"After the turn" bereichert die Kunstszene in Gaza
Das Projekt richtet sich an Künstler*innen aus dem globalen Süden. Das sechsmonatige digitale Programm lädt zum Lernen, Lehren und Diskutieren ein und soll unterschiedliche Perspektiven und Positionen sichtbar machen, eröffnen und vorantreiben.
Konzept
Die Einschränkung des öffentlichen Lebens wegen Covid-19 ist eine Realität, die Milliarden Menschen in fast allen Ländern der Welt teilen. Diese Realität ist für die Menschen in Gaza seit 2007 Alltag. Ein Alltag, der das Recht von zwei Millionen Palästinenser*innen auf Bewegungsfreiheit einschränkt. In der Folge der Coronavirus-Pandemie wird nun weltweit erlebt, wie es ist, unter einer Blockade zu leben, wenn auch unter anderen (Vor-)Bedingungen.
Die Pandemie ist ein Einschnitt in unser Leben und ein Wendepunkt, von dem es kein Zurück gibt. Jedoch was wäre, wenn wir die Erfahrungen der physischen und geografischen Trennung in ein Wissen umwandeln, das uns ein neues Verständnis füreinander eröffnet? Ein Verständnis dafür, welche Rollen wir im Machtgefüge der Welt spielen und wie wir die von uns weit entfernten Realitäten verstehen und nachvollziehen können. Ein Perspektivenwechsel der zu einem Paradigmenwechsel führen kann.
„after the turn“ steht für ein Konzept digitaler Bildung im Bereich der Künste, dass sich für ein partizipatives Lernen und die Demokratisierung der Weitergabe und Wissensproduktion einsetzt, abseits von Wissenshierarchien und Machtdynamiken. So ist in einer langen Entwicklungsphase ist ein Projekt entstanden, dass trotz seiner Initialzündung von vor über zwei Jahren aktueller denn je zu sein scheint.
Die Erfahrung des Lockdowns und der Isolation aufgrund der Pandemie hat die Auswirkungen auf diverse Berufsgruppen im Kulturbereich deutlich gemacht. In Gaza stehen Künstler*innen schon lange vor massiven Herausforderungen. Die Einschränkungen reichen vom mangelnden Zugriff auf künstlerische Materialien und Ressourcen bis hin zur Unmöglichkeit, Kunstwerke über die Grenzen und in Ausstellungsräume, Galerien und Museen zu schaffen. Folglich finden in Gaza produzierte künstlerische Arbeiten kaum Aufmerksamkeit und Berücksichtigung im internationalen Kunstmarkt. Die in Gaza produzierte Kunst ist in der globalen Darstellung und Kunstbesprechung abwesend. Dieses Projekt möchte einen Beitrag leisten, künstlerische Perspektiven jenseits des Kanons zu benennen, zu integrieren und in Dialog zu bringen.
Ein weiteres Thema ist der eingeschränkte Zugang zum künstlerischen global anerkannten Kanondiskurs und die Teilnahme an Debatten und Diskussionen. Parallel dazu ist jedoch ein wachsendes Interesse an Gazas künstlerischer Produktion, Kunstwerken und -projekten als auch seiner künstlerischen Praxis festzustellen, die den künstlerischen Ausdruck der lokalen Szene und ihre kraftvolle Kreativität wahrnehmen. Jedoch scheinen Machtdynamiken und -verhältnisse der sogenannten modernen Welt, asymmetrische Kommunikationsbeziehungen und eine Trennung zwischen denjenigen im Belagerungszustand und dem Rest der Welt einem gleichwertigen Austausch im Weg zu stehen.
Inspiriert von der Idee der digitalen Lehre und Paul Freires kritischen Pädagogik möchte „after the turn“ mit seiner Plattform und seinem Programm dazu beitragen, bestehende Machtdynamiken zu irritieren und einen Raum anzubieten, der Reflexion, Wissensaustausch und -vermittlung fördert. Der als kostenfrei kreierte digitale Kunstraum fungiert als Ort für kritisches Denken und reflektierende Wissensproduktion, indem er Alltagserfahrungen zu wissenschaftlichen und kreativen Inhalten in Beziehung setzt. Mehr denn je ist es wichtig, verschiedene Realitäten und unterschiedliche „Arten, die Welt zu kennen und zu erleben“ anzuhören. Es ist ein Aufruf, zahlreiche Perspektiven anzuerkennen, „insbesondere derjenigen, deren Existenz selbst infrage gestellt und als unerlässlich und unbedeutend produziert wird“, wie es W.E.B. du Bois formulierte (Maldonado-Torres 2008).
Digitale Lehre bietet hier die Chance, aus den festgefahrenen Strukturen der Wissensvermittlung auszubrechen und auf neuen Wegen zu experimentieren. Angesichts der eingeschränkten künstlerischen Ausbildung in Gaza, kann ein freier digitaler Kunstraum als ‚Gegenraum‘ agieren, der die formale akademische Ausbildung herausfordert. In einem solchen Raum werden die Rollenverteilungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen verändert, - und wer von wem lernt. Abseits der Wissensvermittlung, um den Lernprozess mit der Fähigkeit zu kritischem Feedback zu begleiten und anzuleiten, wird die Vorstellung davon, wer ein*e „Wissend*er“ sein kann und was man eigentlich überhaupt wissen sollte, auf den Kopf gestellt. In Verbindung mit der Methodik der Dekolonialität bieten Aspekte der Digitalität einen Ansatz, das asymmetrische Verhältnis zwischen Drinnen und Draußen, Zentrum und Peripherie, mit anderen Worten: Relevanz und Irrelevanz, zu verschieben.
Was für das künstlerische Ausbildungsprogramm entwickelt wurde, um das Konzept von Blockade und Lockdown – wenn auch nur vorübergehend – zu überwinden und die kunstpädagogische Praxis von den Tatsachen vor Ort zu lösen, ist angesichts der heutigen durch das Coronavirus bedingten Situation auch zu einem globalen Anliegen geworden, um mit der Schließung von Schulen und Universitäten umzugehen. So wie uns Gaza im Umgang mit Krisen – unfreiwillig – voraus ist, nutzt der dortige Kulturbereich bereits seit Jahren die Digitalisierung als Konzept der Vermittlung, und beschreibt diese als einzigen Weg, in Krisen bedeutungsvolle Verbindungen (nachhaltig) herzustellen. Ein weiterer Punkt im Konzept zu „after the turn“ ist die Einsicht der Verfügbarkeiten von Wissen in der arabischen Sprache.
Über Bedeutung des Übersetzens
Das Übersetzen von Text und Erzähltem ist für seine Komplexität bekannt, während visuelle Sprache über den Rahmen der Sprache hinausreichen kann. In ähnlicher Weise können Theorien, Ideen und Denkweisen für verschiedene Disziplinen übersetzt werden durch die Übersetzung von Begriffen und implizites Wissen oder Praktiken die wiederum den Kern der Wissensverteilung berühren - und was beispielsweise in der formalen Bildung gelehrt und weitergegeben wird.
Kontextualisierung ist bei diesem Unterfangen ein häufiger Begriff, der sowohl in theoretischen als auch in praktischen Ansätzen Verwendung findet. Aber was bedeutet das? Was bedeutet es, Theorien auf ein spezifisches Verständnis von Lokalisierung, Kontextualisierung und der Übersetzung von gesellschaftlichen und politischen Grundlagen hin zu übersetzen? Verändern sich Theorien in neuen Zusammenhängen?
„ ... Übersetzung ein fortlaufender Prozess der Re-Artikulierung und Re-Kontextualisierung ohne jedes Konzept eines primären Ursprungs ist“ (Hall, 1996). Jedoch sind Theorien in geopolitische Machtverhältnisse eingebettet, die den aktuellen wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurs dominieren. Diese Tendenz formuliert nach wie vor homogenisierte Ansätze, – und erzeugt eine asymmetrische Wissensverteilung innerhalb des Kanons. Neben den genannten Schwerpunkten wendet sich dieses Programm somit auch der Frage und Wesentlichkeit der Übersetzung von Wissen zu, um zu erkunden, was jenseits des Kanons liegt: Die Teilnehmenden diskutieren und präsentieren Konzepte aus der Übersetzungstheorie und -praxis, indem sie ausgewählte Werke (Theorien, Filme, Kunstwerke) ‚gegen den Strich‘ lesen und dadurch eine reflektierende Praxis auf ihre eigenen Werke und Gedankengänge anwenden können.
Das Curriculum von „after the turn“ knüpft an diesen Überlegungen an und zielt darauf ab, unterschiedliche Perspektiven und Positionen sichtbar zu machen, zu eröffnen und voranzutreiben, um den Kunstkanon und die formale westliche akademische Bildung als einzig gültigen Rahmen und einzig zulässige Existenz der Analyse und des kritischen Denkens unter die Lupe nehmen.
Wichtige Dokumente auf Englisch