Gregor Sander
Dienstag, 27.9.16
Um neun Uhr werde ich durch die Festung Brest geführt. Der Morgen ist kalt und grau. Über dem backsteinernen Eingang liegt ein riesiger Betonriegel, in den ein Sowjetstern gehauen wurde. Erdrückend groß. Am Morgen des 22. Juni 1941 wurde die Festung von den Deutschen angegriffen. Mit dem Ziel, sie bis zum Mittag einzunehmen. Aber es wird Wochen dauern, bis sich die letzten Rotarmisten ergeben. Die Deutschen belagern die alte Festung und drinnen gibt es bald so gut wie kein Wasser mehr. Tausende Menschen sind hier eingeschlossen, Männer, Frauen, Kinder, dem Verdursten nah. Kaum jemand hat das überlebt. Aber vom Leid ist in der heutigen Anlage nichts zu sehen. Nur der Mut, der Wille, der Kampf.
Vier ca. vierzehnjährige Kinder marschieren an diesem Morgen im preußischen Stechschritt vor die ewige Flamme. Sie tragen Wattejacken und werden dort 20 Minuten Ehrenwache stehen und dann von anderen Kindern abgelöst. Hinter ihnen gibt es Panzer zu sehen, Kanonen und Gräber. Ein riesiger Soldatenkopf aus Beton. Alles martialisch und leidlos. Die orthodoxe Kirche hinter dem Denkmal, die unter Stalin als Offizierskasino diente, ist jetzt wieder geweiht und wird von der Bevölkerung der Gegend genutzt. Und während die Kinder mit harten Gesichtern ins Nichts starren, weht der Wind den leisen Gesang der etwa 50 orthodoxen Frauen herüber, die in der Kirche beim Gottesdienst sind. Fast drei Millionen Menschen haben die Deutschen in Belarus umgebracht. Ganze Dörfer verbrannt und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Bei Swetlana Alexijewitsch lese ich später von der Trauer und dem Leid. Ihr Debüt „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ erzählt mir davon.