Digitalisierung in der Kunst
„Komplexität ist Schönheit“

Was wäre, wenn Freds Leben anders verlaufen wäre? Bei der Uraufführung von Kay Voges’ „Die Parallelwelt“ verfolgten die Zuschauer zwei Lebensgeschichten simultan – eine über echte Spielszenen, die andere über eine Videoleinwand.
Was wäre, wenn Freds Leben anders verlaufen wäre? Bei der Uraufführung von Kay Voges’ „Die Parallelwelt“ verfolgten die Zuschauer zwei Lebensgeschichten simultan – eine über echte Spielszenen, die andere über eine Videoleinwand. | Foto (Detail): „Die Parallelwelt“, Kay Voges © Birgit Hupfeld / Schauspiel Dortmund

Während in einigen Ländern Theaterregisseur*innen längst Virtual Reality, 3D-Animationen oder Robotik einsetzen, haben deutsche Bühnen Nachholbedarf. Die neue Akademie für Digitalität und Theater in Dortmund schickt sich nun an, die deutsche Theaterlandschaft zu revolutionieren. 

Was wäre, wenn Freds Leben anders verlaufen wäre? Im September 2019 stehen in Berlin und Dortmund zeitgleich zwei Schauspielerensembles auf der Bühne, um dieser Frage nachzugehen. Beide erzählen die Lebensgeschichte von Fred, jedoch in unterschiedlichen Versionen: Durch Zufälle nimmt sein Leben einen unterschiedlichen Verlauf. Verbunden sind die Ensembles über ein gut 420 Kilometer langes Glasfaserkabel, das die Bühnenhandlung live ins jeweils andere Theater überträgt. Die Zuschauer der Uraufführung von Die Parallelwelt verfolgen so beide Geschichten simultan – eine über echte Spielszenen, die andere über eine Videoleinwand.
 
Obwohl Theater ein analoges Medium ist, kann es in virtuellen Räumen verschränkt werden – wie Die Parallelwelt von Kay Voges beweist. Mit seinen digitalen Inszenierungen und Experimenten ist der Regisseur ein Vorreiter in Deutschland. Eine Rolle, der er sich bewusst ist: „Wenn es um digitale Innovation geht, hat die deutsche Theaterlandschaft einen erheblichen Nachholbedarf, auch im internationalen Vergleich. Digitales Denken in die Arbeitsprozesse am Theater einzubeziehen, ist in vielen Ländern viel selbstverständlicher als bei uns.“ 

Seitdem Voges das Schauspiel Dortmund leitet, setzt sich dort ein interdisziplinäres Team mit den Möglichkeiten der digitalen Revolution auseinander. Nur so kann Theater für Voges relevant bleiben: „Der gesellschaftliche Wandel, der sich im Zuge der Digitalisierung auf alle Bereiche der Gesellschaft auswirkt, ist vielleicht am ehesten mit dem Wandel zu vergleichen, den der Buchdruck ausgelöst hat. Wie können wir die Probleme und Konflikte der zeitgenössischen Gesellschaft im Theater reflektieren, ohne auf der Höhe ihrer Entwicklung zu sein? Die Erzählweisen des vordigitalen Zeitalters reichen nicht mehr aus, um die Komplexität des Lebens abzubilden.“

Weiterbildung zu Digitalität am Theater 

Doch Voges weiß aus langjähriger Erfahrung auch, vor welchen Problemen Theater stehen, wenn es um Digitalisierung geht: Im sechs- bis achtwöchigen Probenzyklus des regulären Spielbetriebs bleibt kaum genug Geld und Zeit für echte Experimente. Es fehlen zudem ausgebildete Fachkräfte in allen Bereichen -ob für Virtual Reality, Motion Capture, Robotik oder Künstliche Intelligenz. Bislang existierten für die gut 40.000 Mitarbeiter an deutschen Bühnen auch keine entsprechenden Weiterbildungsangebote. „Ein Lichttechniker, der vor 25 Jahren als Elektriker eingestellt wurde, sitzt heute am Pult und soll Moving Lights programmieren. Und der Tonmeister, der früher Audiokassetten während der Inszenierung eingespielt hat, sitzt heute auch am Rechner.“ 
 
Um die Kluft zwischen dem aktuellen Standard im Theater und den digitalen Möglichkeiten zu schließen, haben Voges und sein Team nach einer fast dreijährigen Anlaufphase die Akademie für Digitalität und Theater in Dortmund gegründet. Sie soll ab März 2019 gemeinsam mit der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG) und dem Deutschen Bühnenverein Weiterbildungsprogramme für Theatertechniker und Künstler anbieten. Neben dem allgemeinen Kursangebot soll im September 2019 auch ein erster Jahrgang von Stipendiaten seine künstlerisch-experimentellen Forschungen aufnehmen. Das dritte Standbein der Akademie soll ein Studiengang für Medienkunst und Film im Theater werden – doch das sei noch „Zukunftsmusik“, so Voges. 
 
Bis zur Fertigstellung des Neubaus im Dortmunder Speicherhafen 2020 wird die Akademie eine Interimsspielstätte des Schauspiels nutzen. Dass sich ausgerechnet Dortmund zum Hotspot für Theater und Digitalität etabliert, hat auch mit der Geschichte der Stadt zu tun: Die Metropolenregion Ruhrgebiet blickt auf eine 700-jährige Bergbau-Tradition zurück, die 2018 mit dem endgültigen Förderstopp von Steinkohle eine Zäsur erlebt hat. Dortmund hat die Umbrüche früh antizipiert und sich auf Platz fünf der wichtigsten Digitalstandorte Deutschlands vorgearbeitet.

Keine Bedrohung, eine Chance

Was alles möglich ist, wenn Digitaltechnik und Theater aufeinandertreffen, ließ schon das Programm der Konferenz Enjoy Complexity erahnen, mit der Voges und das Schauspiel Dortmund im Frühjahr 2018 die Gründung der Akademie einleiteten. Hier konnten die Besucher unter anderem eine von Voges’ Inszenierungen in Virtual Reality (VR) erkunden. Mediendesigner hatten bei einer Inszenierung von Die Borderline Prozession einen Laserscan des Bühnenbilds angefertigt, 360°-Filmaufnahmen gemacht und daraus ein VR-Theaterstück erstellt: Eine VR-Brille katapultiert den Zuschauer direkt ins Geschehen, wo er sich auf der Bühne und im Zuschauerraum frei bewegen kann, während das Theaterstück seinen Lauf nimmt.
 
Die Akademie für Digitalität und Theater soll sich laut Voges jedoch nicht nur den technischen Möglichkeiten widmen, sondern auch der politischen Komponente – etwa indem sie sich inhaltlich mit Themen wie Bildmanipulation, Datenschutz oder sozialen Medien beschäftigt: „Wenn ich die politische Situation in Deutschland und Europa betrachte, dann lässt sich eine Tendenz zur Reduktion erkennen,“ erläutert er. „Dinge werden vereinfacht, Sachverhalte weniger komplex dargestellt. Ich halte diesen Populismus für eine gefährliche Angstreaktion auf die Globalisierung und Digitalisierung der Gesellschaft. Theater ist ein Ort, wo diese Komplexität nicht als Bedrohung, sondern als Chance verstanden werden kann. Komplexität ist Schönheit.“