Sergej Mochov: „Wir wollen das Alter unmerklich machen“
Der bekannte sowjetische Slogan „Das Wichtigste, Leute, ist es, im Herzen jung zu bleiben“ klingt im XXI. Jahrhundert überhaupt nicht mehr überzeugend: denn die, die es sich erlauben können, wenden nicht geringe Ressourcen dafür auf, nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit der Leber, der Niere und natürlich dem Gesicht „nicht zu altern“. So, wie der Gründer von VKontakte und Telegram, Pawel Durow, kürzlich der Presse vom „Geheimnis seiner Jugend“ berichtete, suchen Tausende von Menschen auf der ganzen Welt nach einem Weg, möglichst lang zu leben, also älter zu werden – sich dabei aber keinesfalls zu verändern, sondern sich zu verhalten und zu fühlen wie in ihrer Jugend. Und am besten wäre es eigentlich, überhaupt nicht zu sterben, sondern ewig zu leben – und sei es nur in Form eines digitalen Avatars.
Was steht hinter diesem Streben nach ewiger Jugend – und hinter dem Glauben an die Möglichkeit einer eigenen Unsterblichkeit? Kann man sich auf den Tod irgendwie vorbereiten? Wie spricht man über ihn – und mit wem? Wie findet man im Tod einen Sinn? Hierüber hat Polina Aronson mit Sergej Mochov, Anthropologe und Autor der Bücher „Geburt und Tod der Beerdigungsindustrie: von mittelalterlichen Gottesackern bis hin zur digitalen Unsterblichkeit“ und „Geschichte des Todes. Wie wir mit ihm kämpften und ihm begegneten“, gesprochen.
Von Polina Aronson
In entwickelten Ländern erreicht die Lebenserwartung heute Rekordwerte. Und gleichzeitig versuchen wir mit aller Kraft, uns altersbedingten Veränderungen entgegenzustellen, die sich im Körper oder der Psyche vollziehen. Warum ist es so, dass wir gleichzeitig lange leben wollen und solche Angst vor dem Alter haben?
Um diese Frage zu beantworten, müsste man sich Gedanken darüber machen, was genau wir uns denn erhalten möchten, wenn wir „gegen das Alter ankämpfen“. Ich denke, dass es vor allem darum geht, dass uns das Alter als ein schrittweiser Verlust des eigenen Selbst vermittelt wird, als der Verlust der eigenen Subjektivität. Der Tod ist bereits das Ende von allem, das Ende des Subjekts. Darum ist alles, was wir tun, darauf ausgerichtet, das Selbst so lange wie nur möglich zu erhalten – nicht nur die Jugend, sondern auch diese Art eines besonderen Zustands, in dem du risikolos für dich selbst viele Bedingungen vernachlässigen kannst. Du kannst dich zum Beispiel die ganze Nacht lang wie verrückt besaufen, Sex haben und morgens zur Arbeit gehen, als ob nichts gewesen wäre. Natürlich ist das cool und attraktiv, wir schätzen das alles und fördern es auch in jeder Hinsicht.
Wir wollen das Alter unmerklich machen. Sergej Semjonowitsch zum Beispiel (Sobjanin, der Bürgermeister von Moskau, Anm. d. Red.), fördert eine aktive Langlebigkeit: die Alten schwingen das Tanzbein und spielen Ringelreihen, und die Leute aus dem Wohnungsamt sorgen für gute Stimmung. Im Prinzip läuft das aber alles auf den Versuch hinaus, die soziale und die materielle Infrastruktur dahingehend anzupassen, dass du selbst nicht das Gefühl eigener Minderwertigkeit verspürst. Der Kampf gegen das Alter ist die Schaffung der Illusion, dass du immer noch ein liberales Subjekt bist, ein vollwertiges Mitglied der Konsumgesellschaft, das sich in jeder Hinsicht selbständig darum bemüht, das eigene Leben zu lenken.
Damit verständlich wird, um welche Illusion es hier geht, schlage ich vor, mit den extremsten Varianten anzufangen. Ein Hospiz zu Beispiel ist ein lebensverlängerndes Modell und gleichzeitig das Modell einer kontinuierlichen Wahl. Altenheime sind auch Institutionen, in denen der ganze Alltag dahingehend konzentriert ist, die Illusion eines weitergehenden Lebens zu erhalten, in dem es eben einfach nur keine Arbeit mehr gibt, keine produktive Arbeit, denn sie wurde durch angenehme Freizeit und Zeitvertreib ersetzt. Ganz allgemein gesehen hast du aber immer noch die Möglichkeit, dir das Gericht für Mittag- und Abendessen auszusuchen – das als absolutes Minimum – und über diesen Weg einer ständigen Wahlmöglichkeit wird die gesamte Infrastruktur aufgezogen, die an dich angepasst ist. Es wird alles dafür getan, dass der Mensch so wenig wie möglich den wirklichen Abbau seiner physischen und mentalen Leistungsfähigkeit mitbekommt.
Das war doch aber nicht immer so?
Traditionell wird mit dem Alter eine Art besonders wunderbarer Zustand assoziiert, in dem der Mensch zu Weisheit gelangt. Das heißt, indem man ein gewisses Alter erreicht, verliert man zwar physisch etwas, gewinnt dafür aber in sozialer Hinsicht. Selbst die modernen westlichen Gesellschaften orientieren sich in vielerlei Weise immer noch an diesem Schema. Der Wettkampf um das Amt des Präsidenten in Amerika ist ein ziemlich erstaunliches Beispiel und ein guter Gradmesser: zwei Männer über 70 konkurrieren um dieses Amt und wir diskutieren noch nicht einmal darüber, ob sie nicht schon ziemlich betagt sind und vielleicht Jüngeren den Weg freimachen sollten. Nein, denn alles das passt in die Vorstellung eines durchaus legitimen Konkurrenzkampfs.
Deswegen würde ich sagen, dass wir nicht so sehr dem Alter an sich aus dem Weg gehen wollen, sondern uns vielmehr diesen von der Gesellschaft wunderbar begünstigten Zustand des Wohlergehens mit „life and work balance” und anderen Annehmlichkeiten erhalten. Daher sollten wir es vermutlich befördern, wenn ein Mann oder eine Frau mit 70 Jahren den Drang verspürt, Präsident*in sein zu wollen, und anderes mehr. Willst du im Alter arbeiten, dann arbeite, willst du nicht arbeiten, dann arbeite eben nicht. Alles super, alles gut. Der Kampf mit dem, was wir bedingungslos „das Alter“ nennen, ist eine weitere Hymne auf den Individualismus, eine Hymne auf das liberale Subjekt.
Hat Russland in dieser Hinsicht das westliche Beispiel schon gänzlich verinnerlicht?
Wenn man in Russland mit Menschen spricht, die mit dem Alter zu kämpfen haben, steht deren soziale Isolation im Vordergrund. Lidia Bobrova hat 2003 darüber den Film „Babusya“ gedreht. Er behandelt, wenn man das so sagen kann, das postsowjetische Alter. Die Oma – die Hauptfigur des Films – wird dort immer wieder überflüssig für ihre gesamte Familie: erst stirbt die Tochter, dann wissen die vielzähligen Enkel*innen nicht, was sie mit ihr machen sollen und sie sitzt schon mit dem Urenkel da, der sich als der einzige herausstellt, der diese „Babusya“ noch braucht. Am Ende des Films stirbt sie auf allegorische Weise: sie geht einfach hinaus in den Winter und verschwindet. Aber alle verstehen, dass sie stirbt. Das ist eine gute Darstellung des sozialen und physischen Tods – und gleichzeitig eine sehr typische Geschichte für Russland, wo es eine starke Orientierung auf die Familie gibt, auf familiäre Bindungen. Wenn sich aber in deinem Leben dieses Modell nicht verwirklicht hat, dann gehst du mit 60 Jahren in Rente und hast überhaupt keine Ahnung, was du jetzt machen sollst. Und du hast auch im Grunde genommen weder die Mittel noch irgendeine Art von Infrastruktur, um etwas zu machen.
Andererseits hat der Soziologe Dmitri Rogosin, der sich viel mit der Erforschung des Alters beschäftigt hat, darauf aufmerksam gemacht, dass für viele russische Familien in den Regionen im Gegenteil Oma oder Opa auch eine Geldquelle sein können. Denn durch eine Behinderung oder durch die Rente und so weiter werden sie zum Zentrum einer Geringverdiener-Familie, und die Rente der Oma ist dann wirklich eine große Hilfe. Hier steht der alte Mensch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil er weise ist. Sondern, weil er eine Einkommensquelle ist.
In Russland ist der Kampf gegen eine komplexe Krankheit, ein schrittweises Erlöschen und der Tod eher eine untypische Geschichte. Bei der Mehrheit der Menschen taucht eine Krankheit sehr abrupt auf, und sie sterben. Ein Altersprozess also, der sich länger hinzieht, ist in Russland ein nicht sehr weitverbreitetes Phänomen. Dennoch sind in Russland sowohl das Alter als auch Krankheiten und Tod trotzdem ein Ereignis, dass die Leute irgendwie thematisieren und besprechen. Im Westen gibt es ein sehr strenges Protokoll des Zusammenspiels mit dem oder der Patient*in: die Eröffnung der Diagnose, die Erörterung von Plänen, die in erster Linie mit so wichtigen Dingen wie dem Erbe zusammenhängen, mit allen Rechnungen, die noch bezahlt werden müssen. Etwa in den 1970-er Jahren hat sich dort eine Kultur des Gesprächs über den möglichen Tod im Kontext von Krankheiten formiert. Das Alter wird hier zu einer der Etappen, die du vermeintlich planen und dabei maximal effizient sein kannst, dich selbst maximal absichern, dir eine super Freizeitstruktur sichern und so weiter.
In Russland gibt es nichts dergleichen. Das heißt, im Hospiz sprichst du nicht mit Leuten, die es sich anmerken lassen, dass sie sterben; für sie ist das ein Prozess, der absolut nicht thematisiert werden muss. Auch wenn sie es sich selbst gegenüber eingestehen – denn das lässt sich aus einigen indirekten Merkmalen schließen – ist das trotzdem ein sehr persönliches, hochgradig intimes Erlebnis, das keinerlei Notwendigkeit mit sich bringt, unter anderem in der Familie besprochen zu werden. Ich kann nicht sagen, dass es im Westen ein leichtes Thema wäre und dass sich dort gleich alle an einen Verhandlungstisch setzen. Nein, es ist überall schwer und das Sprechen über den eigenen Tod und über den Tod nahestehender Menschen ist natürlich überall furchtbar. Aber wenn man in dieser Hinsicht über die Besonderheiten in Russland sprechen will, dann vielleicht davon, dass es dort keinerlei juristisches Sterbeprotokoll gibt – in Russland fehlt einfach die juristische Form. Hospize wenden sich oft hilfesuchend an Ehrenamtliche, und eine der am häufigsten vorkommenden Bitten ist die um juristische Unterstützung: Wir wollen hier ein Testament verfassen, wir wollen wissen, wie man so etwas am besten aufsetzt, wie man es gut macht usw. Aber diese Frage bleibt sehr konfliktbeladen, mit einer Vielzahl an Bedeutungen, die alle an einem bestimmten Punkt lieber nicht mehr thematisieren würden. Es gibt da diese gängige, sehr beliebte Einstellung „Ich sterbe, und ihr kümmert euch dann um alles.“ Meine Oma zum Beispiel, die das auch immer gesagt hat, wollte nichts über das große Stück Land verfügen, auf dem sie lebte. Sie starb, und das führte dazu, dass sie schon seit fünf Jahren nicht mehr da ist, aber bislang niemand irgendetwas auf diesem Land machen konnte, weil es eine riesige Anzahl von Erb*innen gibt, die untereinander keinen Konsens finden. Alle denken regelmäßig an Oma zurück, aber nicht gerade im positivsten Sinne. Weil sie in dieser Hinsicht einfach ein unlösbares Problem zurückgelassen hat.
Vor einigen Jahren habe ich an einer Untersuchung der Charité zur Einstellung gegenüber Altern und Tod in zwei Generationen teilgenommen: Menschen mittleren Alters und Menschen über 65. Eines der hauptsächlichen Ergebnisse war unerwartet: die jüngere Generation war nicht dazu bereit, über den Tod ihrer Eltern zu sprechen, für sie war das ein Tabu-Thema. Die Versuchsgruppe fortgeschritten Alters verspürte im Gegenteil das Bedürfnis, über Szenarien ihres Ablebens zu sprechen – nur hatte sie niemanden zum Reden. Das heißt, ein Mensch von 70 Jahren nimmt sich seine Kinder zur Seite und sagt: „Lasst uns jetzt mal darüber sprechen, was wird, wenn ich nicht mehr da bin“, und sie sagen: „Mama, du machst hier einen ganz schönen Aufstand, lass uns lieber über was anderes reden – muss ja jetzt nicht sein.“
Alles hängt ja davon ab, was wir unter „Tod“ verstehen und dass wir im Grunde bereit sind, darüber zu sprechen. Man kann mit einem philosophischen Ansatz über den Tod reden: Was erwartet uns nach dem Tod? Welche Bedeutung hat der Tod in diesem Leben? Wozu brauchen wir den Tod? Oder aber man kann eher praxisorientierte Fragen besprechen. Ein Mensch im fortgeschrittenen Alter hat vermutlich schon Erfahrung mit anderen Todesfällen gemacht und weiß, dass ihm bei einer negativen Entwicklung der Dinge diese oder jene Krankheit drohen könnte. Und eigentlich möchte er nicht seinen Tod besprechen, sondern die Fragen, die wiederum mit dem eigenen Wohlergehen und der eigenen Vorstellung davon, wie sich das Leben entwickeln sollte, zusammenhängen. Nach dem Tod: wer soll was bekommen. Bis zum Tod, im Prozess des Sterbens: wie soll das alles vor sich gehen, wie sieht die betroffene Person das. Was, wenn ich, ok, sagen wir: Alzheimer bekomme, was machen wir dann? Wenn ich dazu noch irgendeine Krebserkrankung im vierten Stadium habe, was machen wir dann? Junge Menschen verstehen die Spezifik eines solchen Gesprächs manchmal nicht. Das hängt mit dem Unvermögen zusammen, sich an ein solches Thema heranzuwagen und es zu thematisieren.
Kann man gegen dieses Unvermögen etwas machen? Kann der Mensch sich irgendwie auf den Tod vorbereiten?
Das hängt davon ab, wie man das eigene Leben bewertet. Ich spreche viel mit Sterbenden. Es beschäftigen sie die Dinge, die sie nicht gemacht haben im Leben – das heißt, sie sorgen sich nicht darum, dass ihr Kissen nicht aufgeschüttelt ist, es sind keine Gespräche über den alltäglichen Komfort, über alltägliche Bedingungen. Obwohl das auch alles wichtig ist, aber eben zweitrangig. Man könnte jetzt analysieren, über was ein Mensch nachdenkt, der 90% seiner Zeit im Bett eines Hospizes verbringt. Der größte Teil dieser Zeit wird mit dem Nachdenken über das eigene Leben gefüllt, über Fehler, die man gemacht hat, Dinge, die man nicht gemacht hat – über das, was man sich einmal sehr gewünscht hat, was jetzt aber schon nicht mehr möglich ist.
Auf mich hat das einen riesigen Einfluss gehabt, und ich habe mir spontane Wünsche viel leichter und einfacher erfüllt. Meine Freunde sagen immer: „Du führst so ein hedonistisches Leben! Du wolltest mit dem Motorrad in die Berge fahren und bist einfach losgefahren, und wir sitzen hier herum und arbeiten in Quarantäne“, ich sollte mich schämen, dass ich ein solches Leben habe. Aber ich finde, dass man einfach alles in seinem Leben so gestalten sollte, dass man so viel Zeit wie möglich dazu hat, in den Bergen herum zu klettern und Motorrad zu fahren und mit seiner Tochter eine gute Zeit zu verbringen, als etwas nicht zu machen oder zu ackern wie ein Pferd. Weil ich solche Gespräche schon zehn Mal, oder einige Dutzende Mal gehört habe und die Menschen mir sagen: „Ich wollte mein ganzes Leben lang dies oder das einmal sehen, und ich habe es nie gesehen. Ich habe viel Zeit mit Leuten verbracht, wollte eine Freundschaft zu ihnen aufbauen, aber alles ist den Bach runtergegangen, ich war viel zu stolz und habe nicht rechtzeitig um Entschuldigung gebeten.“ Und so weiter. Ich würde mir wünschen, auf dem Sterbebett – wenn ich denn im reifen Alter und bei Bewusstsein sterben sollte – überhaupt die Möglichkeit zu haben, irgendwie darüber nachzudenken und es nur schade zu finden, dass einfach nicht genug Zeit war. Zeit, das ganze Wunderbare noch ein zweites Mal zu erleben. Und nicht nur darum zu trauern, dass ich dieses oder jenes nicht gemacht habe.
Ich denke, dass das ein sehr wichtiger Punkt ist und dass er nicht nur direkt mit dem Sterben zusammenhängt. Ich habe das irgendwann verstanden, indem ich mich einfach nur mit diesen Menschen ausgetauscht habe. Ich habe sie interviewt und stundenlang mit ihnen gesprochen. Aber man kann schließlich nicht irgendwo einfach so reinkommen und sagen: „Memento mori. Denke daran: du stirbst jetzt. Also fang jetzt endlich an, so zu leben, dass dich das Leben zufrieden und glücklich macht.“ Das kann man natürlich nicht machen, weil es ohnehin wie eine Art Eingebung zu dir kommt, wie ein emotionales Gefühl des Vertrauens gegenüber dieser Erfahrung. Aber kommen wir auf deine Frage zurück: ich denke, dass man dieses Thema gesellschaftlich gesehen offener und zugänglicher machen sollte. Ich habe die Idee, diese Interviews, die ich gemacht habe, zusammenzustellen und sie in direkter Rede zu veröffentlichen. Dann nimmt man sich dieses Buch, liest es durch, versteht vielleicht, dass mit dem Tod wahrscheinlich auch ein gewisses Bedauern einhergehen wird, und zwar bei allen, also vermutlich auch bei dir selbst, und dass das bedeutet, dass du in dieser Hinsicht aktiv werden kannst. Wir können uns hier jetzt natürlich Gedanken über das Modell des Alterns machen und es als Wahlmöglichkeit kritisieren und sagen, dass dahinter immer ein liberales Subjekt steht. Aber objektiv gesehen wurden wir eben in dieser Kultur geformt und leben daher mit diesen Werten, die wir weitergeben, weil ein solches Altern wahrscheinlich viel besser ist als ein Altern, das unerwartet kommt, sodass du plötzlich total überflüssig bist wie diese wunderbare Oma aus dem Film, von dem ich erzählt habe.
Wahrscheinlich lässt sich aus allem hier Gesagten eine These ableiten: bei mir persönlich ist die Angst vor dem Tod größer als alle anderen Ängste. Das heißt, die Angst vor dem Tod bleibt das zentrale Element, aber ich reflektiere sie sehr stark, und dadurch befreit sie mich vor einer Angst vor anderen Dingen. Das heißt, ich mache mir jetzt nur Gedanken um den Tod und um nichts anderes, von allem anderen versuche ich mich zu befreien. Und die Menschen, die sich nicht mit dem Tod beschäftigen, machen sich eben Sorgen um viele andere Dinge – um Selbstverwirklichung, um Liebe, aber nicht um den Tod. Wenn er dann kommt, zeigt sich eben das gegenteilige Modell.
Zwischen uns entwickelt sich hier gerade so ein seltsames, freundschaftlich-philosophisches Gespräch anstelle eines Interviews. Mir gefällt das ganz gut.
Hat die Pandemie die Vorstellungen der Menschen von Krankheit und Alter irgendwie verändert?
Covid hat natürlich viele unserer Illusionen zerstört. Wenn du 65 Jahre alt oder älter bist – und zwar ganz egal, ob du fit und lebensfroh bist, egal, was du arbeitest oder welche plastischen Operationen du hinter dir hast oder ob du Biohacking-Tabletten nimmst – das Corona-Virus weiß ganz genau, dass du zur Risikogruppe gehörst und damit stärker gefährdet bist. Eine Zeitlang hat man uns ja zu überzeugen versucht, dass die Qualität des Älterwerdens von der inneren Einstellung und Intention abhängt, dass man mit 70 Jahren noch ein glücklicher und gesunder Mensch sein kann, Roller fahren, irgendwelche modischen Klamotten tragen und überhaupt noch ganz jugendlich sein. Aber Covid zeigt ganz klar auf, dass es nicht so einfach ist, die biologischen Grenzen des Alters zu verschieben. Die Pandemie unterstreicht sehr gut, wie die Konzepte des Sozialen und des Biologischen, was die Beziehung zum Alter angeht, miteinander in Konflikt stehen.
Covid zwingt uns dazu, nochmals die Vorstellungen dazu zu überdenken, was Altwerden bedeutet und was es braucht, um sich dahingehend abzusichern. Ich glaube, dass uns ein Kampf der unterschiedlichsten Diskurse rund um das Altern bevorsteht. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt, dass unser städtisches Leben in vielerlei Hinsicht an die steigende Zahl älterer Menschen angepasst werden muss, dass sich das Gesundheitssystem verändern muss, das Pflegesystem. Und vor diesem Hintergrund wird uns besonders bewusst, dass die Idee eines „aktiven Älterwerdens“ doch sehr pragmatisch ist. Mensch, man muss schließlich einfach nur fit bleiben und sich nicht unterkriegen lassen – und bloß nichts von der Regierung einfordern, irgendwelchen Kleinkram. Weißt du, genau wie man zu Leuten sagt, die an einer Depression erkrankt sind: „Mensch, sei doch nicht traurig. Sei einfach nicht mehr traurig, komm, reiß dich mal zusammen!“ Genauso kann man auch älteren Menschen, die irgendeinen physischen oder mentalen Kummer verspüren, sagen: „Nun komm schon, setz dich einfach mal auf einen Roller oder iss mehr Möhren und Kohl, dann wird schon wieder alles gut.“ Im Endeffekt ist es aber so, dass man gegen das biologische Altern nicht viel ausrichten kann. Weißt du, ich tausche mich da mit meinen Sportleuten aus, mit Kolleg*innen. Sie sagen auch, dass man sich mit 50 Jahren nicht mehr so schnell regeneriert wie mit 20, und daran ist einfach nicht zu rütteln. Man sollte sich diese Dinge vergegenwärtigen.
Mir scheint, dass das goldene Zeitalter, in dem das Alter als hedonistischer Schlüssel gesehen wird, als eine Lebensphase, in der du die Kinder schon großgezogen und ein gewisses Kapitel angesammelt hast und nun zu verschiedenen Cruises aufbrechen kannst, einfach nur Spaß haben und so weiter – dass diese Ära durch die Wirtschaft sehr abrupt beendet werden wird. In den USA kommt die öffentliche Krankenversicherung medicare schon nicht mehr mit der Anzahl älterer Menschen zurecht. Auf der gesetzgebenden Ebene führt die ständig weiter steigende Lebenserwartung neben einer Erhöhung des Rentenalters dazu, dass man von 60-Jährigen im Prinzip weiter fordern wird, das Leben moderner Jungspunde zu führen.