Ruben Arewshatjan und Georg Schöllhammer
Sowjetischer Modernismus – Parallelen zwischen Architektur und Urbanisierung

Korpus des Hauses der Kreativität für Schriftsteller*innen am Sewansee, Halbinsel Sewan, Armenien | Architekt: Georg Kotschar („Jerewan‑Projekt“), 1963–1968
Korpus des Hauses der Kreativität für Schriftsteller*innen am Sewansee, Halbinsel Sewan, Armenien | Architekt: Georg Kotschar („Jerewan‑Projekt“), 1963–1968 | © Nationalarchiv Armenien

Seit einigen Jahren stößt die sowjetische modernistische Architektur auf ein immer größeres internationales Interesse, sowohl in Fachkreisen als auch bei der Öffentlichkeit. Dieses wachsende Interesse wird zudem von mehreren Faktoren beeinflusst – allen voran von der globalen Entdeckung einer neuen, äußerst reichen Schicht des modernistischen Architekturerbes, das sich infolge des Kalten Krieges losgelöst von der westlichen Tradition entwickelt hat.  Nach dem Verlust vieler großartiger Gebäude aus der sowjetischen Zeit realisieren die postsowjetischen Gesellschaften mehr und mehr nicht nur deren Bedeutung als Architektur- und Geschichtsdenkmäler, sondern auch als soziokulturelle Komponenten ihrer kollektiven Identität.

Von Ruben Arewshatjan und Georg Schöllhammer

Seit einigen Jahren stößt die sowjetische modernistische Architektur auf ein immer größeres internationales Interesse, sowohl in Fachkreisen als auch bei der Öffentlichkeit. Dieses Interesse an der modernistischen Architektur in den Sowjetrepubliken nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch mehrere wichtige internationale Forschungsprojekte und Ausstellungen geweckt. Dazu zählen die 2013 begonnene Forschungsinitiative Lokale Modernitäten, die Ausstellung Sowjetische Moderne 1955–1991: Unknown Histories im Architekturzentrum Wien im Jahr 2012, die Ausstellung Trespassing Modernities im Jahr 2013 im SALT, Istanbul, sowie Veröffentlichungen.

Dieses wachsende Interesse wird zudem von mehreren Faktoren beeinflusst – allen voran von der globalen Entdeckung einer neuen, äußerst reichen Schicht des modernistischen Architekturerbes, das sich infolge des Kalten Krieges losgelöst von der westlichen Tradition entwickelt hat. Dieses Erbe ist erst seit Kurzem in den Brennpunkt der internationalen Forschung sowie fach- und populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen gerückt und zum Gegenstand des lokalen Denkmal- und Kulturerbeschutzes geworden. Nicht nur im Ausland ist das Interesse am sowjetischen Modernismus gewachsen, auch im Inland ist es groß. Nach dem Verlust vieler großartiger Gebäude aus der sowjetischen Zeit realisieren die postsowjetischen Gesellschaften mehr und mehr nicht nur deren Bedeutung als Architektur- und Geschichtsdenkmäler, sondern auch als soziokulturelle Komponenten ihrer kollektiven Identität. 

Während der sowjetische Modernismus weltweit vor allem ein viel diskutiertes Thema ist, stellt er für die russischen Regionen und postsowjetischen Republiken ein ungelöstes Problem dar. Der Verlust und der dramatische Wandel des urbanen Umfelds lösen in der Öffentlichkeit Besorgnis aus. Zunehmend initiieren lokale Gruppen Forschungsprojekte, führen Diskurse über urbane Themen, engagieren sich Bürgerrechtsbewegungen für den Schutz modernistischer Architekturdenkmäler. Nicht selten lösen diese Initiativen neue Formen des Protests aus – gegen engstirnige neonationalistische Politik und die Dominanz wirtschaftlicher Interessen an modernen soziokulturellen Konstrukten.

Diese neue Lesart geht einher mit einem globalen Interesse am funktionalen Modernismus beim Bau urbaner und geopolitischer Peripherien. Noch wichtiger ist sie jedoch regional: für ein neues Verständnis der inneren Widersprüche der sowjetischen und der modernen Gesellschaft sowie der Realitäten imperialer Strukturen, die zu ihrer Korrosion beigetragen haben. Die lokale Lesart der sowjetischen Stadt entlarvt zugleich viele Parallelen in der Entwicklung der Hauptstädte der Nachfolgestaaten.

Die Geschichte und die anschließende Transformation der Architektur und des urbanen Systems der Städte in postsowjetischen und postsozialistischen Nationen offenbaren aber noch viel komplexere Themen: umfassende kulturelle und gesellschaftspolitische Aspekte, Widersprüche, Dilemmata und Fragen modernistischer Visionen des 20. Jahrhunderts im weltweiten Kontext, die noch unbeantwortet sind. 

Inspiriert und genährt von den revolutionären Visionen einer sozialen Utopie in Architektur und Städtebau schuf die sowjetische Avantgarde einen neuen Lebensstil für die alternative Gesellschaftsordnung. Dem ideologischen Ruf nach Modernisierung in der UdSSR in den 1920er-Jahren folgend, entstanden in einer radikal anderen und modernen Sprache neue Typologien von Stadtplänen, Infrastruktur, Massenwohnungsbau, öffentlichen Bauten, Orten der politischen Repräsentation, von Arbeitsstätten sowie Gebäuden für geselliges Beisammensein und Erholung. Die diversen konzeptuellen Ansätze und Diskurse zwischen Architekt*innen, Projektierungsgruppen und Gemeinden erreichten nicht nur die neu gegründeten Sowjetrepubliken, sondern förderten auch den intensiven Gedanken- und Praxisaustausch zwischen den europäischen Architekt*innen und Architekturschulen (wie Bauhaus und Vchutemas), die sich von den Ideen des Aufbaus einer neuen Lebensordnung inspirieren ließen. Die sowjetische Architektur jener Zeit war ein untrennbarer Bestandteil des globalen modernistischen Diskurses und beeinflusste ihn in hohem Maße. 

Mit dem schrittweisen politischen Paradigmenwechsel in Europa und der UdSSR in den 1930er-Jahren gerieten die revolutionären Visionen der Kunst, Kultur und Architektur in autoritären und konservativen politischen Regimen zunehmend unter Druck und wurden konservativen Ideologien unterworfen. Fast zeitgleich wurden die modernistischen Bewegungen und die experimentelle Avantgarde in Deutschland und der Sowjetunion dämonisiert und kriminalisiert, und man beschuldigte sich gegenseitig der schädlichen Einflussnahme. Dieser Prozess trug nicht nur dazu bei, die ideologischen und sozioökonomischen Systeme zu polarisieren, sondern schuf auch eine kulturelle und – in gewisser Hinsicht – zivilisatorische Demarkationslinie zwischen der UdSSR und dem Westen: gefolgt von der Geschichte der Teilung und einer spezifischen ideologischen Positionierung gegenüber der Moderne. Diese Haltung setzte sich in der Zeit des Kalten Krieges fort in der jeweils dominanten Wahrnehmung der geopolitischen, historischen und kulturellen Teilung der Welt – in den fortschrittlichen und in den rückschrittlichen Teil. 

Nachdem in der UdSSR die Architektur der Ära des sozialistischen Realismus verworfen worden war, wurden zwar die unterbrochenen Diskurse über einen neuen Lebensstil und die modernistischen Prinzipien nach 1955 wieder aufgenommen. Architektur und Bauwesen litten jedoch bis in die späten Jahre der UdSSR unter der ökonomischen Krise und schwindenden Ressourcen. 

Die neue Urbanisierung wurde von einer Ideologie des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts angetrieben, in den lokalen Planungsbüros der Republiken entwickelt und in Normen und Standards der Bauindustrie umgesetzt. Die Architekt*innen experimentierten mit Konzepten der internationalen Architektur und nahmen Anleihen beim unterdrückten Vermächtnis des frühen sowjetischen Modernismus der 1920er-Jahre. Schnell entstand eine eigene sowjetische Sprache des späten Modernismus.

In den 1960er-Jahren wuchs der kritische Widerspruch gegen diese Art der Industrialisierung von Raum und Architektur. Auf der Suche nach regionaler oder nationaler Identität distanzierten sich Architekt*innen und lokale Eliten vom offiziellen Kanon der sowjetischen Architektur. In den Republiken formte sich auf diese Weise eine Architektur-Avantgarde, die der vorherrschenden Homogenisierungspolitik der zentralen Bürokratie trotzte. Es entstanden mehrere Versionen des Modernismus – eine lokale Moderne und eine sowjetische Hybridmoderne.

In den 1970er-Jahren kam es erneut zu einem Paradigmenwechsel in der Architektur. In der Breschnew-Zeit nahm die sowjetische Gesellschaft einen westlicheren Lebensstil an. Dieses Verhalten infiltrierte das tägliche Leben, indem es das Gemeinschaftsethos der sowjetischen Ideologie ablehnte, und spiegelte sich auch in der Architektur wider: mit neuen und individualisierten Typologien, vom Pionierlager bis zum Haus der Kunst und vom Zirkus bis zum Hochzeitspalast.

Das kollektive Projekt, eine sowjetische Moderne zu schaffen, endete in den frühen 1990er-Jahren abrupt mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Die meisten utopischen Projekte dieser Moderne blieben Fragmente oder scheiterten letztlich. Viele der gebauten Strukturen, Formen und Erfolge, die mit diesem Konzept assoziiert werden, verfallen. Andere wurden in den ersten Jahren der postsozialistischen Marktwirtschaft in den Nachfolgestaaten Opfer der ihnen negativ gesinnten öffentlichen Meinung. Die Generalpläne und die modernistische Architektur der sowjetischen Ära sind jedoch weiterhin wichtige Bestandteile der zeitgenössischen städtischen Architektur und der Identität der Städte im gesamten früheren Imperium der UdSSR, weshalb sich eine junge Generation von Architekt*innen, Stadtplaner*innen, Kunsthistoriker*innen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen für deren Schutz und Neuinterpretation einsetzt.

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