Martin Schäuble
Bücherbären
Was macht man, wenn man beim Zelten einem Braunbären begegnet? Wegrennen? Stehen bleiben? Schreien? Schweigen? Evgeny Rudaschevski tat etwas anderes. Er packte erst einmal seine Kamera aus und drückte auf den Auslöser. Schließlich, so dachte er sich vermutlich, begegnet man so einem interessanten Tier nicht jeden Tag.
Ich schaue mir das eingerahmte Foto in seiner Wohnung an. Der Moskauer Schriftsteller kennt sich mit Tieren aus. Er arbeitete früher als Tiertrainer. In einem Roman spielt ein Delfin eine Hauptrolle. Gerade hat er eine Geschichte zu Ende geschrieben, in der es um Seehunde geht. Nicht nur. Sondern auch. Vielmehr wird das Leben von jungen Leuten im fernen Irkutsk beschrieben, ein Leben zwischen Tradition und Moderne.
Für Evgeny ist die Stadt, sind die Menschen und auch die Tiere dort nicht fern. Wer mit ihm spricht und seine Geschichten auch aus der Mongolei oder China hört, bekommt den Eindruck, er lebte mehr im Zelt und unter freiem Himmel als in seinen eigenen vier Wänden. An einem Schrank hängt sein Arbeitsplan. Schriftsteller brauchen so etwas. Auch ich hatte solche Pläne. Bevor ich Kinder hatte. Die Jungs brachten auf wunderbare Weise alles durcheinander bei uns Zuhause.
Evgeny hat noch keine Kinder. Sein Plan: 7 Uhr aufstehen, 12 Uhr Mittagspause, 19 Uhr Feierabend. Dazwischen werden drei mal die Katzen gefüttert. So etwas kann man im Schreibrausch schnell einmal vergessen. Wir sprechen über die Schriftstellerei, essen Piroggen und Blinis in seiner Küche.
Er hat weit mehr veröffentlicht, als ich wusste. Als Ghostwriter, Auftragsschreiber von Biografien und Katalogen verdient er sein Geld. Mit Romanen geht so etwas nicht. Und mit Lesungen ist in Russland kein Geld zu verdienen. Das lernte ich schnell in Gesprächen mit Buchmenschen. Eine renommierte Buchhändlerin erklärte mir, keine Honorare für Veranstaltungen zu bezahlen. Vielmehr würden sich Verlage und Autoren bei ihr bewerben, kostenlos ein Buch vorstellen zu dürfen. In vielen Gesprächen lernte ich: Ein russischer Kollege bekommt für das Verfassen eines ganzen Buches vom Verlag halb so viel Geld, wie ein Autor gleichen Ranges in Deutschland für eine einzige Lesung. Und die Mieten sind in Moskau nicht billiger als in Berlin.
Neben Evgenys Schreibtisch hängt eine Karte. Liebevoll gestrichelte Hügel, Hütten, Flüsse. „Tolkien. Herr der Ringe?“, frage ich. „Nein“, sagt Evgeny. Seine eigene Fantasy-Welt. Ein Buchprojekt, an dem er gerade arbeitet. Ich malte bisher nur für eines meiner Bücher eine Karte. Nicht für die Veröffentlichung, nur als Stütze für meine Beschreibungen. „Die Scanner“, die Dystopie, die ich auf meiner Reise bisher auch in Brjansk und Sankt Petersburg vorstellte. Die Stadtkarte einer Welt, wie sie 2035 aussehen könnte. Eine Welt ohne gedruckte Bücher und eine Welt, in der alles digitalisiert und von einem Konzern kontrolliert wird.
Zwei von vielen Eindrücken meiner Reise: In Brjansk überraschten mich die Studierenden der deutschen Sprache mit einer nahezu akzentfreien Aussprache. Sie steckten noch mitten im Studium, die meisten waren noch nie in Deutschland gewesen und hatten selten persönliche Kontakte zu Menschen aus diesem Land. Und dennoch.
In Sankt Petersburg diskutierten wir an verschiedenen Orten über meine Arbeitsweise bei den Sachbüchern und über die Dystopie. Buchagenten – also Menschen, die Autoren helfen, einen Verlag zu finden – gibt es in meiner Romanwelt nicht mehr. Im Gespräch merkte ich, das Jahr 2035 ist hier schon viel näher. Kaum jemand aus unserem Seminar für Übersetzer kannte diesen Beruf.
Auch in einem Gespräch mit einer russischen Journalistin denke ich manchmal an meine dystopischen Beschreibungen im Roman. Die Kollegin zählt all die Regeln auf, an die sie sich halten muss. Über was darf man schreiben? Über was nicht? Was muss bei jeder Veröffentlichung beachtet werden. „Da muss man ja mehr Jurist als Journalist sein“, stelle ich ihr gegenüber fest. Sie lacht, nippt am Wasserglas und ergänzt sehr ernst: „Ich studiere jetzt auch Jura.“
Zurück zum Braunbären. Was tun? Wie verhalten? Evgeny wird es uns bald sagen. Seine neue Buchserie für junge Leserinnen und Leser beschäftigt sich auch mit der Frage: Wie reist es sich am besten in der freien Natur? Und da kommt auch dieser Bär vor, ganz sicher.