Digitalisierung der Schule
Aufforderung zum Tanz! Damit neue Medien nicht alte Pädagogiken optimieren
Nachdem das Thema in Deutschland lange ignoriert wurde, sehen wir heute nicht einen Hype, sondern geradezu Hysterie zur Digitalisierung der Schule. Die Forderung „Schule muss digitaler werden!“ ist allgegenwärtig. Politik und Wirtschaft, Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern, Journalisten und Stiftungen haben eine derartige Aufbruchsstimmung, dass es einem unheimlich werden kann. Das Unbehagen ist begründet. Denn wenn man hinter die oberflächliche Einigkeit schaut, entdeckt man einen unausgesprochenen, bisweilen vielleicht auch unbewussten Konsens. Er lautet in etwa so: „Wir modernisieren die Schule nur an der Oberfläche. Wir optimieren mit digitalen Mitteln unser traditionelles Verständnis von Lernen und Lehren. Wir gießen den alten Wein in Hightech-Schläuche. Die Grundannahmen unserer Schule tasten wir nicht an.“
Von Jöran Muuß-Merholz
Digital ist besser?
In bestimmter Hinsicht mag die Digitalisierungseuphorie begründet sein. Mit bunten Apps kann man vielleicht besser Vokabeln und Matheaufgaben trainieren. Mit Erklärvideos lassen sich frontale Belehrungen beliebig oft wiederholen. Mit Smartboards kann das Tafelbild durch PowerPoint, Animationen und Videos ersetzt werden. Mit Lernplattformen lassen sich Materialien und Kommunikationen cloudbasiert vervielfältigen und beschleunigen.
Die entscheidende Frage lautet: Optimieren wir hier nur die Schule des 19. und 20. Jahrhunderts? Verhindert die Rede von „digitaler Bildung“ sogar den notwendigen Paradigmenwandel? Für Bildungsziele wie Aufklärung und Mündigkeit, Kreativität und Vielfalt, Freiheit und Verantwortung braucht es keine Vereinfachung der digitalen Welt, sondern Ansätze, die das offene Netz umarmen, den Umgang mit Vielfalt und Chaos fördern, selbstbestimmte Aktivitäten und kollaborative Projekte ermöglichen. Und dabei geht es nicht nur um Werkzeuge und Methoden. In einer Gesellschaft im digitalen Wandel müssen auch unsere Bildungsziele und Lerninhalte erst recht auf den Prüfstand.
Digitalisiert wird, was am einfachsten digitalisiert werden kann
Mit digitalen Medien werden derzeit in der Schule vor allem zwei Bereiche modernisiert: Input mit Veranschaulichung sowie Übung mit Feedback. Beim Input kann der frontale Vortrag durch digitale Videos ersetzt werden, in denen ein Gegenstand mithilfe verschiedener Visualisierungen erklärt wird. Durch digitale Übungen können Verständnis und Routinen trainiert werden, wobei die Programme auch gleich Feedback geben und das Niveau anpassen können.
Input und Übung, hier liegen derzeit die Stärken digitaler Medien. Damit wird digitalisiert, was am einfachsten digitalisiert werden kann. Allerdings sind das nicht die Felder, auf denen der Reformbedarf am größten wäre, etwa die Förderung von fächerübergreifenden Skills oder der Vorbereitung auf lebensbegleitendes, selbstorganisiertes Lernen. Das Grundverständnis der traditionellen Schule bleibt unangetastet.
Reformorientierte Schulen haben dagegen bereits eine Pädagogik entwickelt und erprobt, die über Input und Übung hinausgeht. Solche Schulen finden sich nicht nur dort, wo „Reformschule“ über dem Eingang steht, sondern an vielen Orten. Viele von ihnen sind im Netzwerk „Blick über den Zaun“ aktiv oder im Wettbewerb „Der Deutsche Schulpreis“ ausgezeichnet worden. Noch häufiger gibt es einzelne Akteure innerhalb der Schulen, die zwar nicht die ganze Schule umkrempeln können, aber ihren Unterricht neu denken. Ihnen allen ist gemeinsam, dass den Lernenden eine aktive und selbstbestimmte Rolle zugemutet wird. Sie lernen mit Selbststeuerung und Freiarbeit, arbeiten in Projekten und an Problemen der „echten Welt“, oft in Zusammenarbeit mit anderen und orientiert an kreativen Produkten. In diesen Bereichen gibt es zwar großartige Beispiele für den Einsatz digitaler Medien, aber sie sind Ausnahmen von der Regel. [1]
© Hannah Birr und Jöran Muuß-Merholz für joeran.de, Lizenz CC BY 4.0
Bildungsziele für das 21. Jahrhundert
Häufig wird im Kontext des digitalen Wandels die These vertreten, dass Fachwissen zugunsten von anderen Fähigkeiten in den Hintergrund trete. Dass die Realität anspruchsvoller ist, erklärt das Buch „Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen“ (Fadel u.a. 2017) [2]. Darin zeigen die Autoren, dass Wissen weiterhin wichtig bleibt (und dass sogar neue Wissensbereiche hinzukommen), dass aber neben Wissen noch drei weitere Dimensionen wichtig sind.
Die vier Dimensionen umfassen:
- Wissen – sowohl traditionelles Wissen (z.B. Mathe, Sprachen, Kunst) als auch modernes Wissen (z.B. Ökonomie) und Querschnittsthemen (z.B. Medienkompetenz)
- Skills – damit sind die vier Ks gemeint: Kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation, Kollaboration
- Charakter – also Fragen der Persönlichkeit wie z.B. Achtsamkeit, Resilienz, Neugier
- Meta-Lernen – verstanden als das Lernen über das Lernen
Wenn man gegenwärtig die Diskussion um digitale Medien in der Schule auf die Bildungsziele hin abklopft, findet man das Thema nur an den Stellen dieses Gesamtbildes verortet, die der traditionellen Schule entsprechen. Der Fachunterricht soll verbessert, die Medienkompetenz unterstützt, der Fachkräfte-Nachwuchs gefördert werden. Von den anderen Bildungszielen ist, auch und vielleicht gerade im Kontext der Digitalisierung, nur selten die Rede.
Nicht zu viel Veränderung auf einmal
Aus Sicht der traditionellen Schule ist nachvollziehbar, dass mit der Digitalisierung eher das alte Verständnis der Lernformen und -zielen verfestigt wird. Es lässt sich nur ein begrenzter Umfang von Veränderungen gleichzeitig angehen. Und wenn die Änderung derzeit „Digitalisierung“ heißt, dann ist es gerade angesichts der derzeitigen Rahmenbedingungen einfacher, alles andere möglichst unverändert zu lassen. Wenn man schon mit einem Bein in der Luft schwebt, dann will man zumindest für das andere Bein stabilen und vertrauten Boden spüren. Und so kommt es, dass die aktuellen Entwicklungen in Sachen Digitalisierung alte Pädagogiken optimieren, vielleicht zementieren neue digitale Infrastrukturen diese sogar.
Schule im digitalen Zeitalter ist reformorientierte Schule
Für Akteure in reformorientierten Schulen ist selbstverständlich: Wir brauchen ein anderes Verständnis hinsichtlich des WAS und des WIE des Lernens. Das WAS muss auf ein umfassenderes Bildungsverständnis abzielen, beispielsweise im Sinne der oben beschriebenen vier Dimensionen. Das WIE muss auf ein Empowerment der Lernenden setzen, die ihr Lernen selbst in die Hand nehmen. Und dieses WAS und WIE stehen in direkter Wechselwirkung zueinander.
Die folgende Gegenüberstellung stammt von der Lehrerin und Fortbildnerin Lisa Rosa (2017) [3]. Auf Basis der sich ändernden gesellschaftlichen Anforderungen zeigt sie, dass sich unsere Anforderungen an Schule und Lernen im digitalen Zeitalter grundlegend von dem unterscheiden, was wir im bisherigen, vom Buchdruck geprägten Zeitalter praktiziert haben. Die in der Abbildung vom Autor hinzugefügten wechselseitigen Pfeile weisen darauf hin, dass es nicht darum geht, dass die Elemente der linken Seite abgeschafft und ersetzt werden. Die neuen Perspektiven auf der rechten Seite kommen hinzu, ergänzen und verändern unser Verständnis von Schule und Lernen.
Schule und Lernen im Buchdruckzeitalter |
Schule und Lernen im digitalen Zeitalter |
♦ lehrerzentriert ♦ belehrend ♦ systematisch ♦ objektivistisch ♦ dekontextualisiert ♦ allein ♦ festliegendes Ergebnis ♦ vorgegebene Bedeutung ♦ Denkmodell: Büffeln |
♦ lernerzentriert ♦ erforschend ♦ problemorientiert ♦ perspektivisch ♦ kontextualisiert ♦ im Austausch ♦ ergebnisoffen ♦ persönlicher Sinn ♦ Denkmodell: Rauskriegen |
In dieser Gegenüberstellung ließe sich die Überschrift „Buchdruckzeitalter vs. digitales Zeitalter“ austauschen. Stattdessen könnte dort auch „Traditionelle Schule vs. reformorientierte Schule“ stehen. Jeder Punkt der Liste würde weiterhin genauso gut passen!
Es sieht also so aus, als ob die reformorientierten Schulen wie geschaffen für das digitale Zeitalter sind. Bedeutet das, dass mit zunehmender Digitalisierung quasi „automatisch“ mehr reformerische Pädagogiken Einzug in die Schulen halten? Keineswegs. Im Moment sieht es eher nach dem Gegenteil aus: Mit neuen Medien wird die alte Pädagogik optimiert!
Aufforderung zum Tanz
Reformorientierte Pädagog*innen müssen sich dringend stärker in die Debatte um Digitalisierung einbringen. Denn ihr Verständnis von Schule ist prädestiniert für das digitale Zeitalter, während die traditionellen Schulen vielleicht ihre Technik, aber nicht ihre Pädagogik modernisieren.
Im Moment sehen wir unter den reformorientierten Akteuren zwei Richtungen: Die eine Gruppe entscheidet sich für die Digitalverweigerung, während eine andere Gruppe die digitalen Medien vielleicht nicht umarmt, aber doch zumindest erprobt. Beide Gruppen müssen sich zusammentun. Denn die Verweigerer laufen Gefahr, in ihrer Ablehnung die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Medien und den Bezug zur echten Welt außerhalb der Schule zu verlieren. Die Befürworter müssen aufpassen, dass ihr Blick auf das Lernen nicht von den Verführungen der digitalen Medien verengt wird, denn: Auch mit modernsten Medien lässt sich eine altmodische Pädagogik verfolgen.
Für alle Schulen, auch und vielleicht gerade für die besonders reformorientierten unter ihnen, gilt die doppelte Herausforderung: Sie müssen weiterhin an der längst nicht erfüllten Mission der neuen Schule arbeiten UND GLEICHZEITIG den digitalen Wandel gestalten. Sie verlassen damit mit zwei Beinen gleichzeitig den stabilen Boden. Wenn wir diesen Zustand gut hinkriegen, dann ist das ein Tanz.
Weiterführende Literatur:
[1] Für einige gute Beispiele vgl. Muuß-Merholz, Jöran (2019): Digitale Schule – Was heute schon im Unterricht geht. Das Praxisbuch zum individualisierten Lernen mit digitalen Medien. Hamburg: Verlag ZLL21.
[2] Fadel, Charles/Bialik, Maya/Trilling, Bernie (2017): Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen. Mit einem Vorwort von Andreas Schleicher. Deutsche Übersetzung von Jöran Muuß-Merholz. Hamburg: Verlag ZLL21
[3] Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter. Online-Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter (03.02.2022). Die Arbeit von Lisa Rosa zeigt zudem, wie sich das praktisch umsetzen lässt. Vgl. hierzu Muuß-Merholz, Jöran (2016): Personalisiertes Lernen in Blog-Projekten – Digitale Medien im Unterricht von Lisa Rosa. Online-Quelle: https://www.joeran.de/lisa-rosa (01.05.2019)
AUTOR
Web: www.joeran.de | Twitter: @joeranDE
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