Martin Schäuble
Büchermenschen

Büchermenschen
© Martin Schäuble

„Ich bin nicht zum Thema gekommen, das Thema kam zu mir.“ Den Satz sagt Olga Gromova und sie blickt auf den kleinen Tisch vor uns. Während ich auf die verblichenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen schaue, verstehe ich sie.

Die Autorin lebt „am Rande von Moskau“. So sagte mir es die Kollegin vom Verlag. „Am Rande von…“ Das bedeutet in Moskau zwei Stunden Metro- und Zugfahrt. Während der 20 Minuten zu Fuß durch die Idylle vom Bahnhof zu Olgas Haus sehe ich mehr Hunde als Menschen. Mehr Bäume als Gebäude. Moskau ist viel weiter weg als zwei Stunden.

Auf den alten Fotos vor uns in Olgas Wohnung schaut mich ein Mädchen an. Stella. Ihr Vater starb im Gulag. Sie selbst musste mit ihrer Mutter nach Kirgisien. Nur mit einem Koffer. Olga zeigt handschriftliche Notizen aus dieser Zeit. Ein Familienschicksal, das exemplarisch für viele Juden zu Stalins Zeiten stand. Olga schrieb nicht über all das. Über alle Opfer. Sie tat viel mehr. Sie schrieb über Stellas Schicksal. Das wiederum für alle steht. Und doch viel mehr zum Lesen und verstehen einlädt.

Olgas Haus ist eine Bibliothek. Nicht offiziell. Natürlich. Doch die Nachbarn leihen sich Bücher aus, wo sonst? So weit draußen. Wir gehen an den Bücherregalen entlang, die zwei Büchermenschen über ein Leben gelesen und gesammelt haben. Ihr verstorbener Mann und sie. Ich lernte Eric vor Jahren auf einer Buchmesse in Moskau kennen. Er betreute die Übersetzung ins Russische meines Buches „Black Box Dschihad“. Er bewunderte den Mut des Verlages, so ein Buch zu verlegen. Das sagte er mir natürlich nicht. Sondern seiner Frau. Sie vertraute mir das beim Besuch an. Ich schrieb das Buch für junge Leserinnen und Leser. Wieso wird jemand zum Dschihadisten? Die Frage beschäftigte mich drei Jahre lang bei meinen Recherchen. Und eine Schülerin fragte mich in diesen Tagen in Moskau: „Wird man nicht zum Terroristen, wenn man das Buch liest?“. Nein, wird man nicht. Im Gegenteil. Es klärt auf. Es erklärt. Die Lehrerin, die das Buch mit ihrer Klasse gelesen hat, die mich einlud, sie erklärte bei einem Elternabend, wieso ausgerechnet dieses Buch. Zuvor meldeten sich besorgte Väter und Mütter bei ihr.

Olga stellt ihr Buch auch an Schulen in Moskau vor. Es ist das Schicksal von Stella. Doch Stella war auch ihre Nachbarin und Freundin. Jahrelang trug Olga die Idee eines Buches mit sich, bis sie es zu Papier brachte. 20 Jahre Gespräche und Freundschaft stecken darin. Sie sortierte das Material, dachte über die Struktur des Buches nach. Und ich erzählte von meiner Arbeitsweise beim jüngsten Buch, der Gebrauchsanweisung für Israel und Palästina. Sorgsam sammelte ich Material, ordnete es ein, beschriftete es, nummerierte alles. Bis mein Rechercheordner perfekt war. Und was tat ich während des Schreibens mit ihm? Ich nutzte ihn nicht. Doch der Prozess des Ordnens, der war entscheidend. Nur so wurde ich mir darüber klar, was ich eigentlich sagen und schreiben will.

Olga Gromova arbeitet an neuen Buchideen. Bei einer will ich hier helfen, wieder ist alles lange her und wieder denke ich zuerst: Ist doch schon alles erzählt worden. Doch dann merke ich plötzlich, nein, stimmt nicht, diese Geschichte hat noch keiner erzählt. Doch Olga wird es irgendwann machen.

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