Workshop Wie verliert man ein unerwünschtes Ding?

Kafkas Gaukelei © Goethe-Institut

Di, 30.01.2024

18:00 Uhr

Goethe-Institut Krakau

Eine Workshopsreihe von Grzegorz Jankowicz

Es lohnt sich, sich mit jenen Texten von Franz Kafka zu beschäftigen, die noch nicht interpretiert worden sind. Das liegt nicht daran, dass vielfach kommentierte Werke nicht noch einmal gelesen werden können, sondern daran, dass sich auch in den selten analysierten Texten wahre Schätze verbergen. Ein solches etwas in Vergessenheit geratenes Meisterwerk ist die Kurzgeschichte „Unglücklichsein". Sie erschien bereits Ende 1912 in Kafkas erstem Buch „Betrachtung“ und wurde zwischen 1909 und 1911 geschrieben (der Schriftsteller hat den Stoff der Erzählung dreimal aufgegriffen).
Die Handlung ist scheinbar einfach. Der Protagonist, der allein lebt und nur selten sein Zimmer verlässt, wird vom Gespenst eines Kindes heimgesucht. Der Zweck des Besuchs ist unbekannt. Einige Interpreten glauben, dass es sich um das Alter Ego der Hauptfigur handelt, d. h. um eine frühere Version von ihm, die aus der Geisterwelt entschlüpft ist (aber warum ist sie ausgerechnet an diesem Ort erschienen?) und in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist, um eine Angelegenheit zu regeln. Vielleicht - was ich jetzt schreibe, ist reine Fantasie - hat das frühere Ich beschlossen, den Protagonisten für das, was er aus seinem Leben gemacht hat, zur Rechenschaft zu ziehen. Wie jenes seltsame Wesen in der Kurzgeschichte „Die Sorge des Hausvaters" namens Odradek, das von einem unbestimmten Ort aus als – wie ich es interpretiere - Nebenkläger in einem Prozess gegen die Lebenden auftaucht, steht das kindliche Gespenst vor seinem nachgeborenen Ich (das offensichtlich älter ist als es), um ein Urteil zu fällen. Auch wenn die Beweggründe des Gespenstes andere sind, ist eine Spannung zwischen ihm und dem Protagonisten spürbar. Es beginnt mit einem Wortgefecht um eine Tür. Kafka liebte dieses Motiv: seine Figuren werden immer wieder mit einer Tür konfrontiert, durch die sie aus ihrem bisherigen Leben herauskommen wollen. In der Erzählung „Unglücklichsein“ betritt das Gespenst das Zimmer, dessen Dämmerung es - merkwürdigerweise - so stark blendet, dass es sein Gesicht fast mit den Händen bedecken muss. Nach einem kurzen Höflichkeitsgespräch kommt es zu dem bereits erwähnten Streit. Der Protagonist bittet das Gespenst, vom Eingang wegzugehen, weil er die Tür schließen will (die Mitbewohner des Mietshauses fangen, sobald sie in einem Zimmer reden hören, sofort an zu schnüffeln, und sie sind so frech, dass sie bei offener Tür in fremde Wohnungen eindringen). Das Gespenst erwidert, dass es dies bereits getan habe, was der Protagonist nicht glaubt. Der eigenartige Gast sagt es nochmal und fügt hinzu, dass er die Tür verschlossen habe. Wenn wir diese Geste mit Isolation gleichsetzen, dann geht es in diesem scheinbar bedeutungslosen Streit um die Möglichkeit, zu den Menschen hinauszugehen, sich vom „Ich“ zur Welt zu bewegen. Ich habe bereits erwähnt, dass der Mann in Isolation lebt. Das Gespenst, das die Tür mit einem Schlüssel verschließt, wäre für eine doppelte Isolation verantwortlich. Einige Augenblicke später stellt sich heraus, dass der Protagonist doch nach draußen gehen kann, aber er entscheidet sich nicht dazu. Er wagt sich nur ins Treppenhaus, wo er sich eine Weile mit seinem Nachbarn unterhält, bevor er in sein Zimmer zurückkehrt. Warum ist er nicht willens oder in der Lage, die Grenze seiner eigenen Welt zu überschreiten, warum ist er nicht in der Lage, die Mauer zu durchbrechen, die ihn von den anderen trennt? Ist das Gespenst daran schuld? Oder vielleicht eine andere - innere - Kraft? Was auch immer es verursacht, es ist erstaunlich wirksam.
Kafka war sich der Dynamik solcher Gedankenspiele wohl bewusst (denn ich bin letztlich geneigt zu sagen, dass das Kind eine Projektion des Geistes der Hauptfigur ist). Er wurde immer wieder von verschiedenen „Gespenstern" heimgesucht, die er beschwor und versuchte zu bestechen oder irrezuführen. In diesen Seminaren werden wir Kafkas Gaukelei analysieren, mit der Kafka versuchte, sich vom lähmenden Einfluss eigener Dämonen zu befreien. Ich bin sicher, dass dies für jeden nützlich sein kann, der zumindest einmal ein schwer zu überwindendes Hindernis in sich gespürt hat.
Einer von Kafkas berühmtesten Aphorismen lautet: „Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt". Nach einer möglichen Interpretation geht es darum, das Gespenst, das uns gefangen hält, zu überlisten, den Schlüssel zu finden, die Tür zu öffnen und hinauszugehen. Und genau damit werden wir uns in diesem Workshop befassen.

Wir beginnen mit den "Aphorismen von Zürau" (in der polnischen Übersetzung von Roman Karst oder Artur Szlosarek).
 

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