Was macht ein gehörlosenfreundliches Kunstmuseum aus?
Bevor sie die Museumslandschaft betrat, war Hu Xiaoshu bereits ein Star in der Gehörlosen-Community. Während ihres Studiums in Europa bloggte sie regelmäßig über ihr Leben und berichtete über ihre Erfahrungen mit der Gehörlosenkultur in verschiedenen Ländern. Gleichzeitig ermutigte sie durch ihre persönliche Entwicklung auch andere Gehörlose, die Möglichkeitsräume ihres Lebens auszuloten. Nach ihrer Rückkehr nach China arbeitete sie bei vielen öffentlichen Veranstaltungen in Kunstmuseen als Gebärdensprachdolmetscherin. Und im Jahr 2022, anlässlich der Vernissage zu der Ausstellung „Art & Signs – Deaf Culture / Hearing Culture“ im Shanghai Duolun Museum of Modern Art trug sie in einer an Tanz erinnernden Performance sogar ein Gedicht in Gebärdensprache vor. Bei ihren Veranstaltungen trifft man aber nicht nur auf eine vielseitig talentierte Künstlerin, sondern auf eine ganze Gemeinschaft von Gehörlosen, die sich genauso für die Kunst begeistert wie Hu Xiaoshu selbst.
Als wichtiger Teil der chinesischen Kunstwelt stellt das UCCA Ullens Centre for Contemporary Art für die Gehörlosengemeinschaft eine feste Größe dar. Bereits 2018 organisierte das UCCA im Rahmen des „Shanghai International Deaf Film Festivals“ in seinen Pekinger Räumlichkeiten ein Special Screening. Zudem wurden bei den Veranstaltungen im UCCA in den letzten Jahren für Publikum und Redner*innen bei Bedarf Gebärdensprachdolmetscher*innen zur Verfügung gestellt. Für Hu Xiaoshu, die sich seit vielen Jahren mit Schulungen zur Barrierefreiheit befasst, sollte sich die Gehörlosenfreundlichkeit von Kunstmuseen jedoch nicht nur auf das Serviceangebot bei bestimmten Live-Events beschränken, sondern generell die technische Ausstattung von Ausstellungen umfassen. Die erläuternden Texte neben den Exponaten beispielsweise bieten Besucher*innen einen wichtigen Zugang zum Verständnis der Werke. Die von Gehörlosen verwendete Gebärdensprache funktioniert jedoch grundlegend anders als Text. Dazu erklärt Hu Xiaoshu: „Die Gebärdensprache ist eine visuell-räumliche Sprache, bei der Informationen hauptsächlich durch Gesten, Mimik, Körperbewegungen sowie die Positionierung im Raum vermittelt wird.“ Wenn Gehörlose einen Text lesen, nehmen sie die Informationen also in einer zweiten Sprache auf, die nicht ihre Muttersprache ist. Schon das stellt eine Hürde dar. Dazu kommen die komplexen Kunstbegriffe aus den Werkbeschreibungen, es ist also eine doppelte Herausforderung.
Um solche Sprachbarrieren zu beseitigen, so stellte Hu Xiaoshu fest, bieten viele europäische Museen in ihren Ausstellungen Video-Guides in Gebärdensprache an, die es dem Publikum ermöglichen, sich die Kunstwerke jederzeit und allerorts über eine Webseite oder eine mobile App erklären zu lassen. Als Hu Xiaoshu von UCCA Edge, der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, eingeladen wurde mit Unterstützung der Abteilung Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats Shanghai/ Goethe-Institut Shanghai für die Ausstellung „Modern Time“ des Museums Berggruen im UCCA Edge ein öffentliches Programm zu kuratieren, gewann sie zwölf Gehörlose dafür, sich dem Führungsteam im Museum anzuschließen und gemeinsam in Gebärdensprache Erklärvideos für die Ausstellung zu produzieren. Durch diese Aktion sollten die gehörlosen Teilnehmer*innen nicht nur sehr viel über den Hintergrund der ausgestellten Werke lernen, sondern auch selbst zur Förderung der Gebärdensprache im öffentlichen Raum beitragen.
Bei der Förderung von Tools zur Barrierefreiheit ist man jedoch nicht nur auf das Engagement der Gehörlosen angewiesen, sondern auf die Unterstützung der breiten Gesellschaft. Daher rekrutierte Hu Xiaoshu neben den Gehörlosen auch eine gleiche Anzahl von Hörenden (gemeint sind hierbei Menschen mit intaktem Gehör) für die Teilnahme an dem Workshop und lud einen Gebärdendolmetscher ein, der den Hörenden den gesamten Prozess erklärte. Bei der Videoaufzeichnung übernahmen die Hörenden die Bedienung des Teleprompters oder der Kamera, wobei sie mit ihren gehörlosen Partner*innen mittels Texteingabe ins Smartphone oder Gebärdensprachdolmetscher kommunizierten. Auf diese Weise wurden die Dreharbeiten in Teamarbeit bewältigt. Viele der Hörenden waren bis dato noch nie mit Gehörlosen in Kontakt gekommen und dass sie als „Hörende“ eine besondere Rolle haben, wurde ihnen erst jetzt bewusst.
Zhang Kehan ist eine hörende Theaterwissenschaftlerin. Während der Ankunftsphase des Workshops fiel ihr auf, dass sich die meisten Gehörlosen, die im Seminarraum eintrafen, untereinander kannten. Sie begrüßten sich herzlich und begannen sich in Gebärdensprache zu unterhalten. Offensichtlich war die gemeinsame Kultur der Gebärdensprache innerhalb der Gehörlosengemeinschaft etwas sehr Verbindendes. Die Hörenden am anderen Ende des Raums waren zwar ebenso zahlreich, doch sie kamen alle aus unterschiedlichen Hintergründen, waren einander fremd und im Vergleich zur herzlichen Atmosphäre der Gehörlosen machten sie einen etwas verlorenen Eindruck. Für Zhang Kehan wirkte es so, als hätten sich die Rollen in diesem Moment vertauscht: „Die gesellschaftliche 'Mehrheit' schien hier zu einer 'Minderheit' geworden zu sein“, und sie, die keine Möglichkeit hatte sich zu integrieren, weil sie die Gebärdensprache nicht beherrschte, konnte nun besser nachvollziehen, wie sich Gehörlose in einer Welt der Hörenden fühlen mochten.
Um die Berührungsängste zwischen beiden Gruppen abzubauen, stellte Hu Xiaoshu vor der Aufgabenverteilung für die Filmaufnahmen einige grundlegende Gebärden vor und ließ sie von den anwesenden Gehörlosen abwechselnd vormachen. Dazu brach sie mit der im Vortragssaal üblichen Sitzordnung, indem sie die dem Podium zugewandten Stühle zu einem Sitzkreis anordnete. Dadurch wurden nicht nur alle Teilnehmer*innen gleichberechtigt miteinbezogen, die Hörenden hatten beim Lernen der Gebärdensprache Mimik und Bewegungen der Vorführenden auch viel besser im Blick.
Es folgte das „Verrückte Gebärden-Quiz", bei dem die Teilnehmer*innen auf eine Leinwand projizierte Wörter mittels des gerade erlernten Gebärdensprachenvokabulars sowie mithilfe ihrer Körpersprache darstellen mussten. Das vertiefte das Vokabelgedächtnis und lockerte zugleich die Atmosphäre auf. Dieses Format knüpft an die Erfahrungen an, die Hu in den letzten zehn Jahren bei der Organisation von interaktiven Workshops für Gehörlose und Hörende in Schulen, Unternehmen, Einkaufszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen im In- und Ausland gesammelt hat. Die Vermittlung der Gebärdensprache funktioniert nicht mehr als langweilige Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern ist eine unterhaltsame Interaktion im Team, bei der man Gelegenheit hat Freundschaften und Empathie aufzubauen.
Dieser Dialog zwischen den Gruppen förderte nicht nur das gegenseitige Verständnis der Workshop-Teilnehmer*innen, sondern sorgte auch für eine reibungslosere Zusammenarbeit zwischen den Veranstaltern. Für die Organisatorinnen des Workshops, Qian Mengni und Wu Yiyao von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit UCCA Edge, und die Praktikantin Wang Yuanrong war es die erste Zusammenarbeit mit Gehörlosen. Ihnen fiel auf, dass Hu Xiaoshu zu ihnen stets engen Blickkontakt hielt, während sie in Gebärdensprache die Details des Veranstaltungsablaufs kommunizierte. Dadurch vermittelte sich ihnen, noch bevor sie über die Verdolmetschung genauere Inhalte erfuhren, die gewissenhafte und fokussierte Arbeitseinstellung sowie das freundliche und offene Wesen ihres Gegenübers. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit begegnete Hu Xiaoshu indes mit derselben Offenheit. Sie sprach sich während der gesamten Vorbereitung mit den verschiedenen Museumsabteilungen ab und trug so dazu bei, Hu Xiaoshus Ideen vor Ort umzusetzen. Neben ihren Aufgaben hatten sich die Museumsleute außerdem einige Begrüßungsgebärden angeeignet, um so schon beim Eintreffen der Teilnehmer*innen für eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.
Eine der Gebärden aus dem Workshop, die sich den Teilnehmer*innen besonders gut eingeprägt hatte, war der Name „Picasso“, der in seinen Bildern Gesichter oft aus geometrischen Formen zusammensetzte. In die Gehörlosensprache wird der Name des Künstlers in eine Geste übersetzt, „als würde man sich mit beiden Händen eine Maske vom Gesicht ziehen“, was den ikonischen Stil Picassos auf subtile Weise wiedergibt. In dieser Geste ist „Picasso“ nicht mehr der abstrakte Name eines ausländischen Künstlers, sondern wird zu einem konkreten Bild, das sowohl Sprecher als auch Betrachter lebhaft vor Augen steht. Obwohl jedes Land seine eigene Gebärdensprache hat, gibt es für Eigennamen wie „Picasso“ Gesten, die international verwendet werden und genauso universell sind wie etwa Picassos Gemälde, die Menschen auf der ganzen Welt begeistern.
Allerdings existieren nicht für das gesamte Vokabular der Ausstellung standardisierte internationale Ausdrucksweisen wie im Fall von „Picasso“. Gibt es für ein Wort keine festgelegte Gebärde, müssen die Museumsführer*innen eine eigene erfinden. Als die gehörlose Künstlerin Zhou Jiayi einen speziellen Gebärdensprachführer für die Ausstellung „Modern Time“ vorlegte, stellte sie die Werke nicht nur grundlegend vor, sondern erklärte auch Begriffe wie „zersplitterte Perspektive“ oder „Konstruktivismus“, um dem gehörlosen Publikum einen besseren Zugang zu den Werken und deren epochaler Bedeutung zu ermöglichen. Da es sich dabei oft um sehr spezielle Fachbegriffe handelte, für die es in der chinesischen Gebärdensprache kein gängiges Äquivalent gibt, führte Zhou Jiayi temporäre Gebärden ein, die bei den Führungen wieder zum Einsatz kommen konnten. Die Herausforderung für Ausstellungsführer*innen liegt aber nicht nur in solchen Neukreationen und der gekonnten Beherrschung der Terminologie, sie müssen sich als Gebärdendolmetscher*innen auf die Dauer auch präzise und verständliche Ausdrucksweisen aneignen. Um diese Fähigkeit mehr Gehörlosen zu vermitteln, rief Zhou Jiayi 2021 das Projekt „Art Seeds+“ ins Leben, bei dem über zwanzig Gehörlose in einem zweitägigen Workshop in die Kunst der Museumsführung in der Gebärdensprache eingeführt wurden.
Die Ausbildung von Gebärdensprachführer*innen hat erste Früchte getragen und das Museum bereitet sich auf mehr gehörlose Besucher*innen vor. Die Videos aus dem Workshop wurden nicht nur auf der hauseigenen Social-Media-Plattform gepostet, nach Rücksprache mit verschiedenen Abteilungen gibt es in der Museums-App auf der Einführungsseite zur Ausstellung nun auch einen Hinweis auf die Führung in Gebärdensprache. Diese kann nun von Interessierten über das Scannen eines QR-Codes aufgerufen werden.
Darüber hinaus schlugen einige Workshop-Teilnehmer*innen vor, das Museum möge auf den neben den Exponaten angebrachten Schildern parallel zu den QR-Codes der Audio-Guides ebenfalls die QR-Codes zu den Video-Guides in Gebärdensprache anbringen, um Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gleichermaßen zu berücksichtigen. Es gab außerdem den Wunsch, das Museum solle mehr feste Stellen für Gebärdensprachenführer*innen einrichten, um dem Publikum diesen Service standardmäßig anzubieten und gleichzeitig Beschäftigungsmöglichkeiten für Gehörlose zu schaffen. Aus diesen Hoffnungen spricht die besondere Affinität, die es offenbar innerhalb der Gehörlosengemeinschaft zu Kunstmuseen gibt. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2015 haben 95 Prozent der Studienfächer der Hochschulen und Universitäten, an denen Gehörlose landesweit eingeschrieben sind, mit Design zu tun. Auch unter den Gehörlosen aus dem Workshop waren viele Designer*innen. Eine von ihnen, Huang Ling, ist eine regelmäßige Besucherin des Kunstmuseums. Sie formulierte es so: „Ausstellungsbesuche gehören in meinem Leben zum Pflichtprogramm“. Schließlich könnten ihr die Exponate Inspiration für ihre Arbeit liefern und ihr ästhetisches Gespür verbessern. Aber ganz abgesehen vom Job – unter den diversen Plattformen des kulturellen Austauschs sind die visuell orientierten Kunstmuseen im Vergleich zu den auditiv ausgerichteten Konzertsälen und Theatern derzeit eine der wenigen Einrichtungen in der Gesellschaft, die für Gehörlose Kunst tatsächlich erlebbar machen können. Qin Zhiyan, eine weitere Designerin aus dem Workshop, bringt es auf den Punkt: „Kunstausstellungen geben mir visuellen Trost und nähren meinen Geist“, und so sind sie aus Arbeit und Leben von Gehörlosen nicht wegzudenken.
So ermöglichen Services, die Ausstellungen barrierefrei machen, nicht nur Gehörlosen, die sich bereits als Kunstliebhaber*innen verstehen, ihre Liebe zur Kunst weiter zu vertiefen, sie senken auch insgesamt die Berührungsangst Gehörloser, ein Museum zu betreten und die Faszination der Kunst auf Augenhöhe zu erleben. Auch wenn die Realität immer noch voller Hürden ist, kann die Kunst als Bindeglied zwischen den Menschen fungieren. Und jeder Schritt, den Mitarbeiter*innen von Kunstmuseen in diese Richtung machen, trägt dazu bei, mehr einzigartige Menschen zusammenzubringen.
Übersetzung aus dem Chinesischen: Julia Buddeberg