In Oslo die urbane Farm Losæter und die Flatbread Society des Kollektivs Futurefarmers sowie seit 2014 die Future Library der schottischen Künstlerin Katie Paterson. Erste internationale Erfahrungen sammelte Anne Beate bereits 1985, als sie mit Sozialpädagogen der TU Berlin zusammenarbeitete, die in einem verlassenen Fischerdorf in Vesterålen „The International Nyksund Project“ gründeten.

Wie kam es dazu, dass Du Teil des Nyksund-Projektes wurdest?

Ich war sehr jung, gerade mal 19 Jahre alt, und nahm eine Stelle als Vertretungslehrerin in der Gemeinde Øksnes an, wo auch Nyksund liegt. Jarl, mein heutiger Ehemann, und ich arbeiteten dann in der Schule und im Jugendclub. Im Frühjahr 1985 verbreitete sich das Gerücht, dass die „Deutschen“ nach Nyksund gekommen sind. Wir waren (und sind) sehr neugierig und nahmen sofort Kontakt auf, kurz darauf begann unsere Zusammenarbeit.

Wir reisten mit dem Bürgermeister und Gemeinderat nach Berlin – und gründeten die Stiftung. Als wir später zurück nach Oslo zogen, wurde unsere kleine Wohnung zu einer Basis für Deutsche, die nach Nyksund fuhren oder von dort kamen.
Im Sommer 1986 reisten wir zusammen mit Jugendlichen gen Norden. Sechs Wochen lang lebten und arbeiteten wir in Nyksund. Eine große Gruppe junger Leute, Leiter und Handwerker aus Berlin war ebenfalls vor Ort. Die Community baute eine Windmühle, installierte Solarenergie-Panels, reparierte Häuserdächer und bereitete Essen zu. Wir alle waren auf der gleichen Ebene und diskutierten oft in „Gremien“, ich erinnere mich noch an dieses deutsche Wort. Die Deutschen in Nyksund waren anarchistischer und weitaus kritischer gegenüber Macht und Autoritäten als wir.

Hat diese Zeit Dich geprägt und eventuell sogar Deine Karriere beeinflusst?

Es war ein unvergesslicher, exotischer, fantastischer und lehrreicher Sommer für jeden Beteiligten. Die Welt kam nach Nyksund. Die deutschen Uni-Mitarbeiter sahen den Wert des zuvor verlassenen Fischerdorfes, was wiederum meine und die Sicht der anderen veränderte. Der Ansatz der TU Berlin in Bezug auf die Arbeit mit Jugendlichen, auf die Umwelttechnik und Nachhaltigkeit war innovativ.
Heute wollen alle eifrig den Code der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit knacken, in Nyksund haben sie dies bereits 1986 geschafft. Diese Erfahrungen habe ich in mein späteres Leben mitgenommen. Sowohl Jarl als auch ich arbeiten seitdem an internationalen Kooperationen mit einem sozialen Twist.

Was hältst Du davon, dass Künstler*innen wie Elisabeth Brun in ihrem Projekt „Nyksund:Reloaded“ die damalige Zeit neu untersuchen?

Ich kenne Elisabeth und unterstütze ihre künstlerische Forschungsarbeit. Unser gesamtes privates Archiv, das Tagebücher der Teilnehmer*innen, Fotos und Stiftungsmaterialien enthielt, wurde ihr gespendet. Ebenso von Grethe Andreassen, die ein aufschlussreiches Buch über das Projekt in den Achtzigern geschrieben hat.
Die Rolle der Kunst besteht darin, Fragen jeglicher Art zu stellen. Ohne (kritische) Fragen lernen wir nichts über uns selbst oder andere. Über einen Ort und seinen Platz in der Welt. Ich bin sehr gespannt, was bei „Nyksund:Reloaded“ herauskommt und freue mich darauf, die Erkenntnisse zu teilen.

Seit 2014 leitest Du den Future Library Trust. Im Rahmen von Katie Patersons Projekt wird jedes Jahr eine Autorin oder ein Autor gebeten, einen Text zu schreiben, der bis 2114 unveröffentlicht bleibt. Mit dabei ist auch Judith Schalansky. Warum wurde sie ausgewählt?

Judith ist eine hervorragende Autorin, die eine verschwindende natürliche Welt ehrt. Sie verwebt Fiktion, Autobiografie und Geschichte miteinander, reflektiert über den Verlust von Sprachen, Landschaften, Kulturen und Klimazonen, die so charakteristisch für unsere Zeit sind. Ihre Schriften holen die Vergangenheit in die Gegenwart, erinnern an das Vergessene, geben den Schweigenden eine Stimme und trauern um das Verlorene. In gewisser Weise bewahren Bibliotheken und Bücher das Ferne und Vergessene. Wir sind so glücklich, dass Judith im Mai 2023 Teil unserer Future-Library-Familie wurde.

Apropos Bücher: Norwegen war 2019 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
Es beeindruckte mich, wie groß die Frankfurter Buchmesse ist. Katie sprach im norwegischen Pavillon mit der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood, der ersten Autorin unserer Future Library. Im Publikum saßen Buchliebhaber von verschiedenen Kontinenten. Nächstes Jahr wird die literarische Verbindung fortgesetzt, dann ist Norwegen Ehrengast der Leipziger Buchmesse.

Plus 1: Welchen Beruf hättest Du gewählt, wenn Du nicht Stadtentwicklerin und Produzentin geworden wärst?

Als junges Mädchen wollte ich Archäologin werden, aber ich glaube, das wäre mir ein bisschen zu langsam gewesen. Ich bin sehr neugierig und mag Mysterien, deshalb würde auch Ermittlerin oder Journalistin zu mir passen.