Medienkompetenz und Jugendliche
Es gibt keine „digital natives“
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Von Philippe Wampfler
Digital Natives – ein Missverständnis
Seit Marc Prensky 2001 [1] erstmals von der Gegenüberstellung zwischen „digital natives“ und „digital immigrants“ sprach, werden damit Vorurteile zementiert, die sich wissenschaftlich kaum nachweisen lassen. Die geografisch-politische Metapher bringt eine gefühlte Wahrheit auf den Punkt: Jüngere Menschen adaptieren technische Innovationen schneller als ältere; sie quälen sich nicht durch Bedienungsanleitungen, sondern erproben Funktionalitäten spielerisch und autodidaktisch.
Prüft man diese Einsicht genauer, erweist sie sich als schief oder falsch: Nicht alle Jugendlichen erwerben informell Kompetenzen im Umgang mit Neuen Medien, nur weil sie später geboren sind als ihre Eltern. Und älteren Menschen ist es nicht verwehrt, einen selbstverständlichen Umgang mit digitaler Technik zu pflegen.
Andreas Pfister und Philippe Weber (2012) [2] haben den „digital native“ als eine „messianische Figur“ beschrieben und sie dekonstruiert: „Während man Jugendlichen auf der Ebene des technischen Know-hows alles Mögliche zutraut, wird ihnen zugleich eine kolossale Naivität den Medien gegenüber unterstellt. Der jugendliche Frohmut mache sie blind gegenüber den eigentlichen Kräften, die hinter der Technik lauerten.“
Das Zitat zeigt ein zweites, verstecktes Vorurteil: Die Eingeborenen werden ganz in der kolonialistischen Tradition als Unwissende belächelt. Sie leben zwar scheinbar harmonisch, ahnen aber gar nicht, welche Bedrohungen auf sie zukommen.
Wer „digital native“ sagt, trifft also zwei Annahmen: Erstens seien Kinder und Jugendliche irgendwie automatisch medienkompetent, zweitens seien sie das nicht ganz richtig, weil sie die echten Schwierigkeiten und Probleme nicht durchschauten.
Beide Annahmen führen zu einem Missverständnis, was Medienkompetenz ist und wie Jugendliche sie erwerben. Deshalb lohnt es sich, auf den Begriff „digital natives“ zu verzichten und einen genaueren Blick auf Jugendliche und Medienkompetenz zu werfen.
Parkland: Jugendliche und Medienkompetenz
Im Februar 2018 erschoss ein Schüler an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, 17 Personen. An der Schule entstand direkt danach eine Bewegung, die sich gegen den Einfluss der Waffenlobby auf die US-Gesetze stark machte. Emma Gonzales, Cameron Kasky, Delaney Tarr und David Hogg sind vier der Namen, die mit kurzen Clips im Netz bekannt wurden. Sie drückten darin aus, wie stark sie unter dem Massenmord litten, klagten Verantwortliche an, stellten Fragen an Politikerinnen und Politiker und brachten konkrete Forderungen und Vorschläge vor.
Sieht man sich die Clips ihrer Reden [3] an, fallen einige Punkte auf: Diese Schülerinnen und Schüler verstehen, wie man im Netz sprechen muss. Ihr Timing, ihre Rhetorik und ihr Auftreten sind gemacht um sich im Netz Gehör zu verschaffen. Sie benutzen die Plattform, die ihnen Massenmedien wie CNN bieten, sind sich aber völlig im Klaren, dass die ihre Zielgruppe im Netz erreichen.
Die Reden der Jugendlichen entfalten aber nicht nur innerhalb ihrer Bewegung Wirkung, sondern provozieren auch die Gegenseite: das Publikum von rechten Verschwörungsseiten wie Infowars, das bereit ist, alles zu verdrehen, was abläuft, wenn es dem eigenen politischen Interesse am uneingeschränkten Waffenbesitz dient. Als Reaktion wurde den Jugendlichen vorgeworfen, sie seien „crisis actors“, also geschulte Profis, die von der Linken eingesetzt würden, um Stimmung zu machen. Diese Verschwörungstheorien verbreiteten nicht nur die entsprechenden Medienportale – auch die Algorithmen von Youtube verschafften ihnen Resonanz.
Aber auch auf diesen Widerstand schienen die jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten vorbereitet: Sie verstanden und verstehen auch persönliche Angriffe als eine Chance, die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung zu lenken. Deshalb nahmen sie Angebote zur Auseinandersetzung an, statt zu verstummen. Als beispielsweise eine Journalistin sich darüber lustig machte, dass David Hogg von einigen Elite-Universitäten nicht aufgenommen wurde, schlug dieser zurück: Er erwähnte die Werbekunden der Sendung der Journalistin, worauf einige davon ihre Aufträge beendeten. [4]
Betrachtet man diese ganze Bewegung, lässt sich daraus eine Konzeption für Medienbildung ableiten.
Medienkompetenz befähigt, politisch aktiv zu werden. Mehr noch: Medienkompetenz befähigt zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe. Das heißt in diesem Fall: eigene Anliegen verständlich auszudrücken und sie medial so zu verpacken, dass sie Verbreitung finden und viral gehen könnten. Dazu gehören Rhetorik, Auftrittskompetenz, Verständnis der Kontexte, Umgang mit Reaktionen, Kommunikation über Social Media und traditionelle Massenmedien; aber auch politische Bildung. Es ist in der US-Politik entscheidend, ob man eine Abschaffung der Second-Amendment-Rechte fordert, was politisch völlig unrealistisch ist, oder ob man für einen erschwerten Zugang zu halb-automatischen Gewehren eintritt, wofür sich durchaus eine Mehrheit finden ließe.
Die eigene Kampagne ist der Kern der Medienkompetenz. Kompetenz bedeutet in diesem Sinne, Medien für eigene Anliegen bewusst und langfristig einzusetzen, Ziele zu definieren und die passenden Wege zu beschreiten.
Diese Kampagne ist Teamwork: Vor der Kamera stehen nicht alle diese Jugendlichen, sondern wohl die richtigen, die bestimmte Rollen verkörpern können: Die Kämpferin, der Musterschüler, die unschuldige Träumerin… Die Jugendlichen schaffen so viel Identifikationspotential, arbeiten aber gerade auch auf Social Media stark zusammen.
Die Aktivistinnen und Aktivisten der Parkland-Schule wurden nicht von selbst medienkompetent: Sie belegten an der Schule Kurse, in denen Kompetenzen im Umgang mit audiovisuellen Medien aufgebaut wurden. Bereits vor der Kampagne nutzen sie Social Media ohne Hemmungen und Ängste, sammelten Erfahrungen mit Missgeschicken und Gegenwind. Sie verstehen, wie sich Inhalte im Netz verbreiten, worauf ihr Publikum anspricht.
Verallgemeinert man dieses Beispiel, so sind Jugendliche medienkompetent, wenn sie für eigene Anliegen eintreten können und andere Personen mit selbst gestalteten medialen Produkten erreichen können. Sie brauchen dafür Lernangebote – wie sie in dieser Schule zur Verfügung standen –, aber auch eine entsprechende Erfahrung mit den psychologischen und sozialen Mechanismen, die Netzkommunikation steuern. Und sie brauchen Rechte – wie sie in der „Erklärung der digitalen Lernerrechte“ formuliert sind. [5]
QUELLENANGABEN UND WEITERFÜHRENDE LITERATUR:
[1] Prensky, Marc (2001): Digital Natives, Digital Immigrants.
Online-Quelle (eng.): https://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf (01.05.2019)
[2] Pfister, Andreas/Weber, Philippe (2012): Keine federleichte neue Medienwelt.
Online-Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/keine-federleichte-neue-medienwelt-1.17561009 (01.05.2019)
[3] Emma Gonzales' Auftritt, Fernsehkanal CNN (eng.): https://www.youtube.com/watch?v=ZxD3o-9H1lY
[4] Wikipedia-Artikel zu David Hogg (eng.): https://en.m.wikipedia.org/wiki/David_Hogg
[5] Den Artikel „Erklärung der digitalen Lernerrechte“ kann man im Buch „Routenplaner #digitaleBildung“ (Herausgeber: Verlag ZLL21 e.V., 2019) lesen, online verfügbar unter: https://routenplaner-digitale-bildung.de/
Autor
Web www.phwa.ch | Twitter: @phwampfler
Foto: © Miguel Tupak Kratzer / Watson
Dieser Text erschien als Teil des Buches „Routenplaner #digitaleBildung“ (Herausgeber: Verlag ZLL21 e.V., 2019). Online verfügbar unter: https://routenplaner-digitale-bildung.de/
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