Ljudmila Ulitzkaja im Gespräch
Nikita Velichko wurde 1990 in Nowosibirsk geboren und studierte Wirtschaft und politischen Journalismus an der Fakultät für angewandte Politikwissenschaft der National Research University Higher School of Economics. Von 2012 bis 2016 arbeitete er mit „Afisha“ zusammen, wo er als Redakteur von „Afisha-Waves“ und „Afisha-Mir“ tätig war und für Webseiten und Zeitschriften schrieb. VelichkosTexte werden in russischen und ausländischen Ausgaben (Pitchfork, The Wire, Time Out, The Village und andere) veröffentlicht. Zudem ist er Übersetzer und Herausgeber von Büchern über Musik.
Velichko: Ljudmila Jewgenjewna, vielen Dank dafür, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Die Stadt Dawlekanowo, in der Sie geboren wurden, ist das Asien oder Europa?
Ulitzkaja: Das ist Baschkirien. Man hat mich von dort weggebracht, als ich neun Monate alt war, und ich bin niemals wieder dorthin zurückgekehrt. Meine Familie war evakuiert worden. Eigentlich kommt unsere Familie aus Moskau.
Velichko: Was ist Ihre erste Erinnerung?
Ulitzkaja: Ich bin Moskauerin, und so ist das Moskau:ein Moskauer Hinterhof. Ziemlich ärmlich und heruntergekommen. Auf dem Hof standen zwei Baracken. Dort lebten vor allem Menschen, die nach dem Krieg nach Moskau gekommen waren.
Velichko: Ihr Großvater väterlicherseits schrieb viele Bücher. Und Ihre Urgroßmutter mütterlicherseits verfasste Gedichte auf Jiddisch. Ihre Mutter war Biochemikerin, Ihr Vater Ingenieur, ein Mann der Wissenschaft. Hatten Sie als Kind eine besondere Vorliebe für die Wissenschaft oder die Literatur?
Ulitzkaja: Ich strebte ganz klar die Karriere einer Biologin an. Ich liebte die Biologie. Meine Mutter war Biochemikerin, und das Gebiet faszinierte mich sehr. Aber es kam anders.
Velichko: Sie lebten meistens im Norden der Stadt Moskau?
Ulitzkaja: Ja, genau. Die erste Wohnung unserer Familie war eine halbe Moskauer Datscha, die mein Großvater 1917 gekauft hatte, noch vor der Revolution. Dort, wo sie stand, wurde später die Metrostation „Dynamo“gebaut. Damals lag die Gegend weit außerhalb der Stadt und hieß „Petrowsker Park“. Meine Mutter wurde dort geboren. Und ich wohne jetzt nur 10 Gehminuten entfernt.
Velichko: Sie haben in einer Gemeinschaftswohnung gelebt. Wie kamen Sie mit den Nachbarn zurecht?
Ulitzkaja: Sehr gut. Meine Mutter war einewunderbare Frau und hatte einen ausgesprochen guten Charakter. Sie war freundlich, fröhlich und warmherzig. Natürlich gab es in unserer Gemeinschaftswohnung auch Reibereien, doch meine Mutter war immer diejenige, die die Wogen wieder glättete.
Velichko: Gibt es ein besonderes Gefühl, das Sie mit Ihrer Kindheit verbinden?
Ulitzkaja: Ach was, nein.In meiner Kindheit passierte alles Mögliche. Ich bin einfach ein Mädchen, das in den Hinterhöfen großgeworden ist. Das Leben von Kindern fand damals vor allem in den Hinterhöfen statt, wo wir zusammen spielten. Wir spielten mit dem Ball oder das Messerspiel oder ähnliches. Das war gar nicht so einfach, wir mussten kämpfen und uns durchsetzen – eine wirklich spannende Schule fürs Leben.
Velichko: In einem Interview bezeichneten Sie die Generation Ihrer Eltern einmal als „versehrt“.
Ulitzkaja: Wahrscheinlich bezeichnete ich sie eher als „schweigende“ Generation. Aber auch „versehrt“ ist nicht falsch. Sie hatten viel Angst: Angst vor dem Staatsapparat, Angst vor Denunziation. Oder zum Teil auch vor Nachbarn, die ihnen wirklich schaden konnten, wenn sie sie anzeigten.
Velichko: Wie würden Sie ihre eigene Generation beschreiben?
Ulitzkaja: Ich denke, wir haben großes Glück gehabt. Meine Generation hat viele Facetten vom Leben in Russland gesehen. Ich war 10 Jahre alt, als Stalin starb. Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Wir haben verschiedene Arten von Staatsmacht erlebt – und ich mochte keine einzige davon. Aber immerhin habe ich das Gefühl, bei all diesengroßen Kollisionen dabei gewesen zu sein. Wir haben einen wirklich sehr interessanten Teil der russischen Geschichte abbekommen. Und außerdem war dieser Teil weniger blutig als der davor. 1937 und die ganze Zeit vor dem Krieg – und eigentlich auch die Nachkriegszeit – waren von großen Repressionen gekennzeichnet. Unsere Generation aber hatte damit deutlich weniger zu tun. Obwohl auch Freunde von mir ins Gefängnis gingen; meine Freundin Natascha Gorbanewskaja kam in eine brutale Psychiatrische Klinik, oder auch Alik Ginsburg – nun, es betraf uns also schon. Ich war befreundet mit Juli Daniel, der fünf Jahre Haft absaß. Der Staat zeigte ein freundlicheres Gesicht, aber trotzdem: wehe wenn…
Velichko: Was für einen Eindruck hatten Sie als Kind von Europa?
Ulitzkaja: Mit Europa war es so ähnlich wie mit den Büchern von Dumas:sehr weit weg und höchstwahrscheinlich gar nicht existent. Aus dem Reich der Fantasie. Es war unvorstellbar, ja undenkbar, irgendwann mit eigenen Augen Paris, London oder New York zu sehen. Diesen Teil der Geographie gab es nur in Worten.
Velichko: Und heute haben Sie ein Haus in Italien.
Ulitzkaja: Kein Haus, sondern eine kleine Wohnung. Eine Ein-Zimmer-Wohnung mit herrlichem Blick aufs Meer. In einem Fischerdorf.
Velichko: Können Sie diesen Ort als Ihr Zuhause bezeichnen?
Ulitzkaja: Mein Nest, wie ich es viel eher nennen würde, habe ich nun schon seit 10 Jahren. Ich habe dort viel gearbeitet. Moskau ist zum Arbeiten sehr ungeeignet. Dort aber ist es ruhig und schön. Und ohne Sprachkenntnisse sogar ganz besonders ruhig.
Velichko: Wie viele Orte gab es in Ihrem Leben, die Sie als Zuhause bezeichnenkönnen?
Ulitzkaja: Ich habe nur ein einziges Zuhause, und das ist meine Wohnung in Moskau. Ich liebe meine Wohnung und bin sehr gern dort. Allerdings bin ich auch wirklich nicht anspruchsvoll, und so ist mein Zuhause dort, wo mein Computer steht. Ich kann mich überall schnell einleben.
Velichko: [In anderen Interviews] haben Sie erzählt, dass Sie sich in der Schule etwa in der 10. Klasse gelangweilt haben. Haben Sie positive Erinnerungen an die Schule?
Ulitzkaja: Nein. Die Schule war – vor allem in den letzten Jahren – sterbenslangweilig. Leider hatte ich nicht das Glück, irgendeinen besonders guten Lehrer gehabt zu haben, an den ich mich gern zurückerinnern würde. Alle waren in Ordnung und anständig, keiner war gemein. Aber ich kann mich an keinen einzigen Lehrer in der Schule erinnern, bei dem ich wirklich Wichtiges gelernt hätte. Solche Leute kamen von woanders her. Und so gab es andere wunderbare Menschen, die meine Lehrmeister wurden. Aber nicht in der Schule.
Velichko: Hatten Sie solch einen Lehrmeister im Biologiestudium?
Ulitzkaja: Mein Fachgebiet war Genetik. Das unterrichtete Wladimir Pawlowitsch Efroimson, ein brillanter Wissenschaftler und außergewöhnlicher Mensch. Wir arbeiteten in Gruppen, unsere Gruppe bestand aus etwa zehn Personen, aber ich hatte keinen engeren Kontakt zu ihm. Mir war klar, dass er ein kolossal hohes Niveau hatte, absolut unerreichbar.
Velichko: Wissen Sie noch, in welchem Alter oder zu welchem Zeitpunkt Sie beschlossen haben, Biologie zu studieren und Biologin zu werden?
Ulitzkaja: Ich habe das schon immer gewusst, denn ich war begeistert vom Labor meiner Mutter. Magisches Glas, bunte Lösungen, die verschiedenen Utensilien, die Vivarien… Und dann hatte ich all das selbst, wenn auch nicht für lange. Mein Leben hat sich anders entwickelt, weg von der Biologie, aber das Interesse für Biologie ist mir bis heute geblieben.
Velichko: Sie haben sich mehrfach für das Biologiestudium beworben. An derselben Fakultät, wenn ich mich nicht irre?
Ulitzkaja: Ja, gleich nach der Schule, aber ich hatte die nötige Punktzahl nicht erreicht. Danach arbeitete ich zwei Jahre als Histologie-Laborantin in einem Institut für Pädiatrie. Als ich mein Studium anfing, war ich schon zwei Jahre lang berufstätig gewesen.
Velichko: Warum hatten Sie sich gerade diese Fakultät ausgesucht? War sie die beste im Land?
Ulitzkaja: Ich hatte die Wahl zwischen dieser und der am medizinischen Institut, aber da gab es Genetik nicht als Fachgebiet. Das aber war es, wofür ich mich schon interessierte, bevor ich zur Schule ging. Als ein Lehrstuhl für Genetik eingerichtet wurde, war ich glücklich und wollte unbedingt dorthin. Die von Lyssenko geprägte Leitung wurde damals abgelöst von wirklichen Genetikern. Unsere Dozenten waren großartig, als Menschen und als Wissenschaftler.
Velichko: Sie haben einmal erzählt, dass bei Ihrer ersten Deutschprüfung für das Studium junge Soldaten bevorzugt behandelt wurden. Empfanden Sie das als ungerecht?
Ulitzkaja: Absolut. Damals herrschte Antisemitismus. Ich war gut in Deutsch. Man konnte meine Sprachkenntnisse nicht mit denen der Jungs vergleichen, die nach dem Armeedienst dorthin kamen. Aber ich bekam nur ein „Gut“, und damit war die Sache erledigt. Bei ihnen wurden Vorkenntnisse angenommen, und das brachte ihnen Vorteile. Aber das macht nichts, ich habe zwei Jahre im Institut für Pädiatrie gearbeitet, und letztendlich kam mir das zugute.
Velichko: Hatte sich die Situation gebessert, als Sie schließlich anfingen zu studieren?
Ulitzkaja: Das ist schwer zu sagen. Es gibt zwei Dinge, über die man sich gemeinhin beschwert, die mir aber in meinem Leben tatsächlich nicht geschadet haben. Das eine ist das weibliche Geschlecht, denn Jungs werden in vielen Bereichen bevorzugt, das andere die Nationalität.
Velichko: Woher kommen Ihre guten Deutschkenntnisse und welche Sprachen sprechen Sie außerdem noch?
Ulitzkaja: Meine Sprachkenntnisse sind tatsächlich eher dürftig. Meine Mutter wusste, wie wichtig es ist, Fremdsprachen zu beherrschen, und deshalb hatte ich schon sehr früh eine Deutschlehrerin. Und es gab eine Zeit, in der ich recht gut Deutsch konnte, aber dann vergaß ich das meiste wieder, denn eine Sprache will geübt werden. Dann hatte ich viele Jahre lang Englischunterricht, doch auch Englisch kann ich nicht gut. Als junge Erwachsene habe ich dann Französisch gelernt, doch Französisch kann ich überhaupt nicht. Ein begabterer Mensch könnte alle drei Sprachen gut beherrschen, wenn er so lange Unterricht gehabt hätte wie ich. Bei mir reicht es aber bestenfalls dazu, einen Artikel mit Ach und Krach zu lesen.
Velichko: Lesen Sie Ihre Übersetzungen?
Ulitzkaja: Fremdsprachige? Da wäre Englisch das einzige, was ich kontrollieren könnte. Aber ich habe jetzt eine sehr gute englische Übersetzerin, und ich kontrolliere sie nicht. Außerdem wurden meine Bücher in 40 Sprachen übersetzt, und kein Mensch beherrscht 40 Sprachen.
Velichko: Wollten Sie nach dem Studium eine wissenschaftliche Karriere einschlagen?
Ulitzkaja: Ja, natürlich wollte ich in die Wissenschaft gehen. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, arbeitete ich zwei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Institut für Genetik.
Velichko: Worin bestand dort Ihre Tätigkeit?
Ulitzkaja: Da gab es verschiedene wissenschaftliche Bereiche, vor allem aber war da das Labor für Hirnforschung. Einer der Mitarbeiter, für die ich arbeitete, forschte am Hydrozephalus. Das war wirklich interessant. Wir operierten künstlichenHydrozephalus bei Ratten, ich operierte also Ratten. Ich habe heute noch ein Foto von mir, wie ich hochkonzentriert eine Ratte zerschneide. Und mein Roman „Reise in den siebenten Himmel“ ist auch nicht aus der Luft gegriffen – natürlich ist das eine Geschichte aus meinem Leben.
Velichko: Warum haben Sie mit der Arbeit aufgehört?
Ulitzkaja: Unser ganzes Laboratorium wurde aufgelöst.
Velichko: Irgendwo heißt es – ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht – dass Ihnen vorgeworfen wurde, Sie hätten Samisdat-Literatur, also illegal verlegte Literatur, gelesen und kopiert.
Ulitzkaja: Nun ja, genau deshalb wurde das Labor aufgelöst. Dort gab es viele junge Leute, die gerne lasen, also wurde das Labor kurzerhand geschlossen. Doch niemand musste ins Gefängnis, dafür bin ich dankbar.
Velichko: Können Sie erzählen, was das für ein Samisdat war?
Ulitzkaja: Verschiedene Literatur. Konkret ging es damals aber um den Roman „Exodus“ von [Leon] Uris. Ein mittelmäßiger Roman, aber verboten, denn er betraf den Aufbau des Staates Israel.
Velichko: Wie kam heraus, dass sie den Roman lasen?
Ulitzkaja: Wir gaben ihn einer Schreibkraft zum Abtippen, und entweder sie selbst oder jemand aus ihrer Verwandtschaft ging zum KGB und denunzierte uns.
Velichko: Was taten Sie in der ersten Zeit danach?
Ulitzkaja: Neun Jahre lang habe ich gar nicht gearbeitet. Ich hatte einen Ehemann, bekam ein Kind, dann noch eins. Ich las Bücher. Dann habe ich wieder angefangen zu arbeiten, aber nicht in der Biologie sondern am Theater.
Velichko: Hatten Sie einen Traum in Bezug auf die Biologie?
Ulitzkaja: Nein, ich habe viel zu wenig als Biologin gearbeitet. Die moderne Genetik ist unglaublich interessant, aber leider komme ich darin nicht über populärwissenschaftliche Bücher hinaus. Allerdings ich habe enge Freunde, die der Biologie treu geblieben sind.
Velichko: Ihre erste Arbeit begannen Sie kurz nach der Entdeckung der DNA.
Ulitzkaja: Die DNA war 1953.Eigentlich sogar noch früher. Ich war 1967 fertig mit meinem Studium. Das Thema war also noch recht neu. Die rasante Entwicklung der Molekulargenetikbegannim Prinzip genau zu jener Zeit. Ich verfolge sie bis heute mit größtem Interesse, wenn ich auch bei Weitem nicht alles verstehen kann, denndie Wissenschaft schreitet hierin einem atemberaubenden Tempovoran. Doch im Großen und Ganzen ist mir natürlich klar, worum es geht.
Velichko: In diesen neun Jahren haben Sie angefangen zu schreiben. Erinnern Sie sich vielleicht noch an Ihren ersten richtigen Text?
Ulitzkaja: Vor Kurzem erst habe ich wieder in mein Archiv geschaut – das ist ein großer Schrank – und gesehen, wie viele Theaterstücke ich geschrieben habe. Übrigens sind damals einige Kinderbücher veröffentlicht worden. Ich habe Drehbücher für Zeichentrickfilme geschrieben. Es war eine Zeit des Lernens, und zwareines ganz bewussten Lernens. Ich schaffte es in keine Schule, aber ein oder zwei Jahre besuchte ich Seminare im „Haus des Films“. Da habe ich viel gelernt. Ein paar ausgezeichneteTrickfilmzeichner gaben dort Unterricht für Zeichentrick-Drehbücher.
Velichko: Gab es [dort] jemanden, der für Sie wichtig war?
Ulitzkaja: Da war Andrei Jurjewitsch Chrschanowski, der die Drehbücher analysierte, und Golowanow. Die waren wirklich markant. Der sowjetische Zeichentrickfilm war damals absolut erstklassig.
Velichko: Wann haben Sie angefangen, als Chefdramaturgin im Theater zu arbeiten und worin bestand Ihre Arbeit?
Ulitzkaja: Das war im Jahr 1979. Ich kam durch einen irrwitzigen Zufall an die Stelle. Ein „Chefdramaturg“ muss das Repertoire überwachen und zum Teil auch erstellen, was wiederum Aufgabe des Regisseurs ist. Verschiedene Korrespondenzen. Viel Papierarbeit, ein bisschen Arbeit mit der Truppe. Es war sehr interessant. Nach drei Jahren Arbeit in diesem Theater hätte ich auch in jedem anderen Theater arbeiten können. Außerdem schrieb ich damals Stücke. Bis heute schreibe ich manchmal noch Stücke, die Liebe zum Theater ist mir geblieben.
Velichko: Was gefiel Ihnen am besten am Theater und was gefiel Ihnen am wenigsten? Mochten Sie das menschliche Miteinander?
Ulitzkaja: Nein, menschliche Beziehungen sind am Theater immer katastrophal. Eine Schlangengrube – in jedem Theater, egal wie groß oder klein, herrschen schwierige und angespannte Verhältnisse. Schauspieler sind ruhm- und geltungssüchtig und kämpfen ständig um ihren Platz an der Sonne. Ganz selten gibt es Theater, in denen es menschlich und freundschaftlich zugeht. Das Theater ist kein leichter Platz zum Leben. Aber irgendwie kam ich zurecht. Eigentlich waren das die einzigen drei Jahre, in denen ich fest angestellt war. Später hatte ich nie wieder eine Festanstellung. Ich liebe das Theater als Zuschauerin, die hingeht und ein Stück anschaut. Aber hinter den Kulissen geht es doch recht hart zu.
Velichko: Sie haben heute [bei der Präsentation Ihres neuen Buches, des Erzählungsbandes „Über den Körper der Seele“, nach der das Interview geführt wurde] von Poesie und Gedichten gesprochen, die Sie auch schon in jungen Jahren zu schreiben begonnen hatten. Wann haben Sie angefangen, Prosa zu schreiben und wie haben Sie das Schreiben von Prosa gelernt?
Ulitzkaja: Wissen Sie, als ich anfing zu schreiben, begann ich auch zu schreiben. Ich habe immer Tagebücher geschrieben, Notizen gemacht. Das hat mir Spaß gemacht.
Velichko: Sie sagten mal, dass alle Menschen Tagebücher schreiben sollten.
Ulitzkaja: Ja, das tut in vielerlei Hinsicht gut. Der Mensch formuliert dann seine Gedanken, betrachtet sein Lebensumfeld und zieht seine Schlüsse. Beim Schreiben ist der Mensch gezwungen, Situationen zu überdenken.
Velichko: Lesen Sie manchmal in Ihren alten Tagebüchern?
Ulitzkaja: Ja, und zwar mit großem Interesse. Man begreift dann, wie man sich selbst verändert und wie sich die Zeiten ändern. Erst vor Kurzem habe ich wieder viel in alten Tagebüchern gelesen, das ist wirklich spannend.
Velichko: Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie auch Ihre alten Texte nochmal lesen. Wie finden Sie sie?
Ulitzkaja: Unterschiedlich. Manches gefällt mir. Vieles habe ich schlichtweg vergessen. Und es sind gute undansprechendeSachen dabei.
Velichko: Hatten Sie vielleicht eine unerwartete Entdeckung? Einen Text, den Sie im Nachhinein richtig gut fanden?
Ulitzkaja: Nein. Mit manchem war ich einfach zu spät dran. Die Themen waren dann schon ausgearbeitet, ich hätte früher damit herauskommen sollen. Aber junge Autoren haben es schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Aber das macht nichts. Ich freue mich über das, was ich gut gemacht habe.
Velichko: Wie wurden Sie dann schließlich doch bekannt? Über das Kino oder über die erste Veröffentlichung, die ja im Ausland stattfand?
Ulitzkaja: Mein erstes Buch kam 1993 heraus. Auf Französisch, nicht auf Russisch, im Verlag [Éditions] Gallimard, ganz zufällig. Auf Russisch wurde es 1994 veröffentlicht.
Velichko: Wie kam es denn dazu, dass Ihr erstes Buch auf Französisch veröffentlicht wurde?
Ulitzkaja: Damals arbeitete meine Freundin in Frankreich. Sie nahm das Manuskript mit und zeigte es einer Übersetzerin, die sie kannte und die für den Verlag Gallimard arbeitete. Die Übersetzerin mochte das Manuskript und brachte es zu Gallimard. Und dann bekam ich einen Vertrag per Post, der mich wirklich umwarf. In Russland hatte ich verschiedene Veröffentlichungen in Zeitschriften. Und hier kam jetzt der Verlag Gallimard zu mir, der beste und bekannteste in ganz Frankreich, und wollte mein Buch veröffentlichen. Das war natürlich toll.
Velichko: Wann waren Sie zum ersten Mal im Ausland? Was können Sie darüber erzählen?
Ulitzkaja: Zu Studienzeiten war ich in Polen. Das war 1965, glaube ich. Ich habe dort nichts Besonderes gesehen. Es war eine Gruppenreise für Studenten mit einer Aufsicht vom KGB. Ziemlich unangenehm.
Velichko: Was war Ihre erste Reise, mit der Sie besondere Erinnerungen verbinden?
Ulitzkaja: Seit Ende der 80er Jahre war ich oft in Amerika. Später haben dann meine Kinder dort gelebt und studiert, so ungefähr zehn Jahre. Gelebt habe ich nie in New York, aber ich war oft dort.
Ulitzkaja: Verstehen Sie, damals war es so: wenn man aus der Sowjetunion ins Ausland reiste, erfuhr man gar nicht so viel über das Land, in das man reiste, sondern viel mehr über das Land, aus dem man kam. Der Unterschied zwischen dem Leben in Amerika und dem in Russland war viel beeindruckender als alles, was ich vom Leben in Amerika erfuhr. In den etwa anderthalb Monaten, die ich dort verbrachte, hätte ich auch nicht viel mitbekommen können. Aber in dieser Zeit verändert sich der Blick auf das eigene Leben ganz kolossal.
Viele zog es zu jener Zeit nach Amerika. Es schien das beste Land der Welt zu sein. Später änderte sich das wieder. Ich wollte dort nicht leben, doch was ich dort zu sehen bekam, hat mich natürlich sehr beeindruckt. Ich weiß noch genau, wie ich Ende der 80er Jahre aus Amerika nach Hause kam und zwei Taschen voller Lebensmitteldabei hatte, die ich dann auf dem Tisch auspackte. Der Junge von nebenan, fünf Jahre alt, kam dazu und sagte: „Ich hab’s gleich erkannt: das ist Käse.“ –ererkannte den Käse nur, weil er wusste, dass ein solches Produkt existierte.
Endlose Schlagen in den Geschäften und leere Regale – und dann dieses Amerika mit seinem Überfluss – der Kontrast warkrass. Ich war in der Universität und habe gesehen, wie dort unterrichtet wird – unglaublich … Später hat dann mein Sohn an der Columbia University studiert. Neben dem Studium hat er gearbeitet.Er hatte es schwer, denn wir hatten überhaupt kein Geld. Aber er hat sich tapfer geschlagen und hat sein Studium an der Columbia University abgeschlossen.
Velichko: Was ist Ihre erste Reise nach Europa, an die Sie sich erinnern?
Ulitzkaja: 1990 nach Paris.
Hatten Sie einen besonderen Bezug zu Paris?
Ulitzkaja: Sowohl zu Amerika als auch zu Paris. Ich war mal mit einem Amerikaner verlobt. Geheiratet habe ich ihn nicht, aber nach der Trennung sind wir gute Freunde geblieben. Er ist ein toller Mensch mit einem ungewöhnlichen Lebenslauf: er ist Franzose, Amerikaner und Russe, da kommt viel zusammen. Er war es, der mich zu meiner ersten Amerikareise einlud. Später ließ er meinen älteren Sohn bei sich wohnen.
Er starb bei einem Autounfall. Vorher sind wir noch gemeinsam nach Aix-en-Provence in Frankreich gefahren, wo er wohnte. Diese Zeit ist ein wichtiger Abschnitt meines Lebens: Europa und auch Amerika wurden mir von Menschen gezeigt, die sie wirklich gut kannten und um die Vorteile wie auch um die Nachteile wussten. Mein ehemaliger Verlobter stammte aus einer russischen Emigrantenfamilie, deshalb sah er die Welt weder einseitig noch zweidimensional, sondern sehr differenziert.
Velichko: Sie erhielten eine französische Auszeichnung: den Orden der französischen Ehrenlegion.
Ulitzkaja: Bevor ich den Orden der Ehrenlegion bekam, erhielt ich noch den Prix Medicis für das zweite Buch, das dort veröffentlicht wurde, die Erzählung „Sonetschka". Das ist ein wichtiger Literaturpreis für den besten übersetzten Roman des Jahres. Das wird vermutlich 1996 gewesen sein. Danach habe ich noch zwei französische Orden bekommen, und dann schließlich den der Ehrenlegion. In Deutschland und in Frankreich waren meine Bücher recht beliebt.
Velichko: Und dennoch haben Sie gesagt, Ihr liebster Preis sei der der Stadt Budapest.
Ulitzkaja: Ja, weil das ein Land ist, in dem die Häuser noch Spuren von sowjetischem Beschuss tragen. Ich spreche nicht von deutschem Beschuss sondern von sowjetischem. Und deshalb ist das Verhältnis der Ungarn zu Russland eher angespannt. Als sie mir den Preis gaben, war mir bewusst, dass das ein großer Sieg der Kultur ist. Die Kultur siegte hier über die Politik, und das war für mich ungeheuer wichtig.
Velichko: Wie haben Sie Europa empfunden, als Sie Ihre ersten Reisen dorthin unternahmen?
Ulitzkaja: Für mich begann Europa mit Paris. Meine erste Reise nach Paris sagte mir gar nichts. Ich hatte das Gefühl, zwischen Postkarten unterwegs zu sein, so fremd war mir die Stadt. Später aber, als ich häufiger dort war, wurde Paris natürlich freundlicher und interessanter. Ich fand auch Freunde. Eine Stadt besteht ja nicht nur aus Gebäuden sondern vor allem aus Menschen. Und wenn man Freunde hat in Paris, dann sieht die Sache schon ganz anders aus.
Velichko: Worin zeigte sich Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa?
Ulitzkaja: Es gab überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Wir lebten in armseligen Verhältnissen und in Gemeinschaftswohnungen. Die eine Hälfte vom Tisch nahm die Dissertation von Vater oder Mutter ein, auf der anderen stand die Pfanne. Es gab nur ein Zimmer. Bei allen war es so. Das Leben in Europa hat überhaupt keine solche „gemeinschaftliche“ Komponente, dort wird die Würde des Menschen einfach viel mehr geachtet. Natürlich fällt das gleich auf. Außerdem gab es in meinem Bekanntenkreis recht viele Christen, die dem Leben in der Sowjetunion mit viel Demut begegneten.
Velichko: Sie betrachten Europa und die UdSSR als Gegensätze? War Moskau zu irgendeinem Zeitpunkt europäisch?
Ulitzkaja: Nein, nie. Es gab eine russische Kultur, die natürlich deutlich enger mit Europa verbunden war als die sowjetische Kultur. Von klein auf habe ich Pasternak sehr geliebt, und er war zweifelsfrei Europäer. Er hatte in Deutschland Philosophie studiert. Seine Sprachkenntnisse waren hervorragend. Die russische Literatur des Silbernen Zeitaltersistnatürlich eigenständig, doch mit einem guten Maßeuropäischen Backgrounds ist sie einfachgroßartig. In gewisser Hinsicht ist die sowjetische Literatur als klarer kultureller Abstieg zu betrachten. Allerdings gibt es auch dort Interessantes. Letzen Endes ist die russische Avantgarde doch eine höchst bemerkenswerte und durch und durch russische Erscheinung. Aber Europa sind wir nicht nähergekommen.
Velichko: Bis heute.
Ulitzkaja: Ja, natürlich.
Velichko: Sehen Sie dabei Moskau und Sankt Petersburg eigentlich irgendwie anders?
Ulitzkaja: Ganz klar ja, der Unterschied ist sehr groß und dynamisch. Petersburg und Moskau sind nicht mehr die Gegenpole, die sie einmal waren. Und doch: jedes Mal, wenn ich nach Petersburg fahre, genieße ich diese Stadt. Sieflößt Respekt ein. Übrigens ist sie die einzige in ganz Russland mit vollendetem Architekturkonzept, d.h. nicht einfach eine Ansammlung von unterschiedlichen Häusern. Auch die Gesichter in Sankt Petersburg sind anders, deutlich mehr nordisch geprägt. Das Leben ist dort weniger hektisch.
Velichko: Sie haben mal gesagt, dass Sie niemals aktiver Teil einer Dissidentenbewegung waren, Briefe unterschrieben haben, Samisdat-Werke verteilt haben. Gleichzeitig aber können Sie sich als Dissidentin bezeichnen.
Ulitzkaja: Wenn Sie so wollen, können Sie mich als Dissidentin bezeichnen. Ich habe mich nie als eine gesehen. Aber ich war bekannt und befreundet mit Menschen aus dieser Bewegung. Und ich habe ihnen jede Art von Unterstützung gegeben, wenn sie sie brauchten.
Velichko: Würden Sie uns ein bisschen genauer erzählen, was Sie in jener Zeit gemacht haben? Was Sie verteilt haben?
Ulitzkaja: Mit Verteilung hatte ich nichts zu tun. Ich habe das kopiert, was ich interessant fand und was ich selbst haben wollte. Meine Freundin Natascha Gorbanewskaja war viel mehr involviert. Sie hatte viele Gedichte gerade in der Zeit, als es vier große Dichter gab, von denen niemand hätte sagen können, wer der erste unter ihnen wäre. Ich spreche von Brodsky, Bobyschew, Naiman und Rein. Die waren damals sehr populär.
Velichko: Wie war das Verhältnis Ihrer Familie zur Politik?
Ulitzkaja: Unsere Familie hatte immer unter der Staatsmacht zu leiden. Wir konnten sie nicht ausstehen. Mein Vater war Parteimitglied, mein Großvater hat ihn dafür ausgelacht. Illusionen hatten wir keine.
Velichko: Und in Ihrer jetzigen Familie?
Ulitzkaja: Im Leben meiner Söhne hat das Themakeinen Platz. Ich glaube, sie verabscheuen es genau wie ich. Und so sprechen wir nicht einmal darüber.
Velichko: Den Beginn des vergangenen Jahrzehnts nannten Sie in einem Interview den „Anfang vom Ende der Ära Putin“.
Ulitzkaja: Das war voreilig. Es ist mir rausgerutscht.
Velichko: Kürzlich waren Sie auf einer Kundgebung zum 10. August. Wie hat sich Ihr Eindruck von der Gesellschaft verändert?
Ulitzkaja: Ich mag sie. Ich habe den Eindruck, dass da eine öffentliche soziale Bewegung aufgewacht ist. Aber sie kann im Handumdrehen zerschlagen werden, denn noch nie war die Staatsmacht so hart und repressiv wie letztes Jahr.
Velichko: Was führte zu dieser Veränderung?
Ulitzkaja: Natürlich die Moskauer Prozesse. Verurteilungen von Menschen, die absolut unschuldig sind.
Velichko: Sie sprechen davon, dass die Bewegung zerschlagen werden kann. Aber gerade sagten Sie doch, dass Sie eine Verbesserung spüren.
Ulitzkaja: Das Volk wacht auf. Es hat sich eine öffentliche Meinung gebildet. Gleichzeitig nehmen aber auch die repressiven Kräfte enorm zu. Die Prozesse verlaufen parallel. Es ist absolut offensichtlich: je mehr freie Stimmen laut werden, desto mehr OMON haben wir auf den Straßen.
Velichko: Allgemein vermeiden Sie Politik als Thema. Verfolgen Sie denn politische Nachrichten? Auch darüber, was in Europa passiert?
Ulitzkaja: Ich nutze das Internet. Deshalb bekomme ich natürlich durchaus etwas mit. Ich kann nicht behaupten, das wäre mein Hauptinteresse, aber manches weiß ich eben.
Velichko: Wie nehmen Sie die Staatsmacht in europäischen Ländern wahr – zum Beispiel als häufige Italienreisende?
Ulitzkaja: Ich gehöre zu der vermutlich recht kleinen Kategorie von Menschen, die sich mit derStaatsmacht nicht anfreunden können, aber dennoch sehen, was passiert. Genauso halten es auch die Menschen, mit denen ich in Italien zu tun habe, oder in Frankreich, eigentlich überall, wo ich hinkomme. Das sind Menschen, die ihre Umwelt sehr wohl kritisch betrachten können. Das heißt nicht, dass alles schlecht ist – aber was schlecht ist, wird gesehen.
Velichko: Was meinen Sie damit?
Ulitzkaja: In Frankreich haben wir gewaltige Streiks gesehen. Ist das etwa gut? Es ist schlecht. Denn das Leben wird gestört, ich weiß nicht, wer da aktiv streikt. Aberich sehe, dass das normale Leben der Menschen dabei stillsteht. Und was wollen sie denn eigentlich? Denn Frankreich ist seinen Beamten gegenüberausgesprochen großzügig. Sie bekommen gute Gehälter und können nicht gekündigt werden. Ich bin wirklich keine Expertin für Politik, aber ich glaube, ein Großteil der Demonstranten will einfach ein bisschen mehr haben. Während bei uns im Land alle sehr wenig haben: Rentner, Behinderte… Ich möchte nicht sagen, dass diese Bewegung keine Daseinsberechtigung hat, aber für uns sieht das so aus, als wüssten sie nicht, wie gut es ihnen geht.
Velichko: Ein Politiker, von dem Sie gesagt haben, dass er Ihnen wohl sympathisch ist, ist Boris Nemzow. Sie nannten ihn mehrfach in Interviews. Gab es solche Politiker auf der Welt, in Europa?
Ulitzkaja: Ich beschäftige mich überhaupt nicht mit Politik. Diese Frage kann ich nicht beantworten. Diese Art von Menschen interessiert mich einfach nicht. Viel mehr interessieren mich Schriftsteller, Künstler oder Schauspieler. Politiker dagegen überhaupt nicht. Das ist eine ganz eigene Gattung Mensch, es geht ihnen um Macht und um Geld.
Velichko: Ist Kunst für Sie völlig abgetrennt von Politik?
Ulitzkaja: In manchen Punkten mag es Überschneidungen geben, in anderen nicht. Denn Kunst ist frei, und Politik ist parteiisch.
Velichko: Sie hatten von Reisen nach Frankreich erzählt. In den 90er Jahren waren Sie außerdem in Deutschland. Für den Aufenthalt hatten Sie ein Stipendium. Was haben Sie dort getan?
Ulitzkaja: Ich habe gearbeitet, meine Bücher geschrieben. Das war Arbeit mit einem deutschen Kulturträger. Es wurde viel Geld dafür ausgegeben, Autoren nach Deutschland zu bringen und ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten zu geben. Dafür bin ich sehr dankbar. Meine Bücher aus den 90er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts sind zum größten Teil in Deutschland geschrieben. Mein Nest in Italien hatte ich damals noch nicht, so war ich viel auf Stipendien angewiesen. Später fing ich an, Stipendien abzulehnen. Meine Bücher wurden schon gedruckt, und ich fand, dass nun an jüngere Leute mit Stipendien gefördert werden sollten.
Velichko: Also hat Ihre literarische Arbeit recht viel mit dem Ausland zu tun?
Ulitzkaja: Ja, ich habe viel gearbeitet. Mein Arbeitsmaterial ist russisch, aber manchmal war ich woanders. In Moskau fällt die Arbeit sehr schwer. Die Stadt ist laut und schnell und bringt ständig den Arbeitsplan durcheinander. Ich habe dort viele Freunde, bei denen dann irgendetwas passiert, wobei ich mitmache.
Velichko: Wo in Deutschland haben Sie gearbeitet?
Ulitzkaja: An verschiedenen Stellen. In so etwas wie unsere „Häuser des Schaffens“. Einmal in Feldafing, einem ziemlich kleinen Ort. Und einmal war ich in der Nähe von Berlin in einem Haus für Schriftsteller untergebracht. Ein Zimmer, ein Tisch, mehr nicht.
Velichko: Also ganz stille kreative Tage: aufwachen und am Buch arbeiten.
Ulitzkaja: Ganz genau. Niemand stört einen, man sitzt einfach da und arbeitet.
Velichko: Für Frankreich hatten Sie auch solch ein Stipendium bekommen.
Ulitzkaja: Ja zweimal glaube ich für Frankreich, einmal im Norden irgendwo und das zweite Mal in Paris. Für Deutschland dann dreimal.
Velichko: Abgesehen davon, dass dort keine Freunde um Sie herum waren, an deren Leben Sie hätten teilnehmen können – worin bestand für Sie damals der Unterschied zwischen Europa und Russland?
Ulitzkaja: Es ist so, dass man in Europa sehr gut leben kann. Besser als in Russland. Deshalb kann ich zum Vergnügen nach Europa fahren, dort reisen und Menschen treffen. Mein Leben aber findet in Russland statt.
Velichko: Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen ihre Mentalität ändern, wenn sie aus Russland in ein europäisches Land kommen?
Ulitzkaja: Nein, den Eindruck habe ich nicht. Vielleicht weildas Publikum sehr intellektuell ist; das Interessengebietbleibt gleich.
Velichko: In Ihrem Buch „Daniel Stein“ sagt einer der Helden: „Mein Leben lang beschäftigt mich das Thema der persönlichen Freiheit. Sie erschien mir immer als das höchste Gut.“ Ist das auch Ihre Meinung?
Ulitzkaja: Freiheit ist etwas sehr Persönliches. Für den einen Menschen bedeutet sie das eine, für einen anderen etwas anderes. Und in verschiedenen Lebensabschnitten sieht sie unterschiedlich aus. Für ein Kind, das im Kindergarten spielt, liegt die Freiheit auf der anderen Seite des Zauns. Es fühlt sich frei, wenn es von der Mutter oder Großmutter wegläuft, hinein in gefährlicheres und offeneres Gelände.
Ich habe das Gefühl, ein freier Mensch zu sein. Nichts hält mich zurück, nichts engt mich ein. Und es gibt nichts, was ich haben möchte, tun, essen oder anschauen möchte, aber nicht kann, weil mir die Freiheit dazu fehlt. Ich kann heute alles tun. Vielleicht fehlt mir das Geld, um zum Beispiel nach Mexiko zu fahren und die Bühnenpremiere eines bekannten Regisseurs zu sehen, denn das wäre schon sehr teuer, und auch nicht ganz einfach. Aber im Prinzip verspüre ich überhaupt keine Einschränkungen.
Velichko: Wann haben Sie davon am meisten gespürt? Und wie hat sich das mit der Zeit geändert?
Ulitzkaja: Zu Sowjetzeiten gab es überall Verbote. Heute glaubt uns kein Mensch, wie viele es waren. Sehen Sie, Grenzen umgeben den Menschen immer und überall. Manch einer lebt wie ein Tier im Käfig und hat nur sehr wenig Platz. Und ein anderer erkämpft sich einfach mehr Platz. Ich habe jetzt das Gefühl, so frei zu sein, wie ein Mensch nur sein kann. Und doch haben wir Grenzen: Grenzen, die uns das Alter setzt, oder die Sprache, oder auch die Gesundheit. Immer gibt es Grenzen, die deine Freiheit einschränken. Vor allem das Alter.
Velichko: Sie haben mal gesagt, dass Sie Gorbatschow nicht besonders mögen, und als Grund haben Sie bestimmte Ereignisse erwähnt.
Ulitzkaja: Politik hat mich nie interessiert. Gorbatschow war von allen vielleicht sogar noch der menschlichste. Er liebte seine Frau Raissa so sehr, und das wertetihn in meinen Augen auf. Menschlich interessanter wurde er allerdings vor allem nach seiner Amtszeit als Regierungschef. Solange er die Geschicke des Landes lenkte, war er nicht viel anders als all die anderen.
Velichko: Sie sagten mal, er „evolviere“.
Ulitzkaja: Ja, ganz ohne Zweifel.
Velichko: Teilen Sie die Menschen in bestimmte Kategorien ein? In „evolvierende“ und andere?
Ulitzkaja: Nein, ich würde nicht sagen, dass ich das so vereinheitliche.
Velichko: Hat sich Ihr Gefühl von Freiheit in seiner Zeit verändert oder eher in den 90er Jahren?
Ulitzkaja: Zu Sowjetzeiten gab es sehr viel mehr Einschränkungen verschiedenster Art. Als zum Beispiel gläubige Menschen nicht zur Kirche gehen konnten, weil jemand davon erfahren könnte, sie anzeigen könnte und sie dann ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Aber mich betraf das nicht besonders. Ich war nicht lange fest angestellt. So gesehen hatte ich mehr Freiheiten. Ich musste mein Verhalten nicht vom Parteikomitee messen lassen, nicht von der Gewerkschaft und nicht von Vorgesetzten. Jenes „Dreieck“, das auf Beurteilungen stehen sollte, hatte für mich keine Bedeutung.
Aber es ging mir nicht anders als meiner ganzen Generation. Beschränkungen gab es überall. Der Eiserne Vorhang bestand ja nicht nur im Hinblick auf Auslandsreisen, sondern er betraf zum Beispiel auch das Recht, die Wahrheit auszusprechen. Verstehen Sie, ich habe mich sehr früh aus der Gesellschaft zurückgezogen. Genau deshalb, weil ich nicht lügen und mich nicht verstellen wollte. Ich lebe jetzt schon viele Jahre in dem Luxus, weder Vorgesetzte noch Untergebene zu haben. Kein Mensch kann mir sagen „jetzt aber!“, niemand. Genau das wollte ich und habe durchaus darum gekämpft.
Velichko: Sie haben mal gesagt, dass jeder Mensch in der Zeit lebt, die er sich selbst aussucht. Und dass Sie in vielerlei Hinsicht in der Vergangenheit leben.
Ulitzkaja: Wir erschaffen uns die Zeit, in der wir leben. Wir mögen in derselben Stadt leben wie andere Leute, und doch nach ganz anderer Façon als sie. Im Wesentlichen richtet sich jeder Mensch sein Leben so ein, wie er es für nötig erachtet. Das hat nichts damit zu tun, dass das nicht jedem gelingt: mancher sitzt im Gefängnis und kann sich sein Leben nicht einrichten; und ein anderer ist vielleicht Tadschike und arbeitet als Hausmeister. In unserem Häuserblock gibt es durchaus Menschen, die nicht so leben, wie sie gerne möchten. Sie arbeiten als Hausmeister, obwohl sie studiert haben; sie schicken Geld nach Hause und ernähren damit ein ganzes Dorf. Sie erfüllen ihre Pflicht gegenüber der Familie, das verlangt Respekt. Glücklicherweise zwingt das Schicksal mich aber nicht dazu. Obwohl ich mich gut daran erinnere, wie ich in jungen Jahren an der Metronach Aushängen Ausschau gehalten habe: „Putzfrau für die Nachtschicht gesucht“ Denn für den einen Monat hatte ichwohl noch Geld, aber für den nächsten hätte es sein können…
Velichko: Wie haben Sie sich als Kind die Zukunft vorgestellt?
Ulitzkaja: Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich erinnere mich nur, dass ich als Mädchen in mein Tagebuch geschrieben habe: „Ich werde die Schule abschließen, Medizin studieren, mit 23 Jahren heiraten und ein Kind bekommen.“ Da war ich etwa 10.
Velichko: Wann haben Sie angefangen, sich die Zukunft vorzustellen?
Ulitzkaja: Ich lebe prinzipiell in der Gegenwart. Das Morgen kümmert mich wenig.
Velichko: Und das war immer so.
Ulitzkaja: Im Großen und Ganzen ja.
Velichko: Hätten Sie gern eine bestimmte Zukunft für Ihre Kinder?
Ulitzkaja: Vielleicht schon, aber dann kam es anders.
Velichko: Könnten Sie uns erzählen, was Sie sich gewünscht hätten?
Ulitzkaja: Wie das Leben so spielt. Mein älterer Sohn lebt in London und arbeitet in Moskau. Er ist ständig unterwegs. Er mag seine Arbeit, aber sein Leben ist dadurch so anstrengend. Drei Kinder in einer anderen Stadt – er verbringt schrecklich viel Zeit im Flugzeug. Und der jüngere arbeitet als Simultandolmetscher. Eigentlich ist er aber Musiker. Seinen Traum von der Musik konnte er leider nicht verwirklichen. Musik ist sein Lebensinhalt, aber er kann von ihr nicht leben. Sie gibt ihm Kraftund Freude. Nun gut, er ist trotzdem zufrieden. Glücklich und zufrieden. Aber es tut mir so leid, dass es mit der Musik nicht geklappt hat.
Velichko: Sie sprachen über ein Zukunftsszenario, das Sie gelesen haben: die Menschheit könne sich selbst zerstören. Man hat Sie gefragt, was in 30 Jahren sein wird. Gibt es da Unterschiede zwischen Russland und Europa?
Ulitzkaja: Nein, überhaupt nicht. Die Erde ist klein geworden, wir sind zusammengerückt. Jene Grenzen, die vor hundert Jahren noch wichtig waren, haben heute überhaupt keine Bedeutung mehr. 19-mal Tschernobyl vernichtet die ganze Welt. Über das Land verteilt stehen aber noch weitere 18 Kraftwerke mit dem gleichen Funktionsprinzip wie Tschernobyl.
Velichko: Sie haben auch gesagt, dass privates Engagement noch nie solch einen Aufschwung erlebt hat wie gerade jetzt. Was hat Sie zu dieser Meinung bewogen?
Ulitzkaja: In meinem Freundeskreis gibt es nicht einen Menschen, der sich nicht ehrenamtlich oder wohltätig engagiert. Das gab es noch nie. Und einerseits ist das ja auch sehr gut. Andererseits aber zeigt es auch, dass da viele Bereiche sind, in denen der Staat nicht mehr tätig wird. Die Menschen haben endlich begriffen, dass sie ihre Zeit, ihr Geld und ihre Energie einsetzen können, um das Loch zu stopfen, das der Staat hinterlassen hat. Und das ist großartig.
Velichko: Haben Sie mit der Zeit den Eindruck verloren, dass europäische Städte aus dem Märchenreich zu kommen scheinen?
Ulitzkaja: Sehen Sie, wir müssen die Welt planetarisch betrachten. Die Jugend von heute, die ich wirklich sehr mag, das sind Menschen, die sich aussuchen, wo sie am liebsten arbeiten möchten. Sie haben Sprachkenntnisse und lernen neue Sprachen sehr leicht. Ich sehe diese moderne Jugend überall auf der Welt. Sie studieren auch, wo immer sie möchten.
Im 19. Jahrhundert studierten dutzende Menschen in Heidelberg oder Marburg. Einige studierten auch in England, in Oxford oder Cambridge. Viele junge Leute aus Russland studieren heute im Westen. Und wenn sie fertig sind, sind sie vollwertig ausgebildete Fachleute und können arbeiten wo immer sie wollen. Sie suchen sich dann entweder eine besonders interessante Arbeit oder eine, die besonders gut bezahlt wird. Das ist eine Frage des Trends, der persönlichen Werte. Ich denke, dass die Zukunft genau diesen jungen Leuten gehört. Und wer in die Heimat zurückkommt, um hier zu arbeiten, braucht auch gewisse Bedingungen. Man muss ihnen die Möglichkeit für Kreativität geben und ein gewisses Maß an Freiheit.
Ich denke, in der heutigen Zeit tut der Staat nichts dafür, dass diese wunderbaren jungen Menschen jetzt wieder hierher zurückkommen. Ich glaube, wenn sich diese Situation einmal ändert, haben wir viel erreicht. Es gibt wirklich sehr viele junge gut ausgebildete Fachleute, die nicht hierher zurückkommen wollen. Ich mag diese Menschen, ich sehe in ihnen unsere Zukunft. In London habe ich einen jungen Mann aus Kasachstan kennengelernt.Er hat in England eine gute Ausbildung absolviert, macht dort jetzt seinen Doktor und will dann zurück nach Kasachstan. Das ist ein Modell, das mir sehr gut gefällt. Warten wir ab, wie es sich umsetzen lässt. Insgesamt bin ich froh und zuversichtlich, wenn ich mir die jüngere Generation ansehe, die viel weniger aggressiv ist als unsere und viel gebildeter. Und viel freier. Ich wünsche uns allen von ganzem Herzen, dass sich etwas bewegt.
Velichko: Sie haben mal gesagt: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Glaube eine höchst persönliche Angelegenheit ist.“ Wie hat sich Ihre Einstellung zum Glauben im Laufe Ihres Lebens verändert?
Ulitzkaja: Ich wurde in jungen Jahren getauft, und zwar durchaus bewusst. Die orthodoxe Kirche fristete damals ein katakombenartiges Dasein. Ich hatte nicht mit der offiziellen orthodoxen Kirche zu tun, sondern mit einem russischen Priester, der aus Frankreich zurückgekehrt war, und einigen russischen Remigranten. Danach war ich sehr froh, als es leichter wurde und die Kirche offiziell existieren konnte. Jetzt erfüllt sie mich eher mit Abscheu, sie ist politisch eingeknickt und hat ihre christlichen Ideale verloren. Meine heutige Scheidung mit ihr hat nichts damit zu tun, dass ich ein gläubiger Mensch bin. Aber offensichtlich vertrete ich diejenigen gläubigen Menschen, die keine formelle Ausgestaltung ihres Glaubens benötigen.
28. Dezember 2019, Sankt Petersburg