Interview
Sarah Stricker

Sarah Stricker und Odile Gakire Katese
© Goethe-Institut Kigali/Lena Wassermeier

Die deutsche Autorin Sarah Stricker, die in Tel Aviv lebt und arbeitet, war für eine Woche in Kigali zu Besuch und hat mit der ruandischen Autorin und Künstlerin Odile Gakire Katese zum Thema Gedenken an den Holocaust Texte erarbeitet.
 

Wie war die künstlerische Arbeit für dich in Ruanda?

Ich habe wahnsinnig viel aus dieser Woche mitgenommen, vor allem natürlich von meiner Schreibpartnerin. Odile beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit dem Genozid in Ruanda. Im Unterschied zu vielen anderen legt sie den Fokus dabei aber nicht auf den Tod, sondern auf das Leben, versucht den Menschen, die während jener 100 Tage von April bis Juli 1994 ermordeten wurden, ein Gesicht zu geben, sie aus der „victim box“ herauszuholen, wie sie sagt. In einem Projekt hat sie zum Beispiel Hinterbliebene gebeten, Briefe an ihre verstorbenen Familienangehörigen zu schreiben; herausgekommen sind zum Teil wunderbar anrührende Texte, in denen nicht nur all diese Menschen für einen kurzen Moment wieder lebendig werden; sie machen den Verlust auch auf eine Weise spürbar, wie es reine Fakten und Zahlen nie könnten. Was ich von Odile gelernt habe, ist, dass man nur den Tod einer Person betrauern kann, wenn man auch etwas über ihr Leben weiß. Das hat in mir einen Denkprozess darüber angestoßen, wie wir mit unserer eigenen Geschichte umgehen. Ja, theoretisch mögen wir wissen, dass nicht-jüdische und jüdische Deutsche vor Hitlers Machtergreifung Nachbarn waren, dass Juden fest zur Gesellschaft dazu gehörten und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ihre Spuren hinterlassen haben, sei es in der Literatur, der Musik, der Wissenschaft oder der Politik. Aber die traurige Wahrheit ist: Den meisten von uns fällt, wenn wir das Wort „Jude“ hören, spontan eher nicht Mendelssohn-Bartholdy, Heine, Einstein oder Rathenau ein. Stattdessen ist unsere kollektive Erinnerung vor allem von jenen Bildern bestimmt, die das Dritte Reich produziert hat, Bilder von Juden in Gettos, in Viehwaggons, in Konzentrationslagern, ausgemergelt, abgemagert, bis zur Entmenschlichung entstellt, Bilder, die dem, wie die Nationalsozialisten uns Juden zeigen wollten, ziemlich nahe kommen. Odile hat mir gezeigt, wie es möglich ist, hier den Blick zu weiten.


Während deines Aufenthaltes hast du auch ruandische Studierende der Universität in Huye kennengelernt und dich ausgetauscht. Wie war diese Begegnung für dich?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich noch nie eine so schöne Location für eine Diskussionsrunde hatte wie in Huye. Dr. Rainer Schmidt, der DAAD Lektor der Universität, hatte für unser Gespräch eine Lichtung in einem kleinem Waldstück am Rande des Campus ausgesucht, mitten in den Bäumen, was für eine herrlich entspannte Atmosphäre sorgte. In der Diskussion selbst ging es unter anderem darum, wie wichtig es ist, der jungen Generation in Ruanda eine Stimme zu geben, wobei das Schreiben ein möglicher Weg sein kann. Dabei hatte ich das Gefühl, dass viele der Studenten eine große Unsicherheit empfinden, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, nicht zuletzt, weil ihnen wohl auch Lehrer und Professoren oft den Eindruck vermitteln, der Genozid sei das einzige Thema, das es wirklich wert ist, behandelt zu werden. Die meisten der Studenten waren 1994 jedoch noch kleine Kinder oder noch nicht mal geboren.


Was hat dich besonders berührt und ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?

Einer der Studenten sprach mich nach der Veranstaltung an, und fragte ganz direkt, wie man denn Geschichten schreiben solle, wenn man nicht mal seine eigene Geschichte kenne. Er selbst habe mit drei Jahren als einziger den Genozid überlebt, seine gesamte Familie sei getötet worden, es gäbe niemanden, den er fragen könne, was vor ihm war.

Das hat mich sehr berührt, vor allem die Art, wie er das alles erzählte, völlig abgeklärt, ohne jegliches Selbstmitleid, als sei das eben ein ganz normales Schicksal. Ich habe versucht, ihn zu ermutigen, gerade das zum Thema zu machen, darüber zu schreiben, wie es ist, nichts über seine Vorfahren zu wissen, bei null anzufangen, wie es so viele Ruander in seiner Generation mussten und müssen. Aber seine Verlorenheit war deutlich zu spüren, eine Verlorenheit, die ich sonst nur aus Geschichten von Holocaustüberlebenden kannte. Es gibt einen Satz, den ich in Israel mal von einem Nachgeboren gelesen habe: „Wie soll ich meinen Kindern erklären, dass meine Frau und ich nicht Adam und Eva sind“. Erst im Gespräch mit diesem jungen Mann in Huye, wurde mir wirklich klar, was das bedeutet.


Als Autorin hast du eine Expertise zum Thema Holocausts und deutsch-israelischen Beziehungen ausgebildet. Wie war es, dich mit Menschen auszutauschen, die auch einen Genozid erlebt/in ihrem kollektiven Gedächtnis haben?

Auf den ersten Blick treten erstmal die Parallelen zu Tage. In beiden Fällen hat eine Gruppe über Jahre daran gearbeitet, die andere zu entmenschlichen: In Deutschland wurden Juden als Parasiten beschimpft, in Ruanda Tutsi als Kakerlaken. In Ruanda wurde Hutu-Frauen, die sich mit Tutsi-Männern einließen, gedroht; in Deutschland kennen wir alle die „Ich bin eine Rassenschande“-Schilder, mit denen Menschen durch die Straßen laufen mussten … diese Liste könnte man endlos fortsetzen. Teilweise wirkt es fast, als hätte man ein Handbuch der Nationalsozialisten genommen und einfach „Jude“ durch „Tutsi“ ersetzt.

Der Umgang mit dieser Vergangenheit ist jedoch ein völlig anderer. Während Deutschland als Volk der Täter und Israel als Zufluchtsstätte vieler Opfer in den ersten Jahrzehnten kaum Kontakt hatten (bis 1952 stand sogar in jedem israelischen Pass der Vermerk: Gültig für alle Länder außer Deutschland), sind Ruander beides: Täter und Opfer. Während einem unserer Gespräche habe ich Odile mal gefragt, ob es nach dem Genozid nicht die Überlegung gab, das Land zu teilen. Aber sie meinte, das hätte den Hass nur manifestiert. Stattdessen gibt es in Ruanda eine lange Tradition der Versöhnung, die unter anderem durch die Gacaca-Gerichte gefördert wurde, in denen Tätern ein beträchtlicher Teil ihrer Haftstrafe erlassen wurde, wenn sie ihre Taten gestanden und um Vergebung baten. Vor allem aber: In den meisten Fällen wurde ihnen diese Vergebung von den Überlebenden auch gewehrt. Heute, 24 Jahre nach dem Genozid, leben Täter und Opfer oft wieder Tür an Tür – was enorm beeindruckend ist. Aber tatsächlich kann ich nur schwer nachvollziehen, wie es möglich ist, nach so kurzer Zeit zu verzeihen. „Weil wir keine andere Wahl hatten“ würde Odile sagen – und ja, wahrscheinlich ist ein Mangel an Alternativen manchmal das einzige, was Menschen wieder zusammenführt.


Wie hast du die Reaktion der Menschen in Ruanda auf das Thema des Holocaust, beziehungsweise auf Deutschland und Israel wahrgenommen?

Deutschland genießt einen sehr guten Ruf, aber das habe ich so auch in anderen afrikanischen Ländern erlebt. Was mich sehr viel mehr überrascht hat, war, wie positiv die meisten reagierten, wenn sie hörten, dass ich in Israel lebe. Viele Ruander scheinen sich sehr mit Israel zu identifizieren, sehen die Entwicklung der letzten Jahre als Modell, dem sie nachzueifern versuchen. Beide Gesellschaften eint das Schicksal eines Genozids; beide nehmen heute eine relative Ausnahmestellung innerhalb ihrer Region an, sind im Vergleich zu ihren Nachbarländern oft sicherer, wirtschaftlich erfolgreicher, investieren viel in Bildung, vor allem im High-Tech-Bereich. Vor allem aber ist beiden Gesellschaften eins gemein: Die Überzeugung, dass sie, wenn es hart auf hart kommt, auf sich allein gestellt sind. „Nie wieder“, hieß es nach dem Holocaust, dem die Weltgemeinschaft lange tatenlos zusah. Aber in Ruanda hat sie nicht mal das getan, vielmehr hat sie aktiv weggesehen. Als die Gewalt 1994 ausbrach, wurden die UN-Truppen nicht aufgestockt, sondern fast vollständig abgezogen, die Westler wurden evakuiert, während man die Ruander ihrem Schicksal überließ. Dieses Alleingelassenwerden hat, sowohl hier wie dort, zu einem tiefen Misstrauen gegenüber internationalen Versprechungen geführt. Gleichzeitig setzt es in beiden Ländern aber auch eine große Energie frei, ein Gefühl, dass man sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss, was ein enormes kreatives Potential birgt.


Was ist dein nächstes Projekt?

Ich schreibe an meinem zweiten Roman, in dem auch die Themen Erinnerung, Identität, Vergangenheit und Neuanfang eine große Rolle spielen werden – aber mehr kann ich dazu noch nicht verraten ;).