Olga Shparaga
Grenzüberschreitungen als gemeinsamer Widerstand gegen Ungerechtigkeit

hostages of eternity
© Alexey Kubasov

Das Begleitheft zur Ausstellung Die Grenze, das ich wie alle Besucher*innen beim Betreten des Ausstellungsraums erhielt, schloss mit der Frage, wo Asien endet und wo Europa beginnt. Diese vertraute Frage, die ich mir unlängst selbst stellte, als ich zugunsten eines europäischen Wegs für Belarus argumentierte, klang damals für mich unangenehm provokativ. Denn schon die Vorstellung, dass Asien irgendwo endet, während Europa beginnt, bestätigt die Annahme, dass Asien und Europa bestimmte, gänzlich stabile Wesenskerne hätten, die es ermöglichten, die Grenzen dieser Formationen zu definieren. Das größte Problem solcher essenzialistischen Vorstellungen besteht darin, dass Menschen und Gemeinschaften zu ihren Gefangenen werden; besonders deutlich erkennbar ist dies aktuell in den Debatten über Geflüchtete, die solche Ängste auslösen, dass diese nicht mehr als konkrete leidende Menschen betrachtet werden, sondern als Übermittler von Kulturen und Wertvorstellungen, die Befürchtungen und Abneigungen auslösen. Und im vorliegenden Fall dreht sich die Diskussion spezifisch um „östliche“ Kulturen und Werte.
Folgt daraus also, dass die Unterscheidung zwischen Osten und Westen heute – in einer Zeit, in der die Menschenrechte als höchster Wert gelten, der keiner kulturellen oder politischen Formation geopfert werden darf – nicht nur ihre zentrale Bedeutung verliert, sondern wirklich gefährlich wird? Der Faktor, der hierzu geführt hat, ist selbstverständlich die Globalisierung, das heißt die Wechselbeziehungen zwischen transnationalen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen der zurückliegenden drei Jahrzehnte, welche die Menschenrechte – und ihre Verletzungen – praktisch rund um den Globus zur obersten Priorität gemacht haben.
Daraus folgt, dass die Weigerung, die Menschenwürde zu respektieren und grundlegende Rechte zu garantieren – sei es auf Regierungsebene oder auf der Ebene verschiedener Diskurse – heute unabhängig von den Unterschieden zwischen Gesellschaften und Kulturen zu einer Demarkationslinie wird. Diese Demarkationslinie tritt an die Stelle früherer geopolitischer und anderer Grenzen, denn solche Grenzen können nicht mehr dazu dienen, die Herabwürdigung von Menschen und die Verletzung von Menschenrechten zu rechtfertigen. Wenn man jedoch bedenkt, dass entwürdigende Praktiken und die Verweigerung von Rechten sehr feine Nuancen aufweisen können und häufig zum Gegenstand politischer Verhandlungen und Kompromisse werden, wird diese Demarkationslinie dann nicht fast zu einem Auslöser, der ganz neue Grenzen offenbart, einschließlich solcher, die nicht frei von essenzialistischen Auffassungen und Interpretationen sind?
 
Zwischen Patriarchat und Ungleichheit
 
Das Video Hostages of Eternity des usbekischen Künstlerduos Umida Achmedova und Oleg Karpov, mit dem der Ausstellungsparcours in Minsk begann, entging weder den Kunstkritikern noch den Besuchern, mit denen ich über die Schau diskutierte. Eine Frau in einem orangefarbenen Arbeitsmantel, die im Regen Pfützen von einer Straße fegt, welche regelmäßig vom usbekischen Präsidenten genutzt wurde, fungiert als ausdrucksstarke Metapher für die moderne patriarchale Hierarchie. Diesem Thema widmeten sich noch mehrere andere Arbeiten in der Ausstellung, insbesondere I Met a Girl von Alla Rumyantseva und Alexey Rumyantsev aus Tadschikistan sowie Super Taus von Taus Makhacheva aus Makhachkala.
Obwohl es unwahrscheinlich ist, genau dieses Bild auch in Deutschland oder Frankreich vorzufinden, werden Frauen auch in diesen Ländern auf dem Arbeitsmarkt noch immer benachteiligt, stehen in der politischen Arena oft in zweiter Reihe und werden in der medialen Darstellung wie auch im Alltag weiterhin diskriminiert. Das Jahresende 2017 wird wegen der Aufdeckung zahlreicher sexueller Übergriffe in Hollywood in die Geschichte eingehen. Wie diese Vorkommnisse rezipiert wurden, gibt jedoch nicht nur Aufschlüsse darüber, wie sich (männliche und weibliche) Verfechter eines sensiblen Umgangs mit Unterschieden und einzigartigen Eigenschaften miteinander solidarisieren; es zeigt auch die Polarisierung heutiger Gesellschaften, in denen ein mehr oder weniger hoher – in verschiedenen Staaten variierender – Anteil der Bevölkerung in den vergangenen Jahren nach außen hin ultrarechte Politikerinnen und Politiker wählte – etwas, das noch vor ein oder zwei Jahrzehnten allgemeines Befremden ausgelöst hätte. Solche Veränderungen belegen die Tatsache, dass die Globalisierung Gesellschaften und Kulturen zusammenbringt, dabei jedoch nicht nur Wertvorstellungen fördert, die der Emanzipation dienen, sondern ganz im Gegenteil auch auf eine unkritische Akzeptanz von Traditionen, sozialen Hierarchien und Ungleichheiten hinwirken kann. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts richteten immer mehr Theoretikerinnen und Theoretiker ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die negativen Auswirkungen der Globalisierung – die zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die Schritt für Schritt mit der neoliberalen Ökonomie und populistischen Politik einhergehen.1
Aus diesem spezifischen Grund ist die Grenze zwischen Traditionen einerseits und zeitgenössischen Lebensstilen und Weltanschauungen andererseits, die sich nicht nur in kulturellen Symbolen, sondern auch in wirtschaftlichen Verhältnissen ausdrückt, auch in dieser Ausstellung deutlich sichtbar. So stellte Katya Isaeva, die in Kasachstan geboren wurde, anhand von Teeschalen gewissermaßen eine Landkarte Zentralasiens her; dabei ist jede Schale ein Unikat, weil sich auf ihrer Oberfläche Zeichnungen befinden und weil sie mit einer Erzählung ihrer Besitzer verknüpft ist. In ihrer Gesamtheit symbolisieren diese Gefäße nicht nur die „Völkerfreundschaft“ zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken – wo man die Schalen traditionell als Reisesouvenirs verschenkte –, sondern sie stehen auch für die ökonomische Dimension dieser Freundschaft, verkörpert in der Arbeit von Industrieunternehmen, die aufgrund der Beziehungen zwischen den Sowjetrepubliken zustande kamen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte auf ihrem früheren Territorium
zu einer starken Deindustrialisierung, wenngleich solche Prozesse in den zurückliegenden Jahrzehnten auch andere – insbesondere sogenannte „entwickelte“ – Länder betrafen. In diesen Fällen – wie etwa in den Städten des US-amerikanischen „Rust Belt“ – verschärfte sich die Deindustrialisierung infolge der neoliberalen Politik der 1970er-Jahre, und zwar insbesondere durch die Finanzialisierung: Stagnierende Arbeitslöhne wurden durch Kredite ersetzt. Dies ging einher mit der Zerstörung des sozialen Zusammenhalts und mit dem Zusammenbruch der Gesellschaftsstruktur in den Industriestädten.2 Prekäre Beschäftigung und ökonomische Verwundbarkeit sind, zusammen mit der Stagnation der Mittelklasse, ein Synonym für die Finanzialisierung und gelten heute als maßgebliche Faktoren für den Aufstieg populistischer Politiker in verschiedenen Regionen der Welt.3 Ein weiterer Faktor ist die wachsende Einkommensungleichheit und die Konzentration von immer größeren Vermögen in den Händen einer extremen Minderheit der Bevölkerung – das Eine Prozent, das die wahren Nutznießer der Globalisierung ausmacht.4
 
Die Ungleichzeitigkeit der Moderne und die Identitätspolitik
 
Ein Schlüsselbegriff, der die Situation der zurückliegenden zwei Jahrzehnte aus meiner Sicht am besten beschreibt, ist das Konzept der „Gleichzeitigkeit“, das sich von Ernst Blochs „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ herleitet.5 Bloch verwendete diese Formulierung, um den Kontext zu beschreiben, in dem im Deutschland der 1930er-Jahre der Nationalsozialismus entstand; Theoretikerinnen und Theoretiker der zeitgenössischen Kunst beziehen ihn derzeit auch auf die Ungleichzeitigkeit der Moderne im Hinblick auf neue, elektronische Technologien. Diese Technologien fördern die trügerische Vorstellung von einer totalen Kopräsenz der unterschiedlichsten Epochen und Erfahrungen in einer Situation, in der die Möglichkeit, diese darzustellen und zu vereinen, zunehmend illusorisch wird.6 Und ebenso wie in den 1930er-Jahren besteht eine der Reaktionen hierauf in dem Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren oder sich von globalen Entwicklungen mithilfe kompromissloserer politischer Identitäten zu isolieren.
Interessanterweise wird diese Art von Politik nur in zwei Arbeiten – Three Borders von Alisa Berger (eine Künstlerin mit deutschem, nordkoreanischem und jüdischem Hintergrund) und Nasreddin in Russia von Olga Jitlina – direkt thematisiert; kritische Reaktionen auf die Auswirkungen dieser politischen Tendenzen finden sich jedoch in einem breiten Spektrum von Erklärungen in der gesamten Ausstellung, wie zum Beispiel in dem Projekt Mutual Incompleteness von Aytegin Djumaliev (Kirgisistan), in Kazakh Funny Games von Saule Dyussenbina (Kasachstan), Mugham-Karaoke von Farhad Farzaliyev (Aserbaidschan), Wrongly Constructed Church von Anton Karmanov (Russland), Georgian National Anthem der Künstlergruppe Khinkali Juice/Nadia Tsulukidze (Georgien) und 19 a Day von Taus Makhacheva (Russland).
Diese Reaktionen lassen sich mithilfe des Konzepts der Unvollständigkeit/Offenheit von Identität, der Theorie des Konstruktionismus sowie anhand der Erfolge und Schwierigkeiten erklären, die das Verhältnis zwischen lokalen Traditionen und globalen Praktiken kennzeichnen. Die Identitätspolitik, die ich auch aus Belarus sehr gut kenne, beharrt auf der Reinheit ethnischer Gruppen, auf der Eindeutigkeit der Prinzipien, die diese Gruppen definieren, und auf der Legitimierbarkeit der Hierarchien zwischen ihnen. Diese Politik geht derzeit in der Regel mit Xeno- und Homophobie einher und befürwortet die Exklusion von Menschen und Gruppen/Communities auf der Grundlage unterschiedlichster Merkmale. Diese Praktiken beruhen auf der Notwendigkeit, auf verschiedenartige interne – wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche – Probleme zu reagieren, die in die Sprache der Identitätspolitik übersetzt wurden. Gleichgültig, ob die Prämisse „America first“ lautet oder ob behauptet wird, dass es in einem Nationalstaat nur eine einzige offizielle Sprache und eine einzige Version der Erinnerung geben dürfe: Hinter all diesen Verlautbarungen verbirgt sich nicht nur das Bestreben, simple Methoden zu verwenden, um die Probleme gegenseitiger Anerkennung zu lösen, die in „Gesellschaften der Singularität“ (Pierre Rosanvallon) ständig aufkommen; solche Äußerungen kaschieren auch das Vorhaben, im Hintergrund solcher Abläufe strenge Kontrollen zu etablieren, die zumeist mit einer (Um-)Verteilung von ökonomischer, politischer, symbolischer und intellektueller Macht einhergehen.
 
Grenzen als Bedingung für kulturelle Übersetzung
 
Damit kommen wir zurück zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis zwischen Identitätspolitik – von ethnischen und nationalen Identitäten bis zur Identitätspolitik, die uns entweder zu Asiaten oder Europäern macht – und der Respektierung der Menschenwürde. Wenn die Kritik an essenzialisierten Identitäten dazu führt, dass wir zahlreiche und immer neue Grenzen entdecken – seien es Gendergrenzen oder ökonomische, moralische und andere, die wir überdies nicht als Gegebenheiten, sondern als Prozesse verstehen sollten –,7 ergibt sich daraus nicht die Herausforderung, immer innerhalb der Grenzen unserer eigenen individuellen und kollektiven Erfahrung zu verbleiben? Dies würde es uns ermöglichen, die Bedingungen und die Einzigartigkeit unserer eigenen Verhältnisse zu erkennen, ohne die Gegebenheiten anderer Verhältnisse zu leugnen – denn sonst würde unsere eigene Erfahrung an das Nichts grenzen, was in der zwischenmenschlichen Lebenswelt, in der eine menschliche Erfahrung zwangsläufig an eine andere grenzt, praktisch unmöglich ist.
Judith Butler schlägt vor, dieses Problem mithilfe der Praxis einer „kulturellen Übersetzung“ zu lösen; der Begriff bezieht sich nicht auf die Kooperation zwischen isolierten, in sich geschlossenen und vollständigen linguistischen oder sonstigen Zeichensystemen, sondern beschreibt vielmehr das Bestreben, unterschiedliche Sprachen zur Veränderung anzuregen, um das Verstehen anderer zu erleichtern.7 Butler zufolge fördert dieses Verstehen in einer Grenzsituation zwischen verschiedenen Communities die Problematisierung dessen, was ansonsten als gängig und allgemein bekannt erscheint. Auf diese Weise führt die Bestimmung eines Grenzorts zu einer Desorientierung und birgt die Möglichkeit, dass die menschliche Existenz eine andere Gestalt annimmt. Schließlich forciert das Sich-Einschließen in die eigenen Erfahrungen und Gedanken bei gleichzeitiger Weigerung, deren Grenzen zu erkennen, ein Agieren gegen alle und alles, was sich nicht mit dem Blick auf die eigenen zurückliegenden Erfahrungen vereinbaren lässt.
Das Definieren von Unterschieden zwischen Asien und Europa, zwischen ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen, sozialen Geschlechtern und Lebensstilen lässt sich in Fällen rechtfertigen, in denen es trotz der vorhandenen Unterschiede möglich ist, in einer gemeinsamen Sprache zu kommunizieren und die gemeinsamen, speziellen Bedingungen herauszufinden, die diese Sprache ermöglichen. Die zeitgenössische Kunst bereichert, ebenso wie die akademische Forschung, diese Sprache durch neue Wörter und Syntaxen und bietet immer mehr Gelegenheiten, um über Einzigartigkeit zu sprechen, ohne eine gemeinsame konzeptuelle und moralische Perspektive aufzugeben. Im Fall der Ausstellung Die Grenze besteht diese Perspektive darin, dass einige Grenzen problematisiert und andere auf eine Weise gezogen werden, die es uns erlaubt, sie als ökonomische, politische, soziale und kulturelle Konstrukte zu definieren und damit als Grenzen zu verstehen, die für unsere Interpretationen und Veränderungen offen sind.
 
Anmerkungen
 
1 Vgl. Branko Milanović, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016; Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, München: Beck 2014.
2 Мейсон П., Посткапитализм: путеводитель но нашему будущему. М.: Ad Marginem 2016. С. 36 и 3 Ср. Luigi Guiso, Helios Herrera, Massimo Morelli und Tommaso Sonno, „The spread of populism in Western countries“, VOX. CEPR’s Policy Portal; http://voxeu.org/article/spread-populism-western-countries.
3 Milanovic 2016 (wie Anm. 1), S. 21 f.
4 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, in: Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 122.
5 Siehe „Contemporaneity in the History of Art. A Clark Workshop 2009, Summaries of Papers and Notes on Discussions“ (siehe auch die Anmerkung von Terry Smith), in: Contemporaneity: Historical Presence in Visual Culture, Jg. 1, 2011, S. 12; http://contemporaneity.pitt.edu.
6 Vgl. hiermit die Überlegungen zur „Community der Geflüchteten“ als Denkansatz, der von Prozessen ausgeht: „Aber wer sind ‚sieʻ? Roundtablegespräch mit Manuela Bojadžijev, Nikita Dhawan, und Christoph Menke, moderiert von Helmut Draxler zu Flucht und Migration als Herausforderungen des politischen Denkens“, in: Texte zur Kunst, Nr. 105, März 2017; https://www.textezurkunst.de/105/aber-wer-sind-sie/.
7 Judith Butler, „Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie“, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 68.
 
 

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