Dem ideologischen Aufruf folgend, die UdSSR auf der Basis eines kollektivistischen Konzepts zu modernisieren, entstanden in den 1920er-Jahren neue urbane Typologien. Sie bildeten in einer radikal modernistischen Sprache die Grundlage für die sowjetische Städteplanung, für den Aufbau der Infrastruktur, den Massenwohnungsbau, die Errichtung öffentlicher Gebäude und für Orte der politischen Repräsentation, der Arbeit und Erholung. Diese Sprache wurde nach 1955 wieder aufgenommen und spiegelte sich auch in der Architektur wider: mit neuen und individualisierten Typologien, vom Pionierlager bis zum Haus der Kunst und vom Zirkus bis zum Hochzeitspalast. Es entstanden große Prestigeprojekte und monumentale Gebäude, die das sowjetische Konzept der neuen sozialistischen Gesellschaft repräsentieren sollten. In der Breschnew-Zeit nahm die sowjetische Gesellschaft jedoch einen westlicheren Lebensstil an, der das Ende des Gemeinschaftsethos der sowjetischen Ideologie beschleunigte. Schließlich blieben diese Bauten imposante Gesten, deren symbolische Integrationskraft nicht ausreichte, die Legitimität des Systems zu sichern. Der unlösbare Widerspruch zwischen dem imaginären Raum symbolischer politischer Autorität und dem realen Raum des Alltags läutete den Untergang des sowjetischen Imperiums ein.
Pionierlager Artek (Hursuf), Architekt*innen: A. Polyjanskij, W. Below, D. Wituchin, N. Gigowskaja, M. Lifatow, J. Minajew, K. Mironow, M. Sinjow // 1962
Palast für Bestattungsdienstleistungen (Kaunas), Architekt: A. Paulauskas // 1978
Industrialisierung des Raumes und Wohnraum für die Massen
In den späten 1950er-Jahren entwickelten sowjetische Architekt*innen und Ingenieur*innen das Fertigteil-System für den Wohnungsbau auf der Basis normierter Platten und Elemente, die in Industriebetrieben vorgefertigt wurden. Mit dem System I-464, das 1958 von Giprostroiindustrija gebaut wurde, war es etwa möglich, komplette Wohnblöcke aus nur 21 vorgefertigten Komponenten zu bauen. Überall in der UdSSR entstanden Industriebetriebe, in denen diese Komponenten produziert wurden, um für Millionen Familien Wohnungen zu bauen. Diese Betriebe wurden in den entlegensten Regionen errichtet, von Tallinn bis Wladiwostok, in Städten und auf dem Land, über den Polarkreis hinaus und in den südlichen Republiken der Sowjetunion. Im Zuge der Politik des sozialistischen Internationalismus wurden die Produktionsanlagen seit den frühen 1960er-Jahren auch in das kapitalistische und sozialistische Ausland exportiert, beispielsweise nach Jugoslawien, Afghanistan, in die Mongolei, nach Kuba und Chile. Die Gebäudekonstruktionen wurden in den Betrieben vor Ort an die herrschenden Klima- und Erdbebenverhältnisse adaptiert. In experimentellen Mikroregionen wurden die komplexen Standards im Rahmen einer kontinuierlichen Weiterentwicklung angepasst. Ende der 1970er-Jahre umfasste der Plattenwohnungsbau umfangreiche Projekte mit nationaler Spezifik, die eine große Vielfalt der Stadtentwicklung ermöglichten. Diese Station der Ausstellung zeigt die regionalen Varianten des Plattenwohnungsbaus sowie die Exportprojekte in Bildern und präsentiert den sowjetischen Plattenwohnungsbau als ein weltweites Phänomen.
Bebauung des Kalinin-Prospekts (Nowy Arbat) in Moskau, Architekten: M. Posochin, A. Mndojanz, G. Makarewitsch, B. Tchor, S. Ajrapetow, I. Pokrowski, J. Popow, A. Sajzew // 1967
Wohnbezirk Lasnamäe (Tallinn), Architekten: M. Port, M. Meelak, I. Raud, O. Schemchugow, W. Herkel // 1970–1976
Industrie
Die Industrie spielte für die Wirtschaft der UdSSR im Verlaufe ihrer Geschichte stets eine große Rolle. Auch die Industriearchitektur genoss im Staat höchste Priorität. Viele sowjetische Industriewerke und Projekte waren jedoch als geheim eingestuft und deshalb höchst selten auf den Seiten einschlägiger Architekturzeitschriften zu finden. Selbst heute ist der Zutritt zu vielen Industrieanlagen eingeschränkt und hindert Forschende und Historiker*innen oftmals daran, dieses Erbe zu untersuchen. Vor allem aus diesem Grund ist der sowjetische Modernismus in der Industriearchitektur kaum bekannt oder erforscht. Die von Studierenden des Fachbereichs Industriedesign verfassten Diplomarbeiten gehören zu den wenigen Quellen, die ein wenig Licht in diese Facette des architektonischen Erbes der UdSSR bringen.
Seit den 1940er-Jahren wurde die Atomenergie im sowjetischen Wirtschaftssystem und in der offiziellen Ideologie des Landes als einzigartiger Wirtschaftszweig betrachtet. In den 1960er-Jahren wurde die Atomenergie als „friedliches Atom“ gefördert, weil man sich davon einerseits genügend elektrische Energie für die Versorgung des größten Flächenlandes der Welt versprach und andererseits für das Wirtschaftswachstum und „die Überwindung des Kapitalismus durch den Kommunismus in friedlicher Koexistenz“. Da der Kalte Krieg jedoch ständig drohte, zu einem Dritten Weltkrieg zu eskalieren, wurde die Atomenergie zunehmend als Gefahr für die Menschheit wahrgenommen. Diese beiden Aspekte der Atomenergie manifestierten sich oft unbeabsichtigt in den Entwürfen für Atomkraftwerke, die von Studierenden des Moskauer Architekturinstituts in den 1960er-Jahren entwickelt wurden. Die Projekte feierten die großartigen wissenschaftlichen Leistungen und waren zugleich überschattet von der Möglichkeit einer katastrophalen Tragödie, wie sie 1986 in Tschernobyl Realität wurde.
Elektrotechnisches Roboterwerk, Architekt: I. Bowt // 1992
Eine neue Lebensweise
Die Wohnungsbaukampagne des sowjetischen Staats in der Nachkriegszeit ging weit hinaus über die Notwendigkeit, kostengünstige und standardisierte Wohnungen zu bauen. In der Chruschtschow-Ära rückte der häusliche Raum, in dem sich der Alltag und der Massenkonsum abspielten, in den Mittelpunkt des beruflichen und öffentlichen Interesses. Die für die Gebäudekonstruktionen zuständigen Behörden befassten sich mit vielen sozialen und ästhetischen Fragen der Organisation des täglichen Lebens. Die sowjetische Familie als wichtigstes Subjekt stand dabei an erster Stelle. Die Anforderungen, Bedürfnisse und Wünsche der Familie und deren Größe wurden genau untersucht und in den typologischen Forschungen der Häuser- und Wohngebietsplanung berücksichtigt. Es wurden standardisierte Wohnungsgruppen entwickelt, die sich an die Familiengröße anpassen ließen – von „kleinen Familien“ ohne Kind oder mit einem Kind bis zu Großfamilien mit mehreren Kindern. Die Soziologie wurde zum zentralen Mediator und vermittelte zwischen den Architekt*innen und der Familie. Die soziologischen Diskussionen der 1960er-Jahre lieferten den Projektierenden und Planenden einen einzigartigen Einblick in die Welt der Familie. Sie befassten sich jedoch auch mit allgemeineren Fragen des Alltags im Sozialismus. Gebäudekonstruktionen wie beispielsweise das „Haus der neuen Lebensweise“ boten Familien sowohl Möglichkeiten für das soziale Leben mit den Nachbar*innen (zu bestimmten Zeiten, beim gemeinsamen Essen oder kollektiver Erholung) als auch Möglichkeiten des Rückzugs.
Kunst und Kultur für die Massen
Die Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft – während des „Tauwetters“ unter Chruschtschow in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre – sorgte für neue Energie und Experimente in allen Bereichen der Kultur. Es folgten die sogenannten „süßen Sechziger“. Mit dem Beginn der Breschnew-Ära schloss sich jedoch nicht nur das Fenster der neuen Möglichkeiten. Es war auch das Ende des Prager Frühlings 1968 und des kurzen Aufblühens einer progressiven, offiziell sanktionierten Jugendkultur in der sowjetischen Einflusssphäre. Die vorgeschriebene Ästhetik war wiederhergestellt und alternative Bewegungen wurden unterdrückt.
Infolgedessen wurde die offizielle Kunst immer formeller und seelenloser. Der Modernismus, der an den Kunst- und Musikschulen unterrichtet und in den überall neu entstehenden Theatern, Konzerthallen und Klubhäusern aufgeführt wurde, war im Gegensatz zum revolutionären Konstruktivismus der 1920er-Jahre eklektisch und zahm. Das Konzept einer proletarischen Kultur, das durch den sozialistischen Realismus der Stalin-Ära stark beschnitten worden war, kehrte mit einem anderen ästhetischen Programm zurück – einer Kultur der klassischen Erziehung und des Massenspektakels. Dazu zählten groß angelegte Aufführungen der Volkskultur getreu der offiziellen Parteilinie, die ständig wachsende Freude und den Optimismus des sowjetischen Lebens, die Treue zum Land Lenins und zur kommunistischen Partei KPdSU zum Ausdruck brachten. Ab Mitte der 1960er-Jahre formte sich jedoch in der Privatsphäre und im Untergrund eine Gegenkultur. Unter aufmerksamer Beobachtung des Geheimdienstes KGB fand dort die Avantgarde des späten Sozialismus Zuflucht, bis die Illusionen und die postmoderne Euphorie der Perestroika-Jahre an Bedeutung gewannen.
Musikakademie (Aschgabad), Architekt*innen: W. Orlow, A. Sychewoj, A. Nikolajewa // Projektierung: 1965 // Bau: 1975–1992
Erholung und Freizeit
Die Ideolog*innen des späten Sozialismus entwickelten ein neues Konzept der „sozialistischen Lebensweise“, deren Hauptmerkmale affektiv und moralisch waren. Dieses Konzept prägte das Ende der 1960er- und die 1970er Jahre. Viele Veranstaltungen, die von Arbeitskollektiven oder der Staatspartei organisiert wurden, boten den Menschen ritualisierte Formen für Freizeit und Erholung. Dafür sah die Stadtplanung in den Mikrorajons Freizeit- und Erholungsorte vor. Es gab Parks, Spielplätze, Höfe und öffentliche Gebäude für Geselligkeit und Kommunikation. Kantinen und Cafés sicherten die schnelle Versorgung mit Essen, während die Restaurants streng reglementiert und sehr teuer waren. In den staatlichen Konzepten galt Konsum als soziales Recht der Bürger. Es mangelte jedoch stets an Konsumgütern.
Im Rahmen der sowjetischen Variante des Nachbarschaftskonzepts wurden überschaubare Wohngebiete geschaffen, damit die Bewohner*innen miteinander kommunizieren. Selbstverwaltungen wie „Wohnbüros“ sollten kollektive Formen des Zusammenlebens fördern. Anders als im Westen bot die gesellschaftliche Realität jedoch ein völlig anderes Bild. Die meisten Bewohner*innen versuchten, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Das soziale Leben der meisten Haushalte fand hauptsächlich in der Familie und in Freundeskreisen statt, in selbst geschaffenen Gemeinschaften außerhalb der Strukturen der Mikrorajons in Form von Wohnvierteln, Zirkusarenen, Mega-Kinos, Gedenkparks oder Schachhäusern, die in dieser Zeit entstanden.
Gestaltung eines Abschnitts des Boulevards Abowjan-Straße zwischen Tumanjan-Straße und Moskowjan-Straße (Jerewan), Architekten: Darbinjan, D. Awetissjan, K. Martirossjan // 1962–1966
Balneologische Klinik (Druskininkai), Architekten: R. Schilinskas, A. Schilinskene // 1979–1981
Ideologische Bauten
Eines der wichtigsten Konzepte des stalinistischen sowjetischen Städtebaus bestand darin, Räume für Feste zu schaffen, die gleichzeitig die Einheit von Volk und Partei stärken würden. Aus diesem Grund hatten Mega-Projekte und monumentale Bauten für den Staat und die Parteiführung weiterhin höchste Priorität. Überall in der Sowjetunion fanden große Kundgebungen und Paraden statt, die das kollektive Ethos betonten und auf diese Weise die Herrschaft der Partei legitimieren sollten. Für diese Art öffentlicher Demonstrationen wurden große Boulevards angelegt. An gigantischen öffentlichen Plätzen entstanden Regierungs- und Parteigebäude, Lenin-Museen, Kulturpaläste und Denkmäler. Diese Plätze sollten das politische Drehkreuz der Bürgerschaft bilden, tatsächlich vermittelten sie jedoch ein Gefühl individueller Hilflosigkeit angesichts dieser expansiven staatlichen Autoritäten.
Gedenkmuseum für Verteidiger von Kaukasus-Pässen (Karatschai-Tscherkessien), Architekten: W. Davitaya, A. Chikovani // Bildhauer: G. Kaladse // 1963–1968
Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Kirgisischen SSR (heute Präsidentenpalast) (Frunse), Architekten: U. Alymkulow, A. Zusik, O. Lasarew, R. Muchamadiew, S. Sultanow // 1984
Wettbewerbsprojekt für das Lenin-Museum in Duschanbe, Architekt: J. Parchow // 1980er Jahre
Deutsch-sowjetische Beziehungen
Die Revolution 1917 verwandelte die ehemaligen Gebiete des russischen Imperiums in ein Experimentierfeld für den Aufbau einer neuen Welt. Mitte der 1920er-Jahre knüpfte die sowjetische Moderne Kontakte zu ihren europäischen Kolleg*innen. Insbesondere Moisei Ginzburg spielte dabei eine wichtige Vorreiterrolle. Die ersten Kontakte entwickelten sich zu einer engen Zusammenarbeit vor allem mit Deutschland, wo die Wohnungskrise eine intensive Suche nach rationalem Design und Aktivitäten im industriellen Wohnungsbau ausgelöst hatte. Die Bauhaus-Schule wurde zum Symbol dieser Bestrebungen. Gleichzeitig wurden die neuen Bauprinzipien in großem Maßstab in Frankfurt am Main eingeführt. Unter der Leitung von Ernst May entstanden dort in rasanter Bauweise mehrere standardisierte Wohngebiete.
Anfang der 1930er-Jahre lud die Sowjetunion Ernst May und andere Architekt*innen und Konstrukteur*innen ein, gemeinsam am schnellen Aufbau von Städten und Siedlungen für die neu errichteten Fabrikkomplexe zu arbeiten. Darunter waren Fachleute wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotsky, berühmt für ihr funktionalistisches Design der Einbauküche „Frankfurter Küche“, ihr Mann Wilhelm Schütte sowie die Architekten Mart Stam und Hans Schmidt. Auch Architekt*innen und Designer*innen der Bauhaus-Schule wie der zweite Direktor Hannes Meyer und eine Reihe seiner Studierenden kamen in die Sowjetunion. Sie waren an den Entwürfen Dutzender Städte und Gebäude beteiligt und trugen zur Etablierung des modernistischen Designs in der sowjetischen Einflusssphäre bei, das mit all seinen Vor- und Nachteilen die architektonische Landschaft des Landes über viele Jahre bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion prägte.
Ende 1930 wurden Ausländer*innen aus wichtigen Positionen der sowjetischen Gesellschaft entfernt. Viele Architekt*innen aus dem Ausland, die im Land geblieben waren oder es nicht verlassen durften, wurden während der stalinistischen Säuberungen verhaftet oder ermordet. Einige wenige wie Philipp Tolziner überlebten diese Jahre und arbeiteten weiterhin in Konstruktionsbüros und Ateliers.
Projektierung Hochschule für Energiewesen (Iwanowo-Wosnessensk), Staatliche Hochschule für Planung und Bau technischer Hoch- und Fachschulen (Giprowtus), an der Hannes Meyer und Absolvent*innen der Bauhaus-Schule tätig waren // 1931
Eröffnung der Ausstellung „Bauhaus in Dessau 1928–1930, die Ära Hannes Meyer“ im Museum der Neuen Westlichen Kunst (Moskau), von links nach rechts: K. Alabjan, G. Holz, unbekannt, A. Burow, H. Meyer, unbekannt, W. Simbirzew, W. Semenow, F. Petrow // 1931
Sowjetischer Orientalismus
Die Modernist*innen beabsichtigten, eine universelle architektonische Sprache zu schaffen, die für jeden lokalen Kontext geeignet ist. Unter den Bedingungen Zentralasiens und des Kaukasus war diese Aufgabe jedoch schwer zu meistern. Zum einen exportierten die überwiegend aus dem europäischen Russland stammenden Planenden und Architekt*innen ihre in Moskau entwickelten Städtebaumodelle. Zum anderen wurde angenommen, dass im Zuge des Aufbau des Sozialismus an Orten mit einer mehrheitlich islamischen oder nomadischen Bevölkerung Nationalstaaten nach europäischem Vorbild entstehen würden – mit eigenen kulturellen Institutionen und einer spezifischen Architektur, die der imaginären Gemeinschaft dienen und sie repräsentieren sollte. Diese Direktiven zur Nationenbildung und sozialen Modernisierung waren oft von exotischen Vorstellungen bezüglich der lokalen ethnischen Gruppen geprägt, die europäische orientalistische Klischees reproduzierten. Der Architektur kam dabei eine doppelte Rolle zu. Sie sollte die imaginäre „nationale Mentalität“ widerspiegeln und gleichzeitig als wirksames Instrument der Veränderung kultureller Gewohnheiten und Traditionen zur Bildung „sozialistischer Nationen“ beitragen.
Lenin-Museum (Taschkent), Architekt*innen: E. Rosanow, W. Schestopalow, in Kooperation mit J. Boldytschewa // 1968–1970, sowjetische Postkarte aus dem Archiv B. Tshuchowitsch
Ausstellungssaal des usbekischen Künstlerverbands (Taschkent), Architekten: R. Chairutdinow, F. Tursunow // 1974, sowjetische Postkarte aus dem Archiv B. Tshuchowitsch
Wohnbebauung (Tadschikistan), Architekten: J. Parchow, D. Tairow, A. Finogejew // Anfang 1980er Jahre
Parallele Ideologie
Die offizielle Entscheidungsgewalt über die sowjetische Architektur hatte die zentrale Bürokratie in Moskau. Die regionalen und lokalen Behörden eroberten jedoch zunehmend gewisse Freiräume bei der Umsetzung der Entwürfe und Bauten. Moskau genehmigte zwar geplante Projekte und deren Finanzierung. In der realen Verwaltungspraxis taktierten die regionalen Behörden dann aber mit verschiedensten Manövern, um die Verwendung der verfügbaren Ressourcen zu bestimmen. Mit gefälschten Berichten etwa setzten lokale Funktionär*innen letztlich ihre Prioritäten gegenüber dem zentralen Regime durch.
Vor allem in den Sowjetrepubliken im Kaukasus, in Zentralasien und im Baltikum entstanden so besondere Architekturstile, die volkstümliche Elemente mit der nationalen Architekturtradition und mit industriellen modernistischen Baupraktiken kombinierten. Wenn die Architekt*innen sich dabei auf „historische Wurzeln“ besannen, war das nicht nur eine Kritik am monotonen Funktionalismus, sondern auch den aufkeimenden nationalen Ideologien dieser Republiken geschuldet.
Digitalgrafik: Bebauungsplan einer Kolchose, A. Tschernow // 2010er-Jahre
Organisation des Alltags
An den Stadträndern wurden mit dem System des Plattenwohnungsbaus riesige Wohnviertel errichtet, um den dramatischen Bevölkerungszuzug in die Stadtzentren zu bremsen. Während die urbane sozialistische Elite, wie Politiker*innen, Militärs und Intellektuelle, zumeist in prestigeträchtigen Gebäuden im Stadtzentrum wohnte, lebten die meisten Einwohner*innen in Gemeinschaftswohnungen oder in den großen Plattenbausiedlungen an den Stadträndern. Der Bau der Verkehrsinfrastruktur und der sozialen Einrichtungen konnte mit diesem dynamischen Wachstum der städtischen Peripherie nicht Schritt halten. 1955 wurden die grundlegenden „Regeln und Normen für Stadtplanung und Stadtentwicklung“ eingeführt. Diesen Regeln und Normen zufolge sollten die Städte in funktionale, durch Grünflächen getrennte Zonen für Wohnen, Industrie, Verkehr und kommunale Dienstleistungseinrichtungen aufgeteilt werden. Siedlungen wurden zu einem Wohngebiet mit eigenen Geschäften, Krankenhäusern und Kulturzentren zusammengefasst. Die Stadtzentren waren hingegen mit Kaufhäusern, Theatern, Hotels und Schulen speziellen Bedürfnissen vorbehalten.
Seebahnhofsgebäude (Omsk), Architekten: A. Michailow, S. Pekarski, T. Sadowski// 1964
Wissenschaft, Technologie und Fortschritt
In der Ära des Kalten Krieges hatten wissenschaftliche und technische Expertise für die sowjetische Regierung höchste nationale Priorität und wurden mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt. Die wichtigste Institution war die Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1987 gehörten ihr 250 Forschungsinstitute und 60.500 fest angestellte Forscher*innen an. In allen Republiken wurden neue Forschungsinstitute, Universitäten und Architekturinstitute gegründet, die eine zunehmend selbstbewusste lokale Elite ausbildeten.
Der Kreml stattete Wissenschaftler*innen, Techniker*innen und Architekt*innen mit den Ressourcen aus, die sie benötigten, um ihre Fachbereiche nach dem Vorbild der in Westeuropa oder in den USA erzielten Fortschritte und darauf aufbauend zu modernisieren. In dieser Zeit entstanden überall im Land geschlossene Forschungsstädte. In den „Naukogradi“ (Wissenschaftsstädten) oder „Akademgorodki“ (Akademiestädten) wurde geheim geforscht, und in den geschlossenen Städten des Militärs entwickelten die Forschenden militärische Technologien, Atomreaktoren und später Raumschiffe.
Bei Abweichungen in der bildenden Kunst und der modernen Architektur war die kommunistische Partei weiterhin sehr restriktiv. Der als ideologiefrei betrachteten Wissenschaft wurde jedoch weitestgehend freie Hand gelassen. Das spiegelt auch der experimentelle Charakter vieler für die Wissenschaft und Technologie nach 1955 gebauten Komplexe wider.
Institut für wissenschaftliche Information der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Moskau), Architekten: J. Belopolski, E. Wulych, L. Misoschnikow, F. Paschtschenko // 1978
Karl-Marx-Bibliothek (Aschgabad), Architekten: A. Achmedow, B. Spak, W. Aleksejew // 1960– 1975
Sport
Der Sport spielte in der UdSSR in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Rolle. Für die sowjetischen Führenden war der Sport ein wichtiger Baustein beim Aufbau des Sozialismus und bei der Schaffung des „Homo Sovieticus“. Im Zeitalter der Massenproduktion stellte eine gesunde und fitte Bevölkerung eine wichtige Ressource dar. Die sowjetische Ideologie jener Zeit vertrat die Auffassung, dass der Sport für eine Harmonie von Körper und Geist sorgt und Individuen schafft, die mit sich selbst im Gleichgewicht sind.
Turn- und Sportfeste sowie die vierjährigen „Sozialistischen Olympiaden“, auch als Spartakiaden bekannt, waren in der Sowjetunion spektakuläre öffentliche Veranstaltungen – neben Parteikundgebungen, Militärparaden und Demonstrationen. Die internationalen Erfolge sowjetischer Sportler*innen, vor allem bei den Olympischen Spielen, war eine Quelle des Nationalstolzes. (Der Boykott der Moskauer Olympischen Spiele 1980 durch die westliche Welt wurde deshalb als aggressiver Akt der Demütigung aufgefasst.) Die vielen Stadien und Sportarenen gehören wie die Kulturpaläste zu den eindrucksvollsten und fortschrittlichsten Bauten der späten Sowjetunion.