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Titelbild Crina Öko-Krimi© Goethe-Institut

Die Teile

1
Crina läuft. Tap-tap machen ihre Schritte auf dem Boden. Früher waren hier einmal Bäume. Sie ist lange nicht mehr hier gewesen. Keiner aus ihrer Familie besucht diesen Ort, obwohl dies einmal ihr Wald war. Es ist immer noch ihr Wald – nur ohne Bäume. Crina bleibt stehen. Sieht nach rechts. Nach links. Kein Baum, nirgendwo. Ihre Mutter hat ihr die Geschichte erzählt. Von fremden Männern in ihrem Wald. Von Lastwagen, die ihr Holz wegtransportierten. Von ihrem Vater, der protestieren wollte, in seinen Wald gefahren ist und als anderer Mensch nach Hause zurückkam: geschlagen, zerstört. Drei Tage später war er tot. Herzinfarkt, hat der Arzt gesagt. Und alle wussten plötzlich, dass Protest gefährlich ist. Dass die anderen stärker sind. Und dass die Polizei all das ignoriert: ein gestohlener Wald, ein toter Mann und niemand ist schuld.
Aber heute will sie nicht an diese Dinge denken. Sie ist nur gekommen, um sich zu verabschieden. Morgen schon wird sie weit weg sein.
Und da sieht sie ihn oben auf dem Berg: einen Mann mit Anorak und Mütze. Er kommt auf sie zu. Was will der hier? Wer ist das? Einer von den „anderen“, von den Holz-Dieben?
Und jetzt?
Bleiben? Oder wegrennen?


2
Rennen!, denkt Crina. Allein hat sie keine Chance gegen den Mann. Sie ist schnell, sie war die Schnellste in der Schule. Aber ist sie auch schneller als dieser Mann? Sie sieht zurück. Der Mann rennt nun auch. Er winkt.
„Crina! Warte!“, ruft er.
Sie kennt die Stimme! Es ist Stancu, ein Freund ihres Vaters, ein Waldhüter. Crina bleibt stehen. Froh, Stancu zu sehen. Doch Stancu sieht gar nicht froh aus.
„Was machst du hier? Ganz allein!“, schimpft er. „Das ist doch gefährlich!“
„Ich will nur...“, sagt Crina.
„Ich will! Ich will! Du bist wie dein Vater! Hör auf, über all das nachzudenken! Euer Wald ist weg! Für immer!“
„Aber ich will ...“, sagt Crina.
„Hör zu!“, sagt Stancu. „Du bist jung. Geh in die Welt! Geh ins Ausland! Lerne etwas!“
„Aber das will ich doch!“, ruft Crina. „Ich bin nur hier, um Adieu zu sagen! Und ich gehe ins Ausland. Aber wegen dem Wald, genau das studiere ich doch!“ Sie stoppt. Was ist das für ein Geräusch? Was ist das in der Luft?
Nun sieht sich auch Stancu um. Dann zeigt er nach oben, etwas fliegt direkt auf sie zu. „Da! Siehst du das? Lauf, schnell!“


3
„Was ist das?“, ruft Crina. Sie läuft hinter Stancu den kleinen Berg hinunter.
„Eine Drohne!“ Stancu läuft schneller. „Schnell, wir müssen zu den Bäumen!“ Stancu läuft zu dem schmalen Streifen Wald hinüber. Sie laufen, doch die Drohne ist schneller, wird lauter, kommt näher. Crina sieht nach oben, fällt. „Ah!“, ruft sie.
Die Drohne ist dicht über ihr. Crina rollt zur Seite, kommt auf die Knie. Sie erkennt die Kamera an der Drohne, die vier Propeller, nimmt einen Stein und schleudert ihn gegen die Drohne. Krach! Die Kamera ist kaputt. Crina nimmt den nächsten Stein, wirft. Wieder trifft sie. Die Drohne kippt zu einer Seite, doch sie fliegt noch immer. Crina will den nächsten Stein werfen, Steine gibt es hier genug.
„Hör auf!“, ruft Stancu und zieht sie hoch. „Du machst es nur noch schlimmer! Die Drohne verfolgt mich schon seit Tagen und nun haben sie dich auch entdeckt.“
„Dann wissen sie wenigstens, wer ihr Spielzeug kaputt gemacht hat“, ruft Crina.
„Das ist kein Spiel, Crina!“, schreit Stancu. „Diese Leute sind gefährlich. Wann wirst du das endlich verstehen?“


4
Sie sitzen unter den Bäumen. Crina sieht der Drohne zu. Wie betrunken fliegt sie von links nach rechts und zurück, vor und zurück. Fast muss Crina lachen, doch Stancu schüttelt den Kopf.
„Du bist wütend“, sagt er, „und traurig. Aber hör zu: Du kannst nichts machen. Das sind ja nicht nur kleine Holzdiebe aus Maramureş. Das ist großes Business. Es geht um viel Geld. Da KANNST du NICHTS MACHEN.“
„So, so“, sagt Crina. Sie sieht Stancu nicht an. Sie weiß, er hat Recht. Das ist es ja, was sie so wütend macht.
„Na, dann“, sagt Stancu. „erzähl mal! Wohin gehst du? Und wann?“
„Nach Deutschland“, sagt Crina. „Morgen geht es los. Ein Semester Evolution, Ecology and Systematics in Planegg-Martinsried.“
„Plan-was? Wo ist das?“, fragt Stancu. „Im Norden oder Süden?“
„In der Nähe von München, im Süden“, erklärt Crina. „Schön weit weg von hier. Und München ist die sicherste Stadt in Deutschland. Sogar eine der zehn sichersten Städte der Welt. Zufrieden jetzt?“
„Zufrieden?“ Stancu schüttelt den Kopf. „Süddeutschland ist ganz nahe an Österreich! Du weißt, wohin sie das gestohlene Holz bringen? Das meiste geht zu Firmen nach Österreich! Und da willst du hin? Direkt in Teufels Küche?“


5
„Ach, Stancu!“ Crina hebt einen Stein vom Boden auf. Die Drohne dreht noch immer wilde Kreise. Crina wartet einen Moment, dann wirft sie. Der Stein fliegt an der Drohne vorbei und fällt zu Boden. Im nächsten Moment fliegt ein viel größerer Stein an ihr vorbei. Krach!, macht es, die Drohne stürzt vom Himmel.
„Genug ist genug“, sagt Stancu. „Ich will doch nur, dass dir nichts passiert.“
„Ich weiß“, sagt Crina und lächelt. „Aber mir wird nichts passieren. Ich bin nicht allein in Deutschland. Ich habe sogar schon ein Zimmer da.“
„Hoffentlich mit einem Bodyguard“, sagt Stancu.
„Bodyguard?“ Crina lacht. „Nicht ganz. Ich ziehe zu einer alten Dame. Sie ist schon 84 Jahre, aber immer noch aktiv im Naturschutz. Vielleicht hast du von ihr gehört? Else Schneider heißt sie.“
„Schneider“, sagt Stancu. „Kenne ich nicht.“
„Sie war einmal eine berühmte Aktivistin bei Greenpeace. In den 1980er Jahren. Da hat sie Bäume gerettet, sie war eine Heldin. Mein Dozent an der Universität kennt sie. Deswegen habe ich das Zimmer bei ihr bekommen. Sie hilft gern jungen Menschen, die für die Natur kämpfen, sagt er. Ich werde so viel von ihr lernen! “
„Moment mal!“, sagt Stancu, „du willst zu einer Aktivistin ziehen?“


6
„Ich verstehe dich nicht“, sagt Stancu 30 Minuten später. „Du kannst nach Deutschland zum Studieren, kannst viele junge Leute kennen lernen – und willst bei einer alten Frau wohnen? Was machst du da? Fährst du sie im Rollstuhl spazieren? Putzt du ihr Haus?“ Er ist bei einem blauen Opel stehen geblieben. „Komm, ich fahre dich nach Hause.“
„Du hast keine Ahnung“, sagt Crina und steigt in Stancus Auto ein. „Frau Schneider ist total fit. Jeden Tag geht sie in ihren Wald – sie hat einen eigenen Wald, weißt du.“
„Das wird ja immer besser. Deine Frau Schneider wohnt in einem Dorf, einsam und allein. Crina! Um sicher zu sein, musst du in einer großen Stadt wohnen. Oder bei berühmten Leuten.“
“Tut mir leid, aber Angela Merkel hat mir kein Zimmer angeboten“, sagt Crina spitz. Wenn Stancu nur endlich aufhört, ihr Angst zu machen! „Oder kennst du berühmte Leute in Deutschland?“
„Nicht direkt“, gibt Stancu zu. „Einen hätte ich fast mal kennen gelernt. Letztes Jahr hat er Rumänien besucht. Er wollte unsere Wälder sehen.“
„Unsere Wälder? Ein Deutscher? Wer denn?“, fragt Crina.
„Ein Förster und Buchautor. Du musst von ihm gehört haben! Seine Bücher sind Bestseller, es gibt sie sogar als Film! Und immer geht es um Wald und Bäume.“


7
„Peter Wohlleben! Natürlich kenne ich ihn! Jeder Ökologiestudent kennt ihn!“ Crinas Augen leuchten. Dieser Mann hat den Wald und die Bäume wie kein anderer präsentiert. Als Lebewesen, die miteinander kommunizieren, nicht nur als Material. Ja, der ist wirklich berühmt. Und sie würde ihn gern kennen lernen. Aber das ist erstens unrealistisch und zweitens braucht sie keine berühmten Leute für ihre Sicherheit.
„Es ist lieb, dass du dir so viele Sorgen machst“, sagt sie zu Stancu. „Aber das musst du nicht! Niemand weiß, dass ich bei Frau Schneider wohne. Also kann mich niemand dort suchen.“ Crina sieht aus dem Autofenster. „Und eine Drohne ist momentan auch nicht am Himmel.“
Stancu antwortet nicht. Aber er fährt schneller. Hat er Angst? Aber vor wem?
Auch Crina sagt nichts mehr, doch langsam wird auch sie ein wenig unruhig. Wie sicher ist das Leben bei Else Schneider? Und wenn die Drohne vorhin nicht Stancu überwacht hat, sondern sie? Doch Angst? Nein, sie hat keine Angst. Sie freut sich auf Deutschland.

8
In Deutschland sind die Leute pünktlich und höflich und auch die Menschen über 80 sind noch richtig fit. Hat Crina das wirklich gedacht?
Die erste deutsche Frau, die sie sieht, heißt Anke. Groß, kurzes, blondes Haar, circa dreißig Jahre alt, sehr kurze deutsche Sätze:  Hallo. – Freut mich. – Ja, genau! – Da, dein Zimmer!
Unsicher bringt Crina den Koffer in ihr Zimmer. Es ist hübsch. Hell und sonnig, ein Bett, ein Sessel, ein schöner Holzschrank, ein Schreibtisch. Auf dem Bett liegt frische Bettwäsche, auf dem Schreibtisch steht ein großer Krug für Wasser. Alles wird gut, denkt sie und packt ihren Koffer aus. Die Kleider in den Schrank, die Dinge für die Uni auf den Schreibtisch. Ach, Gott – und all das rumänische Essen von ihrer Mutter. Zwölf Pakete mit Kuchen, Kompott, Marmelade, Wurst ... Das muss in den Kühlschrank! Wo ist die Küche? Sie tritt auf den Gang und hört Stimmen. Ankes Stimme und die von einem Mann. Streiten die beiden? Worum geht es? „Diätplan!“, hört sie. „Stützstrümpfe.“ Und jetzt ganz deutlich der Mann: „Anke! Wo zum Teufel sind die verdammten Tabletten?! Ich brauche sie! JETZT!“ – Wer ist das? Höflich klingt er nicht.


9
Die Stimmen werden lauter. Dann reißt jemand die Tür am Ende des Gangs auf und ein Mann stürmt heraus. Gerade noch kann er vor Crina stoppen. „Ops!“, sagt er. Dann lächelt er und eine kleine Sonne geht auf in seinem Gesicht. „Sie sind sicher Crina aus Rumänien? Ich darf mich vorstellen: Tim Schneider.“
Oh ja, der ist nett, denkt Crina.
„Und das ist meine Großmutter“, erklärt er, „wir freuen uns alle sehr.“ Er macht einen Schritt zur Seite. Jetzt sieht Crina die alte Dame im Rollstuhl. Das ist Else Schneider? Ja – ein bisschen sieht sie aus wie auf dem Foto im Internet. Aber lange nicht so fit, wie Crina geglaubt hat. Sie sieht wirklich alt aus. Und sehr müde. Als Crina sie begrüßen will, reagiert sie kaum, sagt nicht Guten Tag.
„Bitte, nehmen Sie es meiner Oma nicht übel“, sagt Tim, „sie hat gerade sehr starke Tabletten bekommen.“
„Tja, so ist das mit einem Pflegefall!“, sagt Anke spitz. Sie schaut auf die Uhr. „Ich muss los, Tim, bis später, ja?“ Schon läuft sie aus dem Zimmer. „Tschüss!“, hört Crina, dann schlägt die Tür zu.
„Was ist denn passiert ... mit Ihrer Großmutter?“, fragt Crina leise.
„Ein Schlaganfall“, antwortet Tim. „Nicht schwer. Aber ... es ist momentan nicht einfach für uns alle.“

10
"Entschuldigung“, beginnt Tim wieder. „Anke ...also, meine Freundin ... sie meint es nicht böse. Es ist nur ... viel Arbeit gerade. Außerdem: Anke kommt aus Hamburg, wenn Sie verstehen ...“
„Nein“, sagt Crina, „das verstehe ich nicht.“
Jetzt lächelt Tim wieder. „Wissen Sie: Wir im Süden und die Leute in Norddeutschland – das ist wie Feuer und Wasser. Anke ist ein feiner Mensch. Nur eben – nordisch. Kühl. Aber effizient. Verstehen Sie mich jetzt?“
„Ach so!“, Crina denkt an Ardial und Bukarest und muss lachen. „Ja, so etwas gibt es bei uns auch! Aber hören Sie, wenn Sie so viel Stress haben – ich kann doch helfen. Meine Oma sitzt auch im Rollstuhl.“
„Wirklich? Das ist ja großartig!“, ruft Tim. Zehn Minuten später liegt Else Schneider gewaschen im Bett und Tim gibt ihr vorsichtig zwei Tabletten. Dann sieht er auf die Uhr. „Ich muss leider ... Crina, kann ich Sie so mit Oma allein lassen? Und meinen Sie, Sie können ihr um neun Uhr noch einmal Tabletten geben? Dann muss ich nicht noch einmal vorbeikommen.“
„Tabletten?“ Crina ist unsicher. Tabletten geben – das ist eine große Verantwortung. Was, wenn sie einen Fehler macht?
„Bitte?“ Tim lächelt sie an. „Ich sehe doch, wie kompetent Sie sind. Viel mehr als ich.“
Crina seufzt. Wie soll sie da Nein sagen?

11
Am nächsten Morgen kocht Crina Kaffee und packt den Kuchen ihrer Mutter aus. Den hat sie Else Schneider gestern Abend versprochen, als sie ihr die Tabletten gegeben hat. Als Else Schneider so traurig sagte: „Ach Gott, nun sind Sie in Deutschland und müssen sich um mich alte Frau kümmern. So haben wir uns das beide nicht vorgestellt, was?“
Aber nun sieht alles viel freundlicher aus: der schöne Tisch, Tim, der seiner Oma Kaffee einschenkt und Frau Schneider selbst, die den Kuchen lobt.
„Wie gut der riecht!“, sagt sie. „Ich habe die ganze Nacht von Ihrem Kuchen geträumt!“
„Kuchen? Habe ich Kuchen gehört?“ Ein Mann kommt ins Zimmer und nimmt sich sofort ein Stück von dem Kuchen. „Mhmm! Rumänischer Kuchen? Das Land wird mir sofort sympathisch!“
„Darf ich vorstellen?“ Tim lacht. „Mein Freund Boris. Leider hat er keine Manieren.“ Tim geht zum Spülbecken und füllt ein Glas mit Wasser. „Möchte jemand?“, fragt er.
„Sie trinken Wasser aus der Leitung?“ Das ist eine Überraschung für Crina.
„Klar, probieren Sie.“
Crina trinkt. Tatsächlich. Das Wasser schmeckt frisch und klar. „Aber wie ist das möglich? Sauberes Wasser aus der Leitung?“ Sie trinkt noch einmal. „In Deutschland gibt es doch auch Industrie und Landwirtschaft und ...“
„... 80 Millionen super saubere Menschen“, erklärt Boris. „So einfach ist das!“
Hä? Crina schüttelt den Kopf. Was sagt dieser Boris?

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„Boris macht Spaß“, erklärt Tim. „Von Naturschutz hat er keine Ahnung.“
„Oh, das Wichtigste weiß ich“, sagt Boris und nimmt noch ein Stück Kuchen. „Ich darf nicht einmal mein Auto zu Hause waschen! Die pure Öko-Diktatur ist das!“
„Ach, ihr Filmleute!“, sagt Frau Schneider und lächelt. „Crina, hören Sie nicht zu, wenn die sich hier unterhalten. 90 % ist Unsinn!“
„Filmleute?“, fragt Crina.
„Boris ist Filmproduzent“, erklärt Tim. „Und Anke ist Regisseurin. Aber sie macht Dokumentarfilme. Nichts mit Romantik.“
„Wer weiß?“, sagt Boris. „Vielleicht mache ich mal einen Film über Wasserschutz? Oder über den Wald? Anke führt Regie und du mein Lieber ...“, er sieht Tim an, „spielst einen Baum. Na? Was meinst du?“
Auch Crina sieht Tim an.
Er versteht die Frage in ihren Augen. „Okay, ja, ich bin Schauspieler. Aber nur ein ganz kleiner. Kein Star.“
„Noch“, ruft Boris, „aber wartet nur, nächstes Jahr kommt unser Tim ganz groß raus!“
Crina kann das alles kaum glauben. Was für ein interessantes Haus! Mit einer Aktivistin und Leuten vom Film. Wenn sie das Mutter erzählt! Sie denkt an Stancu. An den Wald in Rumänien. Ob das eine Geschichte für einen Film ist?

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Ein Film über den rumänischen Wald. Den ganzen Vormittag denkt Crina daran. Ihr Seminar an der Uni beginnt nächste Woche, sie hat noch Zeit, um sich zu akklimatisieren. Sie ist froh, hier zu sein. Auch wenn Else Schneider krank ist – sie hat Herz und Kopf. Crina muss an Stancus Worte denken: „Willst du sie im Rollstuhl spazieren fahren? Oder ihr Haus putzen?“ – Genau das, denkt sie. Ich darf hier wohnen und lerne tolle Leute kennen – natürlich helfe ich, wo ich kann. Haus putzen? Gute Idee!
Crina geht von Zimmer zu Zimmer. Saugt, wischt, sammelt Müll und poliert die Möbel. Noch was? Müll rausbringen! Sie packt den großen Müllsack und tritt in den Flur.
„Was machen Sie denn da?“ Else Schneider kommt im Rollstuhl aus ihrem Zimmer. „Ist das der Müll? Alles in EINEM Sack?“
„Ahm ... ja, ... wieso?“, fragt Crina.
Else öffnet den Müllsack und schaut hinein. „Sie sind Ökologiestudentin?“ Damit leert sie den Sack auf dem Boden aus. Glasflaschen, Plastik, Papier, Eierschalen, Apfelreste, Kaffee – alles liegt hübsch zusammen auf dem Boden. „Bitte sehr!,“ sagt Else streng „Haben Sie denn noch nie etwas von Mülltrennung gehört?“
„Doch“, sagt Crina schockiert. Ist das mit dem Müll hier wirklich so wichtig? Frau Schneider ist ganz rot im Gesicht vor Zorn.

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Eine Stunde später ist der Müll sortiert – Glas extra, Papier extra, Plastik extra – und Crina hat gut zugehört bei Elses Rede. Ein paar Dinge machen die Leute hier in Deutschland also wirklich richtig. Autos in der Natur waschen und damit das Trinkwasser verschmutzen – nein, das passiert hier nicht. Super! Und der Müll wird wirklich getrennt.
„Das ist bei uns anders“, sagt Crina, „Es gibt schon Leute, die ihren Müll sortieren. Aber später liegt dann wieder alles zusammen. Und wissen Sie, was sich viele fragen? Warum sie trennen sollen, wenn andere Länder ihren Müll nach Rumänien importieren! Ja, auch Deutschland! Batterien, abgelaufene Medikamente. All so was verbrennt man bei uns. Oder Plastikmüll. Den verbrennen viele einfach an der Straße oder werfen ihn in die Wälder oder in die Donau. Wissen Sie, dass CocaCola seine Produktion nach Rumänien verlegt hat? Die ganze Produktion basiert auf Plastik! Und jetzt müssen Recyclingfirmen bei uns sogar Plastikmüll dazukaufen! Es ist verrückt!“[1]
Jetzt ist auch Crina heiß im Gesicht vor Wut. War das zu viel? Ist Frau Schneider beleidigt?

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Else Schneider hat die Augen geschlossen. Jetzt öffnet sie sie wieder. Erleichtert sieht Crina, dass die Frau im Rollstuhl sie genau verstanden hat.
„Ja“, sagt Else, „Deutschland schickt seinen schlechten Müll zum Verbrennen zu euch. Weil in Rumänien noch Hausmülldeponien erlaubt sind. Dann ist Deutschland der Saubermann.“ Else lacht bitter. „Das ist so dumm! Was bringt es, seinen Müll woanders zu verbrennen? Den Schaden für das Klima spüren wir doch alle!“
„Aber was sollen wir dagegen tun?“, fragt Crina.
„Kämpfen“, sagt Else. „Courage! Vor 50 Jahren haben in Deutschland die Menschen ihren Müll auch einfach in den Wald oder in Flüsse geworfen. Aber damals haben andere Länder nicht auch noch ihren Müll zu uns gebracht.“
„Und alte Dieselautos“, ruft Crina wütend. „Das kaputte Zeug kommt zu uns und dann stehlen sie noch unsere Wälder!“
Else nickt beschämt. „Genau so ist es. Ich werde böse, weil Sie ein Stück Plastik in den Restmüll geworfen haben und mein Land vermüllt Ihres im großen Stil! Verzeihen Sie!“ Sie streckt Crina die Hand hin. „Willkommen im Club der Umweltkämpferinnen! Denn das sind wir doch beide. Oder?“

16
„Ja, das sind wir!“  Crina ist ganz ernst. „Ich denke nur ... viel schlimmer als der Müll ist bei uns die Sache mit dem Wald. Ich weiß nicht, wieviel Sie darüber gehört haben. Wenn es Sie interessiert – bitte! Ich bin quasi Expertin. Eine rumänische Mafia fährt durch die Wälder und schneidet die Bäume einfach ab. Wenn jemand etwas dagegen machen will, bekommt er Probleme. Und alle arbeiten zusammen. Auch Förster, Waldbesitzer, Politiker ... Am Ende kommt das gestohlene Holz zu großen Firmen in Deutschland und Österreich. Mit Dokumenten, alles sieht legal aus. Die deutschen und österreichischen Holzfabrikanten sagen, sie wissen nicht, woher das Holz kommt. Aber in Wirklichkeit wissen sie es genau.“
Else nickt. „Das glaube ich sofort. Aber bevor du weiter sprichst – wollen wir nicht ‚Du‘ zueinander sagen? Ich bin die Else.“ Sie gießt sich und Crina Wasser ein und hält ihr Wasserglas hoch. Crina stößt mit ihrem an. „Klirr“ machen die Gläser.
„Und dann lass uns überlegen, was wir tun können“ sagt Else und stellt ihr Glas ab. „Denn du hast natürlich Recht. Man muss etwas tun gegen die Holzdiebe. Los! Ideen auf den Tisch!“


17
„Zuerst brauchen wir die großen Zeitungen“, sagte Else. „Süddeutsche Zeitung, Focus. Und das Radio!“
„Zeitung?“, fragt Crina. Wie kann ein Artikel in einer deutschen Zeitung die Holzdiebe in Rumänien stoppen? Nein, sie müssen größer denken. Der Holzdiebstahl ist nicht nur ein rumänisches Problem, es ist ein Weltproblem. „Wir machen eine Kampagne. Auf Facebook. Instagram. TicToc. Stancu hat viele Fotos, damit bombardieren wir das Internet!“
Zwei Stunden später besitzt Else drei Social-Media Accounts mit dem Namen „Stoppt die Holzmafia!“ und Crina wartet auf Stancus Antwort.
Alle fünf Minuten schaut Crina in ihrer Mailbox nach. Endlich! Eine Mail von Stancu.
„Ach, Crina, ist das wirklich eine gute Idee? Denk an deinen Vater. Wenn auch dir etwas passiert, was ist dann mit deiner Mutter?“
„Und wenn der Wald zerstört ist, was ist dann mit dem Klima? Denk an die nächsten Generationen!“, schreibt sie zurück.
Noch eine Mail. Mit nur drei Wörtern. Und einem Link zu Stancus Ordner mit seinen Fotos:
Kahle Wälder. Schwere Maschinen. Kaputte Böden. Lastwägen voller Holz. Es ist alles da. Sogar Videos.
„Gute Arbeit von deinem Freund“, sagte Else zufrieden. „Los! Fangen wir an!“
„Ja“, sagt Crina. Was sie nicht sagt, sind Stancus drei Worte: SEI BITTE VORSICHTIG!“

18
Die Bilder schlagen ein wie eine Bombe. Mehr als 100.000 Likes auf Instagram und 40.000 Likes auf Facebook. Nach nur drei Tagen.
„So viel Interesse in so kurzer Zeit“, sagt Else. „Das ist viel besser als ein Artikel in einer Zeitung.“
Crina nickt. Natürlich läuft es so gut, weil Else bekannt ist. Weil sie Aktivisten kennt. Bei Green Peace, dem World Wildlife Fund, bei Fridays for Future und vielen anderen Gruppen weltweit.
„Ach, Crina“, sagt Else mit roten Wangen, „ich fühle mich zwanzig Jahre jünger. Glaubst du mir das?“
„Ja, aber denk an deine Pause“, mahnt Crina. Das ist wichtig, hat Tim gesagt. Else darf sich nicht zu sehr anstrengen.
„Unsinn! Mir geht es super! Ha!“, ruft Else, „da schau an, noch jemand möchte ein Interview. Das ist schon die fünfte Anfrage in nur zwei Tagen! Drei aus Deutschland, eine aus Rumänien und jetzt aus Brüssel.“
„Toll“, sagt Crina und geht zum Briefkasten. Sie hat den Postboten draußen gehört. Drei Briefe. Crina legt sie vor Else auf den Schreibtisch. Immer noch lächelnd macht Else sie auf. Dann vergeht das Lächeln aus ihrem Gesicht. Wortlos reicht sie Crina den Brief. Der Text darin ist kurz: „Hallo, Else! Möchtest du weiterleben? Oder sterben?“

19
„Ein Drohbrief“, flüstert Crina. Ihr Herz schlägt schnell. Wie Stancu gesagt hat. Das alles ist gefährlich.
Elses Hand zittert plötzlich. Der Tee tropft auf den Tisch. Sie stellt die Tasse ab.
Crina springt auf, holt ein Tuch und wischt den Tee auf. „Es tut mir leid“, sagt sie, „ich habe dich in diese Situation gebracht.“
„Nein, nein, das ist nicht deine Schuld.“ Elses Hände zittern noch immer. „Ich kenne so was. Die Polizei hat mich schon von der Straße getragen, ich war schon vor Gericht.  Nur ... das ...“
„... ist eine Morddrohung“, sagt Crina. „Das können wir nicht ignorieren.“
Eine Minute lang sagt Else nichts. Dann: „Du hast Recht. Wir gehen zur Polizei. Morgen ...“ Sie lässt den Kopf hängen. „Heute ... ich bin so müde auf einmal. Ich will nur noch schlafen.“
Eine halbe Stunde brauchen sie, bis Else im Bett ist und ihre Tabletten bekommen hat.
Und nun geht Crina unruhig in ihrem Zimmer herum. Was tun? Allein zur Polizei? Nein, Else muss dabei sein. Tim anrufen! Doch er geht nicht an sein Handy. Sie probiert es dreimal. Nichts. In der Nacht kann sie nicht einschlafen. Immer wieder horcht sie. Dann schläft sie doch endlich ein.
Und schreckt gleich wieder hoch. War da etwas? Ein Geräusch?

20
Schritte! Crina hört sie ganz deutlich. Wer geht da? Crinas Herz schlägt schnell und hart. Ist ein Einbrecher im Haus? Der Mensch, der den Drohbrief geschrieben hat? Sie hält den Atem an –  horcht. Wieder hört sie Schritte, dann das Knarzen einer Tür. Ist es die Tür vom Wohnzimmer? Da drin steht Elses Bett.
Leise steigt Crina aus dem Bett. Leise, ganz leise öffnet sie ihre Zimmertür. Sie muss zu Else.
Kein Licht im Flur machen. Weiter schleichen. Da vorne ist das Wohnzimmer. Wenn nun dort einer von diesen Typen ist? Von der Holzmafia? „Möchtest du weiterleben? Oder sterben?“, haben sie geschrieben. Das war deutlich. Wenn einer von denen in Elses Haus ist ... Einen Moment lang wird Crina übel. Dann schüttelt sie den Kopf. Nein! Sie muss zu Else. Sie wird nicht noch einen Menschen an diese Kriminellen verlieren!
Sie schleicht zurück zu ihrem Zimmer und nimmt den schweren Wasserkrug vom Tisch.
Zurück über den Flur. „He!“, ruft sie laut und scharf. Den Wasserkrug hält sie wie eine Waffe hoch, reißt die Tür zum Wohnzimmer auf. Klack!, macht sie das Licht an, im nächsten Moment sieht sie die offene Terrassentür. Und einen Schatten, der durch den Garten davon läuft.

21
Crina hat die ganze Nacht an Elses Bett gesessen. Geschlafen hat sie nicht eine Minute. Trotzdem ist sie wach. Sie vibriert, so wach ist sie.
Else hat geschlafen. Sehr viel und sehr fest. Es ist 12.00 Uhr Mittag und sie schläft immer noch.
Und Tim hat endlich angerufen, aber die Verbindung war schlecht. Er ist in Ulm, so viel hat Crina verstanden. Da arbeiten sie seit gestern an seinem Film. Der Film, mit dem er ein Star wird. Wann ist er zurück? Morgen? „Ja! Mo ...!“ Das hat sie noch gehört und zurückgeschrien: „Bis morgen! Komm gleich zu uns, bitte!“ Dann hat sie aufgelegt. Nein, Drohbriefe und Einbrecher – das ist nichts für das Telefon. Das ist für die Polizei – und nicht einmal darüber ist Crina sich sicher. Was kann sie der Polizei denn erzählen? Einen seltsamen Brief hat sie. Und die Geschichte von einem Schatten ...
Als Else erwacht, ist es Mittag. Und immer noch ist sie müde, so müde.
„Zur Polizei?“, fragt Crina, während sie Else die Haare kämmt.
Else schüttelt schwach den Kopf. „Ich weiß nicht ...“
Voll Unruhe sieht Crina ihre Freundin an. Was hat sie nur? Kann das von den Tabletten kommen, die sie ihr gestern gegeben hat? Hat sie einen Fehler gemacht? Um Himmels Willen – nur das nicht!


22
„Crina?“
Gott sei Dank! Else spricht!
„Ich ... möchte ein bisschen raus. In ... meinen Wald. Geht das?“
„Ja, ja, ja!“, sagt Crina. Wald ist gut. Für eine Erholung ist Wald zehn Mal besser als Polizei. Und Else muss sich unbedingt erholen.
Zehn Minuten dauert es von Elses Haus. Dann stehen sie vor ihrem Wald. Ein alter Wald mit dicken Bäumen. Crina bleibt stehen. „Schön! Das sieht aus – wie ein richtiger Urwald!“
Else lächelt mit geschlossenen Augen. „Gefällt es dir? Ich lasse die Bäume in Ruhe, weißt du? Nicht einmal einen richtigen Weg gibt es ...“
„Kein Weg? Aber da ist doch ...“ Crina stoppt sich. Direkt da, wo sie stehen, führt von der Straße ein breiter Weg in den Wald. Ein neuer Weg. Die Erde ist noch schwarz und frisch. Und Else weiß nichts davon – wie seltsam! Ist sie wieder eingeschlafen? Vielleicht besser so, denkt Crina.
Und dann hört sie ein Geräusch in der Ferne. Sie kennt das, trotzdem dauert es ein paar Sekunden, bis sie sicher ist: Motorsägen! Jemand schneidet Holz im Wald! Nein, das darf Else nicht wissen. “Hör mal“, sagt sie so ruhig wie möglich, „es fängt an zu regnen. Wir gehen besser wieder nach Hause, ja?“
Aber nun hat auch Else etwas gehört. Sie hebt den Kopf. „Was ist das?“, fragt sie. „Was ist das für ein Geräusch?“


23
Nein, Crina hat Else nicht die Wahrheit gesagt. Sie hat etwas von einem Flugzeug oben am Himmel erklärt und Else war nicht stark genug, um nach oben zu schauen und hat ihr einfach geglaubt. Crina hat Else nach Hause gebracht, sie haben zusammen gegessen und Tee getrunken und Else hat Crina von ihrem Wald erzählt.
Dass sie den Wald vor fünfzig Jahren gekauft hat, dass Tim schon mit fünf Jahren an ihrer Hand durch den Wald gegangen ist, dass er die Bäume dort genau so liebt wie sie selbst. „Er wird den Wald bekommen, wenn ich gestorben bin“, hat Else gesagt.
Dann wollte sie ins Bett. Schon um 17.00 Uhr. Immer noch ist sie so unerklärlich müde. Und Crina kann nicht aufhören, an das Geräusch der Motorsäge zu denken.
18.00 Uhr. Else schläft fest.
Was passiert da in ihrem Wald? Gibt es Holzdiebe auch hier in Deutschland? Soll sie in den Wald gehen und nachsehen? Crina kann an nichts anderes mehr denken. Sie will in den Wald.
Und wenn der Einbrecher von gestern Nacht zurückkommt? Ach! Warum ist Tim gerade jetzt in Ulm?! Nur zehn Minuten, sagt Crina sich. Nur kurz in den Wald und gleich wieder zurück!

1.106

24
Sie steht wieder vor dem Weg. Es gibt kein Geräusch mehr. Aber den Weg gibt es. Es ist ein Weg für große Maschinen, die braucht man, um Bäume zu transportieren. Wirklich, hier hat man schon Bäume geschlagen, mindestens zehn. Crina kennt das: So beginnt es: Maschinen, Sägen, Transport. Hier waren Holzdiebe, genau wie in Rumänien! Ihr Herz schlägt laut. Sie sieht auf die Uhr. Vor zwölf Minuten hat sie Else verlassen. Nur noch zwei Minuten, denkt sie und läuft auf dem Weg hinein in den Wald. Sie läuft nicht sehr schnell, sie muss aufpassen: auf den Weg, auf die Bäume. Und jetzt im März wird es auch schon dunkel.
Der Weg endet. Vor ihr steht ein Transporter, halb voll mit Baumstämmen. Sie schaut auf den Boden: Da sind so viele traurige Reste.
Hört das denn nie auf? Nicht einmal hier in Deutschland? Crina möchte schreien, so wütend ist sie. Und warum nicht – kein Mensch ist jetzt mehr im Wald. Also hebt sie den Kopf und schreit laut in ihrer Sprache: HÖRT DAS NIE AUF? „Ne se termină asta niciodată?“
Was hat sie gedacht? Kein Mensch mehr im Wald? Und diese Stimmen jetzt? Woher kommen die? Immer noch hat Crina den Kopf gehoben – und da sieht sie es: Hoch oben in den Bäumen sitzen Menschen.


25
Nein, diese Menschen sehen nicht wie Diebe aus. Sie haben kleine Häuser in die Bäume gebaut. Es sind Baumschützer! Ihr Professor in Bukarest hat davon berichtet.
„Hey!?“, ruft einer von oben. „Was willst du hier?“
„Sehen, was los ist“, ruft sie zurück. „Warum schneidet man hier Bäume?“
„Warte ...“ Ein Mann klettert den Baum herab. Jetzt steht er vor ihr: Mitte zwanzig, dunkle Haare.
„Bist du von der Presse?“
„Nein, nur Studentin.“
„Schade“, sagt er. „Presse wäre sehr gut, um diese Kriminellen zu stoppen.“
„Was ist denn überhaupt los?“, fragt Crina. „Kriminelle ... Könnt ihr da nicht die Polizei holen?“
„Haben wir schon. Aber der Wald ist Privatbesitz. Die Polizei sagt, dass wir einen Beschluss vom Gericht brauchen. Wir waren schon beim Gericht, aber das braucht Zeit. In dieser Zeit schneiden sie die Bäume. Und wir sitzen da oben.“ Er zeigt zu den Menschen in ihren Baumhäusern.
„Wer schneidet die Bäume?“
„Der Besitzer von einem Kieswerk.“
„Aber der Wald gehört ...“ Crina stoppt mitten im Satz. Nein, sie soll jetzt nicht über Else sprechen. Sie muss sofort zurück zu ihr.
„Ich bin übrigens Ben“, sagt der Mann.
„Hör zu, Ben! Das alles ist wichtig für mich. Nur jetzt muss ich gehen. Aber ich komme wieder!“ Sie läuft los im letzten Licht, dreht sich nur einmal um und ruft: „Ich bin Crina!“


26
Tim ist da. Endlich! Er steht an Elses Bett, dreht sich zu Crina. „Was ist denn mit Oma? Geht es ihr nicht gut?“
„Deine Großmutter ist ... erst war sie so fit und fröhlich und jetzt ist sie immer müde und will nur noch schlafen ... und ...“ Crina weiß nicht, wo sie anfangen soll.
„Hast du ihr die Tabletten immer rechtzeitig gegeben?“
„Ja, natürlich! Sie ist trotzdem müde. Und dann ... ich glaube, wir hatten gestern Nacht einen Einbrecher im Haus.“
„Einen Einbrecher? Crina, komm! Das ist doch Unsinn!“
„Nein! Ich habe etwas gehört ...“
„Oder geträumt?“
„Tim! Ich bin zu deiner Oma ins Zimmer gegangen, die Tür zum Garten war offen!“ Die Sache mit dem Schatten erzählt sie lieber nicht, er denkt sicher jetzt schon, dass sie verrückt ist.
„Ach, so eine windige Nacht – da kann diese alte Tür schon einmal aufgehen!“ Tim lacht.
Gut, denkt Crina. Dass Tim so ruhig bleiben kann, hilft. Schon wird sie selbst ruhiger. Nur die Sache mit dem Brief – wie wird Tim darauf reagieren? „Tim“, sagt sie leise. „Da ist noch etwas ... deine Großmutter hat gestern einen seltsamen Brief bekommen. Jemand will ihr Angst machen.“
Gerade noch hat Tim gelacht. Jetzt nicht mehr. Seine Augen werden groß. „Was sagst du da?“


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„Zeig mir den Brief!“ Konzentriert liest Tim. „Das verstehe ich nicht“, sagt er dann. „Du weißt, Oma war bei Greenpeace. Man hat böse Sachen über sie in der Zeitung geschrieben. Aber nicht so was ... Woher kommt das?“
Crina schluckt. „Ich glaube, das kommt von unserer Aktion. Wir haben ... also, ich habe für deine Oma in den Social Media gepostet.“
„Was gepostet?“
„Gegen all die Skandale. Weil Deutschland Müll zu uns schickt. Und das gestohlene rumänische Holz kauft ...“
„Und dann kam der Brief?“
„Ja. Wir wollten gleich zur Polizei. Aber deine Oma war zu schwach.“
Tim sagt nichts. Dann fasst er Crina an den Schultern. „Hör zu, ich verstehe dich. Du wolltest etwas Gutes tun. Aber meine Oma ist 84! Und sie hatte schon einen Schlaganfall ... Wenn sie sich aufregt, kann schnell etwas passieren.“
Else ist aufgewacht. „Tim!“, sagt sie leise. „Schön, dass du da bist, Junge!“
„Na, Oma?“ Er streichelt ihre Schulter. „Heute muss ich nochmal an die Arbeit. Aber morgen bleibe ich den ganzen Tag bei dir. Und du ruhst dich schön aus, ja?“
„Und die Polizei?“, fragt Crina, als Tim schon an der Tür steht.
„Das mache ich. Aber zuerst zeige ich Anke diesen Brief. Anke ist die intelligenteste von uns. Sie weiß am besten, was zu tun ist. Und du – rufst mich sofort an, wenn etwas passiert! Verstanden?“

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Ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Hat Else gehustet? Mit zehn Schritten ist Crina an ihrem Bett. „Else? Was ist?!“
Else hustet, versucht zu atmen, greift sich an den Hals.
„Else!“
Wo ist Tim? Er kann noch nicht weit sein. Crina läuft zur Haustür, öffnet sie und schreit, so laut sie kann: „Tim!!“
Ein Glück, er hat sie gehört, schon kommt er im Laufschritt. „Was ist?“
„Deine Oma. Es sieht schlimm aus! Kannst du einen Arzt rufen?“
„Warte, warte!“ Tim läuft ins Wohnzimmer, setzt sich zu Else ans Bett und streichelt über ihr Haar.
„Rufst du keinen Arzt?“, fragt Crina.
Tim antwortet nicht. Sein Gesicht ist starr. Dann schüttelt er den Kopf. „Der Arzt bringt sie ins Krankenhaus und Oma will da nie wieder hin. Ich musste es ihr versprechen. Nie wieder ins Krankenhaus.“
„Aber...“, protestiert Crina.
Doch Tim legt den Zeigefinger an seine Lippen. „Kein Aber. Es ist Omas Wille. Sie hat immer gesagt, dass sie zu Hause sterben möchte.“
STERBEN? Erschrocken sieht Crina Tim an. „Aber vor zwei Tagen war sie doch noch voll Energie! Wie kann das sein?“


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„Komm her, Crina!“ Tim zeigt auf den Stuhl neben sich. „Setz dich.“
Sie sitzen da, sprechen nicht. Hören nur, wie Else atmet. Sehr schwer atmet.
Dann spricht Tim weiter. „Dieses Haus, das Haus am Wald ist ihr liebster Ort, weißt du?“ Er sieht Else an und lächelt. „Als Kind war ich so oft hier. ‘Unser kleines Paradies‘, hat sie zu mir gesagt. Dann sind wir in den Wald gegangen. Sie kannte alle Bäume, alle Tiere ... “ Er spricht nicht weiter. Crina kann sehen, dass er an seine Oma denkt. Crina weiß nicht, was sie tun soll. Sie will ihn nicht stören, aber auch nicht einfach gehen.
Vielleicht hat Tim ihre Gedanken gelesen. „Ich ... möchte ein wenig Zeit mit Oma haben. Allein“, sagt er.
„Natürlich“, sagt Crina. Sie steht auf, drückt Elses Hand, dann geht sie aus dem Zimmer. Sie zieht ihre Laufschuhe an und verlässt das Haus, läuft los ohne Plan und ihre Gedanken laufen mit ihr. Was ist, wenn Else nun stirbt? Ist sie dann mit schuld? Eine Träne läuft über ihr Gesicht. Ja, Else ist alt. Und sie ist krank. Aber sie hat doch noch so viele Ideen und Pläne!
Erst jetzt merkt sie, wohin sie geht. In Elses Wald! Weiß Tim, dass hier Bäume geschnitten werden? Crina schüttelt den Kopf. Sie muss mehr darüber herausfinden – es wird Zeit!


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Entschlossen folgt sie dem Weg, läuft weiter bis zur Kolonie der Baumhäuser. Und hört schon von weitem die Geräusche der Motorsäge und einen Chor menschlicher Stimmen: „Stopp! Das ist illegal! Lasst die Bäume leben!“ Die Baumschützer stehen vor den Männern mit den Sägen und schreien und schreien.
Und der große Transporter lässt den Motor an und fährt langsam auf sie zu.
„Hört auf!“, schreit Crina, aber niemand hört jetzt noch ihre Stimme.
In letzter Sekunde ziehen sich die Baumschützer zurück. Schon arbeiten die Motorsägen. Gleich fällt der nächste Baum.
Crina spürt eine Hand auf ihrer Schulter und dreht sich um. „Ben!“
„Hallo, Crina. Sieht traurig aus, nicht wahr?“
„Wieso machen die das?“
„Geld. Was sonst?“
„Und das Gericht?“
„Hat immer noch nicht entschieden. Und der Besitzer vom Kieswerk erklärt jetzt auch noch, dass ihm der Wald gehört.“
„Was?“
„Er sagt, er hat ihn gekauft.“
„Das glaube ich nicht!“
„Du kannst ihn fragen. Da vorne steht er. Siehst du den Typ mit der Lederjacke?“
„Die Jacke mit dem Bären-Emblem?“
„Genau der. Er heißt Bärlein. Deswegen das Emblem. Lustig, nicht wahr?“ Ben lacht sarkastisch.
„Hör zu, Ben. Das kann alles nicht sein. Ich muss das klären. Ich ...“ Sie kann nicht mehr sprechen, sie läuft, so schnell sie kann den Weg zurück.

 
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„Tim!“ Sie hat den Hausschlüssel vergessen und schlägt gegen die Tür. „Tim!“ Die Tür geht auf, Tim steht da mit erschrockenem Gesicht. „Was ist?“
„Ich ... habe ... muss ...“ Sie kann nicht weiter sprechen, sie muss Luft holen.
„Komm rein!“, sagt Tim. „Oma ... psch! Leise ... Es geht ihr besser!“
„Was? O Gott, Tim! Wie wunderbar! Kann ich zu ihr?“
„Warte! Ich habe doch einen Arzt gerufen. Der hat ihr ein Mittel gegeben. Lassen wir sie schlafen. Morgen früh kommt der Arzt wieder.“ Jetzt sieht Tim nicht mehr erschrocken aus, sondern glücklich. „Komm! Ich habe Tee gekocht. Und mit Anke telefoniert. Wegen dem Film ...“ Tim kann gar nicht mehr aufhören zu sprechen.
Weil der Stress in ihm zurückgeht, denkt Crina.
„Ich arbeite schon so lange an diesem Film, an meiner Rolle, weißt du. Willst du mal sehen?“ Er holt sein Handy heraus und klickt die Fotos an. „Hier. Das bin ich im Kostüm. Siehst du? Hier ist Anke. Und da ...“
„Warte mal!“, sagt Crina. „Wer ist das da?“
„Mein Produzent. Boris. Du kennst ihn. Okay, hier sieht man nur seinen Rücken.“
Der Mann auf dem Foto trägt eine Lederjacke. Mit einem besonderen Emblem.
„Kann es sein“, fragt Crina langsam, „dass dein Freund mit Nachnamen Bärlein heißt?“


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„Boris Bärlein, ja, so heißt er“, sagt Tim. „Was ist los, Crina? Warum fragst du das?“
„Dieser Mann besitzt ein Kieswerk. Das weißt du, oder?“
„Er besitzt ein ... was? Ich habe keine Ahnung. Ich kenne Boris nur vom Film. Er hat Geld, ja. Aber Kies ...?“ Tim lacht leise über sein Sprachspiel.
„Er besitzt ein Kieswerk und jetzt will er den Wald deiner Oma. Er sagt, der Wald gehört schon ihm. Und er schlägt die Bäume darin. Jetzt. In dieser Stunde.“
„Was sagst du da? Woher willst du das wissen?“
„Von Ben, er ist auch gerade im Wald.
„Hä? Ben? Wer zum Teufel ist Ben?“
„Er ist ein Freund. Ein Waldschützer. Momentan lebt er im Wald, aber ... das ist doch jetzt egal! Du musst diesen Wahnsinn sofort stoppen! Geh in den Wald! Rede mit deinem ... mit diesem Bärlein! Es ist Elses Wald!“
Tim springt auf, als er den Namen seiner Großmutter hört. „Psch! Wir dürfen sie nicht wecken! Aber du hast Recht ...“ Er beginnt im Zimmer hin und her zu gehen. „Ich muss mit Boris reden. Oder nein, zuerst mit Anke. Die weiß immer, was richtig ist. Wir werden das klären. Und du, Crina, gehst heute nicht mehr aus dem Haus. Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß. Bleib ruhig, ja? Und lass Oma schlafen!“


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Ruhig bleiben – wie kann Crina ruhig bleiben in so einer Situation? Im Wohnzimmer schläft ihre Freundin Else, die heute fast gestorben wäre. Im Wald schneidet dieser Bärlein einen Baum nach dem anderen. Wie viele Männer hat er? Zwanzig? Egal, es sind sicher mehr als Ben und seine Freunde.
Crina geht von ihrem Zimmer zur Küche, zum Bad. Vor der Tür zum Wohnzimmer bleibt sie stehen und horcht. Hofft, dass es Else gut geht. Dass sie etwas Schönes träumt. Sie geht zurück in ihr Zimmer, öffnet den Laptop, schaut sich die Kommentare an, macht den Laptop wieder zu, geht zurück auf den Gang.
An der Haustür liegt etwas auf dem Boden. Etwas Weißes. Sie macht das Licht an. Ein Brief. Jemand hat ihn unter der Tür durchgeschoben. Ist es wieder ein Drohbrief an Else? Crinas Herz schlägt schneller.
Sie hebt den Brief auf. Erschrickt. Auf dem Umschlag steht CRINA.
Sie reißt den Brief auf.
‚Hallo Crina‘, liest sie, ‚komm in den Wald! Schnell bitte! Es ist wichtig. Ben.‘
Was ist wichtig? Was meint Ben? Sie sieht auf die Uhr. 22:35 Uhr. Draußen ist alles dunkel. Ist das eine gute Idee, jetzt alleine in den Wald zu gehen? Und hat Tim nicht gesagt, sie soll zu Hause bleiben?
Aber Ben ist einer von den Guten, das weiß sie. Hat sie da eine Wahl?


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Jacke und Schuhe anziehen, Mobiltelefon einstecken. Dann öffnet Crina die Tür und tritt hinaus in die Nacht.
Es ist dunkel.
Sie geht die Straße entlang, von Straßenlaterne zu Straßenlaterne bis zum Ende der Straße, wo der Feldweg beginnt. Noch 200 Meter bis zum Wald. Ohne Licht. Nicht einmal der Mond steht am Himmel.
Irgendwo da vorne ist der Wald. Wie eine schwarze Wand erkennt sie ihn im Dunkelgrau der Nacht.
Crina nimmt ihr Mobiltelefon und schaltet die Taschenlampe ein. Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen früh warten kann?
Sie kann Stancu hören: ‚Crina! Du kennst diesen Ben nicht. Und gehst mitten in der Nacht in den Wald, um ihn zu treffen? Bist du verrückt?‘
Ja, vielleicht ist sie verrückt, aber manchmal muss man etwas riskieren, um etwas zu verändern.
Und da ist der Wald.
So dunkel.
Aufpassen. Nicht stolpern! Wenn sie fällt, wenn das Handy kaputt geht, dann hat sie gar kein Licht mehr.
Ein Rascheln, gleich neben ihr.
Krach! Sie spürt einen heftigen Schlag.
Noch einen.
Dann fällt sie. Crina liegt am Boden.





















 

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