Künstler spazieren durch ein Rechenzentrum, und die Daten ertönen, leben lange oder fehlen
Künstler spazieren durch ein Rechenzentrum, und die Daten ertönen, leben lange oder fehlen
Für viele Menschen sind Daten etwas Selbstverständliches: sie sind formatiert, verpackt und einsatzbereit. Von diesem Augenhorizont aus möge es scheinen, dass Daten synonymisch mit Wissen sind, obwohl dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist: sie erfordern eine Analyse und Interpretation.
Um sie zu begreifen und auf ihrer Basis schließlich das echte Wissen zu formen, bräuchte man nicht unbedingt eine Fachausbildung. Die Kunst ist fähig, den kritischen Zweifel anzuregen und die Frage aufzuwerfen, was die Daten mitbringen. Die künstlerische Praxis ermöglicht es, Daten anders anzusehen - nicht als etwas Vorbestimmtes, sondern als etwas Fehlendes, etwas von jemandem Gesammeltes, Unzureichendes, Miterlebtes und Problematisches. Eine solche Unbestimmtheit kann sowohl eine Quelle von Inspiration, als auch eine Ursache für Unruhe sein, weitere Betrachtung und Handeln anregend.
Von Dmitrij Murawjow
Fehlen
Die Bibliothek der fehlenden Datensätze (2016) Mimi Onuoha
Daten entstehen nicht aus der Luft, und obwohl dies offensichtlich ist, denken wir nicht immer darüber nach, woher sie kommen und warum von einigen Daten viel und von anderen wenig oder gar nichts gibt. Dies ist ein ziemlich wesentliches Versäumnis, weil manchmal die Antworten auf unsere Fragen in geringerem Maße in Tabellen oder Diagrammen liegen, sondern in ihrem „Stammbaum“. Die amerikanische Künstlerin Mimi Onuoha fordert in ihrem Projekt „Die Bibliothek der fehlenden Datensätze“ dazu auf, die Frage über die Herkunft der Daten zu stellen.Die Installation sieht aus wie ein Bibliothekskartenkasten mit Karten, auf denen der Name eines noch nicht existierenden Datensatzes steht. Außerdem hat das Projekt ein Repositorium auf Github.
Die Daten vermehren sich jeden Tag, jedoch werden sie ungleichmäßig nachgefüllt. Beispielsweise wird die Statistik zu vielen gesellschaftlich bedeutsamen Problemen nicht eingesammelt, sie bleibt entweder geschlossen oder nicht sorgfältig detailliert. Der Grund dafür sind Machtverhältnisse und wirtschaftliche Logik. Onuoha führt vier Überlegungen an, warum Daten fehlen könnten:
- Diejenigen, die über die Ressourcen zur Datengewinnung verfügen, sind daran nicht interessiert (dementsprechend sind oft diejenigen, die den Zugriff auf den Datensatz haben, gleichzeitig dieselben, welche die Möglichkeit haben, ihn zu löschen, zu verbergen oder unverständlich zu machen).
- Nicht alle Phänomene sind einfach zu zählen, daher haben diejenigen den Vorrang, die sich bequemer in quantitative Daten umwandeln lassen.
- Die Vorteile des Datenbesitzes erscheinen im Vergleich zum Aufwand, der mit ihrer Gewinnung verbunden ist, unwesentlich.
- Das Fehlen von bestimmten Daten ist auch für jemandem vorteilhaft.
Kritik
Facial Weaponization Suite (2012-2014). Zach Blas
Ein Beispiel einer kritischen Herangehensweise ist das Projekt des Künstlers Zach Blas „Facial Weaponization Suite“, wo die Idee, Menschen mittels Biometrie zu erkennen, ad absurdum geführt wurde. Für die Schöpfung von „Kollektivmasken“ verwendete Blas biometrische Daten verschiedener Personengruppen. Zum Beispiel, die Fag Face Mask basiert auf einer Datenbank mit Gesichtern von nicht heterosexuellen Männern. Dieses Objekt bezog sich direkt auf eine weit publik gewordene wissenschaftliche Untersuchung, laut der die sexuelle Orientierung eines Menschen nach seinen Gesichtszügen bestimmt werden kann. In Wirklichkeit gibt es jedoch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft diesbezüglich keinen Konsens; im Gegenteil, eine solche Hypothese löst weiterhin Auseinandersetzungen und Diskussionen aus.Viele Künstler arbeiteten mit Gesichtserkennungstechnologie, wobei sich die Maske meistens mit Verdeckung assoziierte, einem Versuch, sich vor der alles sehenden Kamera zu verstecken. Blas hingegen verbirgt sich nicht, sondern übertreibt und bringt selbst die Idee, durch Biometrie spezifisches Wissen zu gewinnen, bis an die Grenzen. Der Künstler zeigt, dass uns die Technologie selbst dazu veranlasst, bestimmte Kategorien aufzurufen und damit komplexe Identitätsfragen unnötig zu vereinfachen.
Alternative
Distance From Home (2015). Brian Foo
Eine andere Taktik schlägt der Sound-Art-Künstler Brian Foo vor - es ist keine Kritik an sich, sondern eine Analyse möglicher alternativer Interaktionen mit Daten. Ein Teil seiner Werke widmete er der Umwandlung von Daten in Töne. So veröffentlichte er 2015 die Komposition „Distance From Home“, basierend auf UN-Daten über die globalen Flüchtlingsströmen von 1975 bis 2012, die auch von einer Videovisualisierung begleitet wird. Die Länge der Komposition sowie Anzahl und Tonart der Musikinstrumente hängen ab von der Intensität der Flüchtlingsbewegungen, sowie von der Entfernung zwischen dem Land, aus dem ein Mensch auswandert, und dem Land, in dem er Asyl sucht.Die Umwandlung von Daten in Töne wird Sonifikation genannt. Experimente damit begannen im Feld der Wissenschaft in den 1990er Jahren - als zusätzliches Werkzeug zur Analyse oder Darstellung von Daten. Später begannen auch Künstler Sonifikation zu verwenden. In solchen Werken wie „Distance From Home“ kann sich der Hörer nicht nur von der in der Kultur dominierenden visuellen Wahrnehmung zur Tonwahrnehmung umstellen, sondern auch das Ausmaß und die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels auf der körperlichen Ebene empfinden.
Dieses Projekt hilft, Daten etwas anders wahrzunehmen. Natürlich haben die uns gewohnten Formen der Datendarstellung ihre logischen Gründe, aber das darf nicht die kollektive Fähigkeit zum Umdenken dessen blockieren, was „Daten“ sind und wie man damit umgehen sollte. In diesem Fall sollte der nächste Schritt mit der Analyse dessen verbunden sein, wie die Daten unsere Vorstellungen über uns selbst bereits verändern.
Erfahrung
Museum of Random Memory (2018). Forschungsteam Future Making
Kritik und Überlegungen über Alternativen in der Kunstwerken werden durch ein Erfassen der Beziehung von Daten zu der direkt durchlebten menschlichen Erfahrung ergänzt. So bieten soziale Netze und Plattformen – Google, Facebook, Apple – den Nutzern ständig automatisch erstellte Fotoalben an, die vermutlich sentimentale Erinnerungen wachrufen sollen. Wenn nun Algorithmen an der Bildung von Erinnerungen beteiligt sind und diese zu Datensätzen umwandeln, dann stellt sich die Frage, inwiefern menschliche Erinnerungen überhaupt von Technologien trennbar sind.„Museum of Random Memory“ ist eine Reihe performativer künstlerischer Interventionen, die von der Internetforscherin Annette Markham und dem Future Making-Team entwickelt wurden. Das Organisationsteam bat die Besucher, ihre Erinnerung an das Museum zu spenden – sie könnten einen beliebigen Gegenstand mitbringen, der einen Menschen an die Vergangenheit erinnern würde.
Eines Tages kam die Dänin Trine mit einer Fotokopie von Zeitungsausschnitten: „Ich möchte die Erinnerung spenden, dass die Deutschen meine Heimatstadt in Nordjütland besetzt haben, als ich ein kleines Mädchen war.“ Die Kuratoren der Ausstellung haben sich für ihre Geschichte interessiert und das Gespräch mit ihr aufgenommen. Die Erzählung der Dänin dauerte drei Stunden - sie erinnerte sich an die Ereignisse der Zeit der Nazi-Besatzung.
Die Veranstalter der Ausstellung gestalteten die Geschichte von Trine zu einer Installation um, die auch Ton, Video und Transkription des Interviews einschloss. In jedem der drei Formate wurden die Erinnerungen der Dänin durch Verwendung von Glitching modifiziert, das heißt durch die Ästhetik der unvollständigen, partiellen und verzerrten Darstellung präsentiert.
Das „Museum of Random Memory“ zeigt, dass unsere Fähigkeit sich zu erinnern und zu vergessen nun auch von digitalen Objekten abhängt. Die mit solchen Daten verbundenen Prozesse der Gewinnung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen sind für uns oft unverständlich, und es besteht auch keine Zuversicht darauf, dass die Plattform, auf der unsere Fotos gespeichert sind, in 10 oder 20 Jahren noch vorhanden sein wird.
Solche Probleme des Lebens mit Daten sind keine Gegenstände für Spekulationen über die Zukunft, sondern aktuelle Prüfungen. Diese vier Projekte zeigen uns verschiedene Dimensionen, wie wir uns gegen solchen Herausforderungen verhalten können und welche Fragen wir stellen müssen. Die Untersuchung der Machtverhältnisse, die hinter der An- und Abwesenheit von Daten stecken, sowie Kritik, Suche nach Alternativen und Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen den Technologien und der durchlebten Erfahrung helfen es, das Gewohnte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Das Material wurde in Zusammenarbeit mit dem Projekt Supernova vorbereitet.