Stadtkonturen Bremen
Bremen ist nicht Hamburg – na und?!
Eine traditionsreiche Hansestadt mit umstrittenem Bier, mehr nicht? Neben vier musikalischen Tieren und der Weser hat die Hafenstadt einige Überraschungen in petto. Unser Autor Hinnerk Köhn findet, dass sich Hamburg, Köln und Berlin davon durchaus eine Scheibe abschneiden können.
Von Hinnerk Köhn
Mit Pauken, Trompeten und einem Kikeriki
Die Statue der Bremer Stadtmusikanten vor dem Rathaus ist zum Wahrzeichen der Stadt geworden. | Foto (Detail): © Adobe/ globetrotter1 „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ – die weisen Worte des Esels aus dem Märchen Die Bremer Stadtmusikanten sind in Deutschland allgemein bekannt. Und Bremen ist sogar deutlich besser als der Tod. Um des Ruhmes, den das Märchen der Stadt brachte, zu gedenken, errichtete Gerhard Marcks die berühmte Stadtmusikanten-Statue beim Rathaus (Tipp: hingehen, knipsen, weitermachen). Weniger bekannt als die vier Musikanten vor dem Rathaus ist der Hintergrund zum Märchen: Denn Bremen war nicht aus logistischer Nähe der Zielort der Tiere, die vor ihren Halter*innen und der bevorstehenden Schlachtung geflohen waren. Im 19. Jahrhundert, als die Gebrüder Grimm das Märchen veröffentlichten, galt Bremen als Tor zur Welt, als Hafen nach Übersee. Ein Ort der Möglichkeiten, wie Esel, Katze, Hund und Hahn ihn sich vorstellten. Mittlerweile sind die vier so beliebt, dass sie das offizielle Werbegesicht der Stadt geworden sind. In diesem Sinne: Bremen – Kikeriki!
Sind wir nun im Viertel oder im Viertel?
Im Ausgehviertel – Viertel – zwischen Ostertor und Steintor reiht sich in kleinen Gassen Lokal an Lokal. | Foto (Detail): © picture-alliance / oben und unten links: Bildagentur-online, Schoening / oben rechts: DUMONT Bildarchiv / unten rechts: Robert B. Fishman, dpa Die wohl größte Kneipendichte in Bremen findet man im Viertel. So wird es umgangssprachlich genannt, dabei besteht es aus verschiedenen Vierteln. Verwirrend? Ist es auch. Teile vom Ostertor und vom Steintor ergeben das Viertel, einen Ort von kultureller Vielfalt, Gesang und Tanz. Hier reiht sich Kneipe an Kneipe, Lokal an Lokal, und doch ist es durchaus lieblicher und eleganter als der Hamburger Kiez oder Kreuzberg in Berlin. Statt bulligen Straßenschluchten und verhipsterten Cafés findet man hier eine wunderbare Mischung aus urbanem Leben, kleinen Gassen und einer Spur Mainstream. Das heißt, es ist cool und hip, aber man bekommt auch Kuhmilch im Café, ohne schräg angeguckt zu werden. Aber nicht täuschen lassen: Hier abends nüchtern rauszukommen, ist nicht nur eine Kunst, sondern nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Der Hotdog-Laden versorgt auch in tiefster Nacht die hungrigen Nachtschattengewächse mit Veganem und Karnivorem. Die Diversität des Viertels zeigt sich am Kontrast zwischen Tag und Nacht – während abends und nachts das wilde Treiben kein Auge ruhen lässt, scharwenzeln tagsüber Kunstinteressierte von Galerie zu Galerie und wagen einen Abstecher in die Bremer Kunsthalle.
Breminale – zwischen Multikulti und Musik
Das Open-Air-Festival Breminale zieht jährlich Tausende Besucher an. | Foto (Detail): © Timo Hillebrand / breminale-festival.de Was zuerst klingt wie ein billiger Abklatsch vom großen Bruder in Berlin, wo mit der Berlinale jährlich eines der wichtigsten Filmfestivals weltweit stattfindet, ist ein ganz eigenes Event: Mitten im (zumeist) schönen, norddeutschen Sommer treffen sich bei der Breminale Kulturbegeisterte und Schaulustige zu Livemusik, Filmvorführungen, Lesungen und einigem mehr. Seit 1987 feiern die Bremer*innen jedes Jahr fünf Tage zwischen Pop und Avantgarde und preisen die lokale Kulturszene, welche sich mit selbstkreierten Shows und Programmen bedankt. Wo der Underground vertreten ist, ist bekanntlich der Mainstream nicht weit entfernt: Auch Größen der deutschen Musikszene geben sich hier ein Stelldichein, von Andreas Bourani bis hin zu Jupiter Jones. Das muss man nicht zwangsweise mögen, aber es unterstreicht die Lebendigkeit der Stadt, denn hier kommen alle auf ihre Kosten. Die Breminale ist offen für jede*n – der freie Eintritt hat hier Tradition.
Schuhu Schuhu
In der „Lila Eule“ spürt man heute noch die Atmosphäre eines einst legendären Jazzlokals. | Foto (Detail): © Lila Eule / Oliver Schweers Ein Geheimtipp ist der Schuppen schon lange nicht mehr, aber die Seele und den Geist der alten Zeiten hat die Lila Eule im Bremer Viertel nicht verloren. Ursprünglich war die Eule ein Jazzlokal mit einem legendären Status in der internationalen Szene. Ob Jan Gabarek oder Oscar Peterson, die Stars gaben sich hier die Klinke in die Hand. Mittlerweile ist das Programm deutlich gemischter. Zwischen die Live-Konzerte drängen sich immer mehr Partys und, sagen wir mal, gediegene Tanzabende. Aber den Charme von damals spürt man immer noch – vor allem bei den Konzerten, wenn bei Einbruch der Nacht ein bis sechs Personen alles geben, um die Gunst des Publikums zu erobern.
Was ist grün und stinkt nach Fisch?
Fans von Werder Bremen in der Ostkurve des Weserstadions. | Foto (Detail): © picture alliance/nordphoto Genau, Fisch. Ebenso umstritten wie das aus Bremen stammende Beck’s-Bier ist der Bremer Fußball. Und das vollkommen zu Unrecht, denn – mit Bremer-Fan-Brille gesehen – spielt Werder Bremen nicht nur unfassbar hochwertigen Fußball mit einem extrem hohen Fairness-Level, der Verein ist auch noch ein absoluter Vorzeige-Star, wenn es um Courage und soziales Engagement geht. Neben Fußballprogrammen für junge Geflüchtete und einem Projekt für Familien, das Urlaubsreisen ermöglicht, ist Werder Bremen auch Vorreiter im Bereich Sportangebote für Blinde und Personen mit eingeschränktem Sehvermögen. Egal, ob Fußballfan oder nicht – diesen Verein darf man durchaus auch als HSV-Fan sympathisch finden. (Anmerkung für Fußballlaien: Der HSV ist der lokale Rivale aus Hamburg.)
Hinfort mit Ed von Schleck & Langnese …
Bauernhof-Idylle mit Bioeis: der Biohof der Familie Kaemena. | Foto (Detail): © Biohof Kaemena … denn der Sommer-Sonne-Schock kommt aus Bremen! Das Snuten Lekker-Bio-Eis wird auf einem traditionellen, ökologischen Bauernhof hergestellt. Wenn es das Wetter hergibt, ist man mit dem Rad innerhalb kürzester Zeit auf dem Hof von Familie Kaemena, der bereits in der neunten Generation als Familienbetrieb bewirtschaftet wird. Neben den Klassikern gibt es im dazugehörigen Café auch immer mal wieder ausgefallenere Sorten, wie Quark-Sesam, oder saisonal abhängige Variationen, zum Beispiel Kürbiskerneis im Oktober. Darüber hinaus schreibt sich Familie Kaemena auch Abenteuerurlaub groß auf die Kappe und vermietet Ferienwohnungen in der ehemaligen Scheune und im alten Kälberstall. Wenn Besucher*innen auf Tuchfühlung mit Kuh und Schaf gehen wollen, können sie einen Großteil des Biobauernhofes frei begehen – Naschkatzen natürlich mit einem Eis in der Hand.
Stein mit Geschichte
Der mittelalterliche Roland auf dem Bremer Marktplatz symbolisierte die Rechte und Freiheiten der Stadt Bremen. | Foto (Detail): © Adobe/ INTERPIXELS Es ist ein absoluter Klassiker, zehn Meter ragt das bekannte Wahrzeichen in die Luft: der Bremer Roland. Als Sehenswürdigkeit an sich ein wenig mau, allesamt aber imposant anzusehen, ist es am Ende ein Stein – aber einer mit Historie! Hinter der Statue steckt so einiges, was bei bloßem Anblick nicht zu erkennen ist. Der Roland steht für die Rechte und Freiheiten, die der Stadt im Mittelalter gewährt wurden. Bremen schloss sich damals auch der Hanse an, einem Zusammenschluss aus Städten und Kaufmannsverbünden aus ganz Europa, der den (See-)Handel zwischen seinen Mitgliedern erleichterte. Seine Eigenständigkeit hat Bremen seitdem erfolgreich verteidigt: Die Freie Hansestadt Bremen ist heute ein Bundesland mit eigener Landesregierung. Insofern steht der Roland für den Stolz und vielleicht auch ein bisschen den Lokalpatriotismus, der den Bremer*innen nachgesagt wird. Vielleicht sei hierzu auch erwähnt: Bremen hat selbstverständlich auch ein Stadtmuseum. Aber wie es bei Stadtmuseen nun mal ist: Da muss man Lust drauf haben.
Ein Leben ohne Mops ist möglich ...
„Ein Leben ohne Mops ist möglich. Aber sinnlos“: Die Sprüche des deutschen Humoristen Vicco von Bülow – besser bekannt als „Loriot“ – sind zum Teil zu geflügelten Worten geworden. | Foto (Detail): © picture alliance/BREUEL-BILD „Erna, das Ei ist hart!“ Seit Jahren frohlocken Jung und Alt bei den Sketchen von Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot. Was die wenigsten wissen: Ein Gros seiner Possen wurde in Bremen aufgenommen, im Studio von Radio Bremen. Auf der markanten grünen Couch moderierte er seine Sendung mit dem scharfen Auge eines komödiantischen Betrachters einer biederen, deutschen Gesellschaft. Ob Betten- oder Anzugkauf, Nudel oder Kosakenzipfel, Wum und Wendelin – Loriot und sein Humor begeistern noch immer, seine Comics und Zeichentrickeinschübe gehören in vielen Familien zur Silvestertradition. In Gedenken an die Arbeit des vielleicht größten deutschen Humoristen errichtete Radio Bremen eine Bronzereplik des bekannten Biedermeier-Sofas. Und auf diesem sitzt mitnichten von Bülow selbst, sondern: ein Mops. Denn – so Loriot über seine Lieblingshunderasse – „ein Leben ohne Mops ist möglich. Aber sinnlos.“
Die Stadt als Bühne
Das Quartier bietet Projekte für kulturelle Bildung in Bremer Stadtteilen an – darunter auch das Tanz- und Videoprojekt für Kinder „Lichtbox“. | Foto (Detail): „Lichtbox“-Projekt © Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=UPhhfviYXRM Ein Umschlagplatz für kulturelle Arbeit, große Gedanken und impulsiven Ausdruck: Das Quartier in Bremen verbindet Kreativität und Integration, und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht bringt es Menschen zusammen, um Neues zu erschaffen – sei es ein Theaterstück, eine Performance, bildende Kunst oder Musik. Wichtig sind den Betreiber*innen die Integration und Inklusion. Hier arbeiten Großeltern und Enkel*innen an Werkbänken; es gibt Schreibkurse für Geflüchtete, und Künstler*innen und Kulturschaffende bieten Theaterprojekte für Beeinträchtigte an. Jede*r ist willkommen und soll auch dabei sein: Kreativität als Gemeinschaftsprojekt.
Einen hab’ ich noch!
„Lesen für Bier“: In der Kneipe Gastfeld kommen Leute aus dem ganzen Bremer Umland zusammen, um anderen beim Vorlesen zuzuschauen.
| Foto (Detail): Matthias Süßen / Wikipedia CC BY-SA 3.0
In einer Eckkneipe in der Bremer Neustadt kommen Leute aus dem ganzen Umland zusammen, um anderen betrunken beim Vorlesen zuzuschauen. Klingt erstmal sonderbar, ist aber unfassbar witzig. Das Format Lesen für Bier wurde vom Erlanger Lucas Fassnacht erfunden und hält Einzug in vielen deutschen Städten – und so auch in Bremen, in der Kneipe Gastfeld. Das Publikum reicht bei Moderator Simeon Buss und seinen immer wechselnden Gästen Texte ein und die Menge entscheidet: War der Text besser oder die Performance des oder der Vorlesenden? So oder so: Es gibt Bier. Und das in Massen. Wer jetzt aber an Lesungen denkt, in welchen Literat*innen aus Faust vorlesen und dabei einen zu viel intus haben, irrt. Alles ist erlaubt: Chipstüten, Kassenbons, Kinderbücher, Freundebucheinträge von 1976, Liebesbriefe, Bedienungsanleitungen für den neuen Fernseher. Im schlimmsten Fall gibt es 14 Texte am Abend. Was dabei herum kommt, ist ein einzigartiges Unterhaltungsformat: ein vor Lachen weinendes Publikum und ein leicht angeschickerter Vorleser, der gerade Charlotte aus der 7B seine Liebe gesteht.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.
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