Martin Schäuble
Wolkenbücher
Wer liest? Wer liest nicht? Was lesen die, die lesen? Und was tun die, die es nicht tun? Wieso liest man überhaupt? Und wo? Wichtige Fragen für mich, der davon lebt, dass Menschen lesen.
Meine erste Feldforschung erfolgt mit 850 Kilometern pro Stunde. Über hellen Wolkenfeldern zwischen Berlin und Moskau. Ich gehe die Reihen im Airbus entlang und suche Leserinnen und Leser. Das Ergebnis ist für den Autoren ernüchternd: E-Book zu gedruckter Fassung im Verhältnis eins zu zwei. Auch in absoluten Zahlen. Der Herr mit dem elektronischen Buch ist so vertieft, unmöglich ihn zu stören. Die gedruckten Bücher: Ein Reiseführer und ein Roman (Gustave Flaubert: Salambo).
Beides Taschenbücher. Das ist natürlich schlimm. An Taschenbüchern verdienen wir Autoren so gut wie nichts. Und dann noch so ein Klassiker? Wieso nicht mal den neuen Autoren eine Chance geben? Ist das in Russland auch so? Kann man in Moskau vom Schreiben leben? Kann man es in meiner Heimat, wenn man nicht Lebensratgeber („Einfach glücklich sein“) und Diätbücher („Wie ich 100 Kilo abnahm“) verfassen will? Noch mehr Fragen für die kommenden Wochen.
Eigentlich wollte ich zweieinhalb Stunden Flugzeit ganz anders nutzen. Links und rechts sitzen mongolische Geschäftsleute. Der rechts von mir, Mitte 40, sympathisches Lächeln, studierte in Irkutsk. Was liest man in der Mongolei? Und in welchen Sprachen überhaupt? „Wir haben 60 Millionen Tiere“, sagte der Mann, „und nur drei Millionen Einwohner“. Was bedeutet das nun für die Literatur? Tierische Heldenfiguren? Werke über das einsame Leben umgeben von Natur und Vierbeinern wie beim Landkrimi? Die Antwort ist kurz: Ich weiß es nicht. Meine mongolischen Nachbarn taten das, was ich schon immer einmal wollte und noch nie konnte. Sie schliefen beim Start ein und wachten nach der Landung wieder auf. Die Stewardess drückte mir Decken in die Hand und deutete auf meine neuen Freunde. Ich deckte sie zu und zählte Bücher. Zeit für Gespräche wird es in Russland sicher genug geben.