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„Strana Sascha“: ein Film über das Erwachsenwerden in Russland

Maria Matsel, Mark Eidelshtein im Film Strana Sascha
Maria Matsel, Mark Eidelshtein im Film Strana Sascha | © Vega Films

In der Sektion „Generation 14plus“ des Berliner Filmfestivals wurde der Bildungsroman „Strana Sascha“ (Engl. The Land of Sasha)  gezeigt – das Spielfilm-Debüt von Julia Trofimova aus Russland. Es ist ein ironischer und einfühlsamer Film über das Erwachsenwerden, dem es gelingt, reifer zu sein als seine Hauptfiguren – und doch nicht so reif, dass er bei ihnen genervte Langeweile hervorrufen würde.
 

Von Egor Moskvitin


Der 17-jährige Sascha (Mark Eidelshtein) lebt mit seiner Mama Sofia (Evgeniya Gromova) in einem ruhigen Örtchen am Meer und versucht, das Erwachsenwerden hinauszuzögern: er möchte sich für keine Universität entscheiden, schiebt die Aussprache mit seiner in ihn verliebten Klassenkameradin auf (Alisa Tarasenko), hat keine Probleme damit, andere anzulügen und weiß ganz grundsätzlich nicht, was er vom Leben will. Und dann gehört Sascha auch noch einer neuen Generation an, die sehr gut erfassen kann, was mit ihr vorgeht. Er dreht unerwartet das Gesicht zur Kamera, sieht das Publikum direkt an und erzählt voller Selbstironie, dass eines seiner Probleme darin besteht, seinen Vater noch nie gesehen zu haben. Saschas Mama ist bewusst, dass sie keinen Druck auf ihn ausüben sollte, doch sie kann sich Manipulationen nicht verkneifen. Der Junge vergleicht sich selbst scherzhaft mit einer Prinzessin, die von einem Drachen in einem Turm festgehalten wird – und nach dem Gesetz des Märchens taucht auch sofort ein Rittersmann auf.

Es ist die schüchterne Zhenya (Maria Matsel), die im Umgang mit Unbekannten unter Panikattacken leidet, aber ganz sicher weiß, was sie einmal werden will – und zwar Designerin. Und Sascha, der sehr gut zeichnet, könnte doch gemeinsam mit ihr nach Moskau oder Sankt Petersburg fahren – man müsste sich eben nur einmal aufraffen.
 

ДDarya Rumyantseva, Evgeniya Gromova, Mark Eidelshtein im Film „Strana Sascha“ Darya Rumyantseva, Evgeniya Gromova, Mark Eidelshtein im Film „Strana Sascha“ | © Vega Films


Der Bildungsroman ist in Literatur wie im Film ein Genre, das mehr als andere unter der Perestroika der russischen Kultur in den vergangenen dreißig Jahren gelitten hat. Dieser Gedanke ist noch schmerzhafter, je mehr sensible, aufmerksame und engagierte Filme für Jugendliche auf weltweiten Festivals zu sehen sind: in Tallinn, auf dem US-amerikanischen „Sundance“ und ganz besonders in Berlin. Umso schöner ist es dann zu beobachten, dass in den letzten Jahren das Eis zwischen den Generationen in Russland zu schmelzen beginnt. Es gibt immer mehr Filme für junge Männer und Frauen, die nicht in einer Dialektik der Erwachsenen gedreht wurden, sondern in einer der „Jugendlichen von gestern“. Fast alle diese Filme zeichnen sich durch eine Leichtigkeit und Ironie aus, die manche an die lyrischen Komödien der UdSSR erinnern; manche aber auch an die zurückhaltende Dramaturgie des „Sundance“-Festivals. Man kann sich eben in Jugendliche einfühlen, ohne sich dabei sonderlich abzurackern und ohne ihre Probleme zu bewerten – und das gelingt Filmen wie „Call me Blackbird“ und „Pyervyj sneg“ („Der erste Schnee“), in dem übrigens der Schauspieler Mark Eidelshtein ebenfalls kurz zu sehen war, außerordentlich gut.

Gleichzeitig macht die russische Kinematographie aber auch keinen Bogen um die Dinge, die noch viel schlimmer sind als die Wahl der falschen Universität. Es stimmt schon, dass zeitkritische Filme es nur selten bis zur nationalen Ausstrahlung schaffen und oft eben nur auf internationalen Festivals zu sehen sind. Auf dem kanadischen „FanTasia“-Festival wurde im letzten Jahr der russische Thriller „#Hochuvigru“ („#Willinsspiel“) gezeigt – eine Geschichte über Gruppen in sozialen Netzwerken, die Kinder zum Suizid animieren. Und auf Festivals in Tallinn und Warschau wurde kürzlich der Film „In Limbo“ vorgestellt, ein Fragment nach Motiven der Tragödie von Schüler*innen, die live in sozialen Netzwerken Selbstmord begingen.

Ein Jahrmarkt neuer Talente


Da der Film auf dem Buch „Strana Sascha“ von Gala Usrjutova basiert, könnte man meinen, ihm solle ein leichter Start gelingen. Es ist ein mitreißender Film mit klarem Sinn und lakonischer Filmsprache, vor allem aber – was das Wichtigste ist – voller jugendlicher Energie und mit frischen Gesichtern. Das Durchschnittspublikum erinnert sich beim Ansehen dieses Films an den einen besonderen Sommer zwischen Schulabschluss und Universität. Und das professionelle Publikum möchte sich gleich den Namen der Filmproduktion notieren.

Mark Eidelshtein ist ein Schauspieler, der zusammen mit Denis Vlasenko die Nachfrage des gesamten russischen Films an jugendlicher Brüchigkeit erfüllt. Und er entscheidet sich so gezielt für Independent Filme, dass er, ehe man sich´s versieht, zu einem russischen Finn Wolfhard oder Timothée Chalamet werden könnte. Übrigens hat Wolfhard gerade im Regie-Debüt des Schauspielers Jesse Eisenberg mitgespielt: im Film „When you Finish Saving the World“, dessen Sujet 1:1 vergleichbar ist mit „Strana Sascha“.

Die in Minsk geborene 20-jährige Maria Matsel möchte man – wenn wir schon mal beim Vergleichen sind – am liebsten in die US-amerikanische Serie „Euphoria“ einschreiben: wie Zendaya Coleman zeigt sie eine jugendliche Unvollkommenheit, die aber auf der Position der Kämpferin und nicht des Opfers basiert. Und dann ist da noch Evgeniya Gromova aus dem Film „Verlangen“, um den in Russland ein kleiner Kult entstanden ist, die auf rührende Weise eine junge Mutter darstellt. Ihre vergleichsweise kleine Rolle macht den Film interessant und fruchtbar – nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Kidults. Das ist wichtig, denn eine „zweigeschössige Dramaturgie“ – die Kompetenz, mehrere Altersgruppen zugleich anzusprechen – ist zu einer Notwendigkeit des Independent Film geworden. Diese Aufgabe meistert beispielsweise der US-amerikanische Film „Cha Cha Real Smooth“, der vor ein paar Wochen den Publikumspreis auf dem „Sundance“-Festival gewann, ausgezeichnet. Auch in seinem Zentrum steht eine junge Mutter, die von Jugendlichen flankiert wird.
Mark Eidelshtein, Maria Matsel im Film „Strana Sascha“ Mark Eidelshtein, Maria Matsel im Film „Strana Sascha“ | © Vega Films

Nach der Berliner Premiere sollte man Julia Trofimova im Auge behalten, eine junge Regisseurin und Drehbuchautorin aus Russland, die an der New York Film Academy gelernt hat, fließend Englisch spricht und sich in ihrem Schaffen auf Noah Baumbach und Thomas Anderson bezieht.

Der Film „Strana Sascha“ sieht sich im Unterschied zu bestehenden Staaten mit keinerlei Grenzen konfrontiert. Das ist besonders wichtig in einer modernen Welt, in der die Erziehung des neuen Menschen zur fixen Idee von Streaming-Plattformen und Filmgesellschaften geworden ist.
 

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