„Lassen wir dieses ewige Vergleichen mit anderen Lebensphasen“
Wodurch zeichnet sich das Altern in Deutschland aus, welchen Ängsten begegnet man vor dem Rentenbeginn und wie geht man am besten mit Altersdiskriminierung um? Darüber hat Korrespondentin Anna Laletina mit Hans-Werner Wahl, Psychologe und einer der Direktoren des Netzwerks Alternsforschung der Universität Heidelberg, gesprochen.
Von Anna Laletina
Welche Besonderheiten des Alterns gibt es in Deutschland in sozioökonomischer und kultureller Hinsicht? In Russland besteht die Annahme, deutsche Senioren hätten nahezu keine Probleme, weit verbreitet. Man denkt, ihre Renten seien hoch, sie reisten viel, seien gesundheitlich gut versorgt. Dabei ist diese Sicht sicherlich einseitig.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass derart idealisierte Vorstellungen in Russland kursieren. Wahrscheinlich sind sie auch ein Stück weit berechtigt. Wir haben in Deutschland eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt. Viele sind materiell abgesichert, die Wohnverhältnisse gut, die Kranken- und Pflegeversicherungen umfassend und das Gesundheitssystem im internationalen Vergleich sehr gut.
Das sind alles Dinge, die für die Lebensqualität im Alter sehr wertvoll sind, aber meiner Meinung nach dürfen wir uns darauf nicht ausruhen. Dazu passt die typisch deutsche Aussage des ‚Jammerns auf hohem Niveau‘, aber einige Punkte bereiten mir dennoch Sorgen. Ein großes Problem ist zum Beispiel die Altersarmut in Deutschland: sie steigt aufgrund der alternden Bevölkerung und der veränderten Arbeitsverhältnisse. Ein großer Teil der Bevölkerung ist prekären Arbeitsverhältnissen ausgesetzt; diese Menschen sind natürlich weniger gut abgesichert, was auch im Alter noch eine wichtige Rolle spielen kann. Die Menschen werden immer älter, müssen dafür aber auch länger gepflegt werden. Zudem ist in Deutschland auch die Altersdiskriminierung ein Problem und Grund zur Sorge. Und das allumfassende Thema der Digitalisierung, die Veränderung der Gesellschaft durch digitale Medien, darf nicht vernachlässigt werden. Wir scheinen die Älteren bei der Digitalisierung ein Stück weit zu vergessen. In diesem Zusammenhang ist die Solidarität zwischen den verschiedenen Generationen nicht so ausgeprägt, wie ich es mir wünschen würde.
Ganz pauschal gesagt: Welche Ängste sind in Deutschland eng mit dem Altern verbunden?
Sehr aktuell ist natürlich die Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19. Man sieht sich als älterer Mensch der Gruppe zugehörig, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist. Bewohner*innen der Pflegeheime mussten für einige Zeit isoliert werden, was für einige sicherlich sehr schwer war. Tief verwurzelt ist auch die Angst, pflegebedürftig zu werden und ins Heim übersiedeln zu müssen, was nicht auf der Wunschagenda der meisten älteren Menschen steht. Die Angst vor Demenz ist auch weit verbreitet. Studien zeigen, dass die Angst vor Demenz an dritter Stelle der Krankheitsängste bei den über 55-Jährigen steht, nach Krebs- und kardiovaskulären Erkrankungen. Des Weiteren kommt zunehmend die Angst vor Verarmung und Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung auf.
Sie haben bereits erwähnt, dass es in der deutschen Gesellschaft Diskriminierung gegenüber älteren Menschen gibt. Diesen sogenannten Ageism gibt es wahrscheinlich überall auf der Welt. Wie macht sich Altersdiskriminierung speziell in Deutschland bemerkbar?
Grundlegend ist es wirklich ein weltweites Phänomen. Es scheint in asiatischen Ländern etwas seltener der Fall zu sein, aber insgesamt beobachten wir international doch eine nennenswerte Ausbreitung der Altersdiskriminierung, was natürlich ein Paradox ist, weil es immer mehr ältere Menschen auf der Welt gibt. Es ist eigentlich schrecklich sich vorzustellen, dass diese immer größere Gruppe diskriminiert wird.
In Deutschland sehen wir zudem Probleme im Gesundheitssystem. Manchmal werden ältere Menschen, vor allem in Allgemeinkrankenhäusern, ignoriert oder als Störfaktor gesehen. Das Alter beeinflusst auch medizinische Entscheidungen, obwohl es natürlich gesetzlich verboten ist. Ich spreche von Entscheidungen wie der Frage nach dem Nutzen von Hüftgelenkoperationen bei über 80-Jährigen. Niemand würde das aber öffentlich zugeben.
Ich denke auch, dass in der ersten Phase der Corona-Krise, gerade in der Lockdown-Phase, die Altersdiskriminierung bei uns stark ausgeprägt war. Sehr viel wurde am biologischen Alter festgemacht. “Die Alten sind diejenigen, wegen derer wir jetzt zu Hause bleiben müssen”, “Natürlich müssen die Alten zurücktreten, wenn es um Betten auf der Intensivstation geht” – solche Aussagen hat man auch in Deutschland gehört, was auch nichts Anderes als Altersdiskriminierung ist. Es stimmt einfach nicht, dass alle alten Menschen Risikopersonen sind, denn ein größerer Teil der über 65-Jährigen hat ein ähnliches niedriges/hohes Risiko zu erkranken oder gar zu sterben wie z.B. die 40 bis 64-Jährigen, bei denen ja auch schon oftmals bedeutsame Vorerkrankungen gegeben sind.
Ein ganz anderer Bereich ist die Vergabe von Krediten. Es ist nicht ganz einfach, als über 70-jährige Person noch einen Kredit zu erhalten. Heute, wo viele Menschen sehr alt werden, lebt man mit 70 Jahren im Mittel noch 15-20 Jahre, aber viele Banken sind hier sehr restriktiv und haben anscheinend noch nicht erkannt, dass es längst eine neue Gruppe von älteren Bankkunden*innen gibt.
Beeinflussen die Diskriminierungserfahrungen das Selbstbild der Älteren, und wenn ja, wie? Führen diese Diskriminierungserfahrungen zur Selbststigmatisierung?
Man könnte natürlich sagen: ok, solche Diskriminierungen gibt es, aber ältere Menschen überhören einfach diese Dinge und lassen sich gar nicht davon beeinflussen. Wir wissen aber aus vielen Studien, dass solch stigmatisierende Aussagen bei Älteren auf sehr ‚fruchtbaren‘ Boden fallen, d.h. sie werden als Selbststereotypisierung übernommen. Die nicht zuletzt auch durch wissenschaftliche Befunde aufgebauten positiven Bilder des Älterwerdens, die vermitteln, dass es auch spät im Leben noch Chancen und Potenziale gibt, können damit sehr schnell wieder zunichte gemacht werden. Wir wissen auch, dass negative Stereotype über das Altern schnell und subtil ausgelöst werden und damit ihre ungute Wirkung eher unbewusst entfalten.
Wie spiegeln Medien das Älterwerden wider? Und was wünschen Sie sich von der medialen Repräsentation älterer Menschen?
Im Zuge früherer Studien in Deutschland, aus den 1960er und 70er Jahren, hat man herausgefunden, dass das Alter sehr stereotyp negativ dargestellt wurde. Heute hat sich das etwas gewandelt; wir haben mittlerweile auch viele positive Bilder des Alters. Aber es gibt leider auch so etwas wie Karikaturen des neuen Alters: also, die super entspannten, die super leistungsfähigen, die super sportlichen, die durch die Welt jettenden, sich auf großen Kreuzfahrtschiffen befindenden Älteren, die scheinbar ihre tollste Lebensphase erleben. Das ist nicht hilfreich und überzieht einfach über Gebühr positive Sichtweisen. Am Ende sagen wahrscheinlich viele ältere Menschen: das hat nichts mit mir zu tun, das ist alles Unsinn, mein Altern sieht doch ganz anders aus. Also, wir haben zwar eine gewisse positive Entwicklung im Hinblick auf differenzierte und zutreffende Altersbilder, aber es gibt auch viele Zerrbilder.
Medien sind gleichzeitig weiterhin sehr jugendorientiert, vor allem das Fernsehen, obwohl es ein Medium ist, das von Älteren heute sehr viel intensiver rezipiert wird als von Jüngeren. Im deutschen Fernsehen beobachten wir z.B. seit einiger Zeit eine Allgegenwärtigkeit von Kriminalfilmen – und da sind oftmals ältere Menschen diejenigen, die keine guten Zeugenaussagen machen, die vergesslich sind, die ein bisschen sonderlich sind, bei denen schnell eine Demenz unterstellt wird. So werden Defizitbilder des Älterwerdens weiter öffentlich inszeniert, und das ist natürlich nicht gut.
Ich glaube, dass Altersdiskriminierung stark mit Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und/oder chronischen Krankheiten) verbunden ist; um die Altersdiskriminierung zu bekämpfen, sollte man daher auch dem Ableismus den Kampf ansagen. Erst wenn man versteht, dass das Leben an sich, auch wenn man wahrscheinlich nicht ganz gesund ist, lebenswert ist, kann man sein Altern akzeptieren. Meiner Meinung nach muss man daher intersektional vorgehen. Wie sehen Sie das? Was muss man tun, um gegen Ageism zu kämpfen?
Intersektionalität, also die Überschneidung unterschiedlicher Diskriminierungen, ist auf jeden Fall ein gutes Stichwort. Alter und weiblich unterliegt z.B. stärkeren Diskriminierungen und Alter, weiblich und Demenz wohl noch einmal stärkeren. Hier kommt dann Altersdiskriminierung, Diskriminierung gegenüber Frauen und gegenüber mentalen Erkrankungen zusammen.
Dies alles erfordert Handeln auf den unterschiedlichsten Ebenen. Besonders die Politik sehe ich hier in der Verantwortung: Welches Altersbild wird in politischen Diskursen vermittelt? Sprechen die Politiker*innen die Senior*innen z.B. vor allem als Menschen an, die das Gesundheitssystem belasten? Wir sollten von Politiker*innen erwarten, dass sie ein ausgewogenes und differenziertes Bild des Älterwerdens vermitteln.
Große Sensibilität und eine Art Selbstkontrolle in den Medien ist ebenfalls wichtig. Nicht selten finden sich z.B. in Tageszeitungen weiterhin Aussagen, dass die Alten vergesslicher und kränklicher sind, als ob dies eine jedem bekannte Wahrheit wäre.
Sehr wichtig ist es auch, ältere Menschen selbst zu Wort kommen lassen und mit paternalistischen Haltungen im Sinne, man wüsste ja schon, was Ältere brauchen, aufhören. Ältere Menschen haben hier allerdings auch selbst eine Aufgabe: sich nicht alles gefallen lassen, das Wort erheben, Verbände, Seniorenvertretungen, auch Rechtswege einschalten.
Es gibt aber auch deutliche positive Entwicklungen: Wir beobachten, dass in Deutschland Ältere immer wichtigere Marktteilnehmer*innen und Konsumenten*innen werden. Sie kaufen beispielsweise Reiseprodukte, Wohnprodukte und Gesundheitsprodukte. Ich erwarte, dass Altersdiskriminierung schon bald geschäfts- und unternehmensschädlich sein wird. Die Unternehmen, die jetzt nicht dafür sorgen, dass sie den demokratischen Wandlungsprozess in ihrem Unternehmen umsetzen, werden in 20 Jahren – das wäre meine Prognose – Wettbewerbsnachteile haben, weil sie einfach nicht verstanden haben, die alternde Erwerbsbevölkerung auch entsprechend in ihre Unternehmenspolitik einzubauen.
Ganz allgemein müssen wir aufhören, Lebensphasen gegeneinander auszuspielen und stattdessen stärker im Blick behalten, dass jede Lebensphase ihre eigenen Gewinn- und Verlustaspekte hat. Lassen wir dieses ewige Vergleichen mit anderen Lebensphasen, vor allem mit dem jungen Erwachsenenalter und der angeblich verlorenen Jugendlichkeit.
In einem Interview haben Sie gesagt, dass „die völlig unterbezahlten Pflegerinnen und Pfleger jetzt endlich besser entlohnt werden müssen". Ich habe es für einen sehr wichtigen Punkt gehalten, weil ich die Abwertung gegenüber Berufen in der Infrastruktur des Alterns persönlich bedauere. Wenn Pfleger*innen gut verdienten, würde dies die Gesellschaft dazu anregen, den Beruf des Pflegers wieder mehr zu ehren. Meiner Meinung nach ist es eine Frage des Systems. Wie sehen Sie das?
Ich bin da absolut bei Ihnen und denke, dass es für alle Länder ein springender Punkt ist. In Deutschland werden Erzieher*innen und Altenpfleger*innen relativ schlecht bezahlt, obwohl sie zu den Berufen gehören, die für eine stark von der Ressource Bildung abhängige und eine immer weiter alternde Gesellschaft überaus zentral sind. Man will, dass Menschen optimal ins Leben treten und auch, dass sie optimal aus dem Leben scheiden. Diese Berufe müssen natürlich eine entsprechende Anerkennung finden. In der COVID-19-Krise wurde den Pflegekräften in Heimen eine einmalige Zuwendung bis zu 1000 Euro zugesprochen. Das ist eine schöne Geste, aber es muss eine langfristige Erhöhung des Lohnniveaus dieser Berufe geben. Deshalb hoffe ich, dass die aktuelle Krise uns endlich verstehen lässt, dass solche Berufe für eine alternde Gesellschaft unverzichtbar sind.
Sie sind 66 und haben theoretisch noch ein Jahr bis zum Renteneintritt vor sich. Welche Pläne und Erwartungen haben sie an diesen neuen Lebensabschnitt?
In akademischen Kreisen und erst recht als Professor ist man in einer in vielerlei Hinsicht privilegierten Situation. Dafür bin ich dankbar. Ich selbst bin jetzt Seniorprofessor der Universität Heidelberg, d.h. ich bin eigentlich technisch gesehen bereits im Ruhestand. Gleichzeitig habe ich aber weiterhin wichtige Rollen an der Universität Heidelberg. Forschungsprojekte gehen weiter. Aber ich möchte auch eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit finden. Ich will unsere Enkel intensiv sehen, will mit meiner Frau auch eine schöne Zeit und mehr Zeit als früher verbringen und auch Hobbies pflegen – ich spiele ein bisschen Geige, wir gehen gerne in Museen und Konzerte. Einerseits will ich also Aktivitäten, die mir wichtig sind, fortsetzen; andererseits möchte ich auch etwas gelassener werden und dem Job nicht mehr so viel Raum und Bedeutung geben. Ich glaube, es ist allgemein ein guter Rat für Menschen in meinem Alter, diese Balance in der jedem / jeder eigenen Weise zu finden.