Joseph Beuys ist ein besonderes Kapitel der Kunstgeschichte, im Rahmen dessen wir in 2021 das 100. Geburtstagsjubiläum eines der einflussreichsten und kontroversesten Künstlers des 20. Jahrhunderts feiern. Wer war und wer ist Beuys heute? Wie sollen wir seine Konzeption des erweiterten Kunstbegriffs und der sozialen Plastik, in der jedes Individuum zum Akteur*in der sozialen Veränderungen werden sollte, wahrnehmen?
Die Intention dieses Projekts ist es nicht eine nostalgische Erinnerung an die charismatische Legende der Postmoderne zu feiern. Unser Ziel ist es nicht die Theorie der sozialen Plastik nachzuweisen oder zu widerlegen, einzunehmen oder abzulehnen. Sondern: wir empfinden mitten in der gegenwärtigen Dynamik der globalen gesellschaftlichen Prozesse die Möglichkeit, eine Brücke zu schlagen. Eine theoretisch-praktische Brücke zwischen den verschiedenen (ökologischen, politischen, feministischen usw.) Aspekten der künstlerischen Arbeit von Beuys und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation. Um die vielschichtigen Herausforderungen begreifen zu können, ist das Projekt in verschiedene Themenkomplexe geteilt.
Joseph Beuys. SOZIALKUNST21
Joseph Beuys (12. Mai 1921 – 23. Januar 1986) gehört zu den einflussreichsten und umstrittensten Künstlern*innen des 20. Jahrhunderts. Seine Plastiken, Environments, Zeichnungen, Installationen, Multiples, Sound- und Videoinstallationen befinden sich in den renommiertesten Museen. Seine Aktionskunst aus den 60er und 70er Jahren verkörpert einen Ausgang für die Aspekte der Gegenwartskunst, die man als „engagierte Performativität“ bezeichnen könnte. Beuys war der Mitbegründer der Partei „Die Grünen“ und Mitbegründer der „Free International University for Creativity and Interdisciplinary Research“ – einer internationalen, unabhängigen Bildungsorganisation, die den Horizont des numerus clausus genauso wie die Grenzen einzelner Disziplinen versuchte zu überschreiten. FIU kann man heute als ein Pilotprojekt sehen, dessen Idee Bildungsorganisationen wie „Cátedra Arte de Conducta“ (gegründet von der kubanischen Performerin und Aktivistin Tania Brugera) oder „School of Resistance“ (betrieben vom Stadttheater Gent) folgen. Beuys integrierte die pädagogische Tätigkeit in den Prozess seines künstlerischen Schaffens. Die Kunst als Lernen und das Lernen als Kunst – diese Logik machte er zur Voraussetzung der Gestaltung einer plastischen demokratischen Gesellschaft. Seine soziale Philosophie, die er auf Begriffen wie „erweiterter Kunstbegriff“ und „soziale Plastik“ aufgebaut habe, ist Gegenstand eines ernsten Interesses genauso wie einer radikalen Ablehnung. Obwohl er pauschal als die „bedeutendste Position der Postmoderne“ oder der „bedeutendste deutsche Künstler nach Albrecht Dürer“ etikettiert worden ist, seine künstlerische Produktion wie sein sozio-politisches Engagement waren in den letzten Jahrzehnten einer harten Kritik unterzogen.
Auch wenn Beuys kein expliziter Feminist war, in seinen Ansätzen in den 60er und 70er Jahren, vor allem in seiner Forderung der absoluten Gleichberechtigung (z. B. documenta 5 und 6) können wir konkrete Ideenzusammenhänge mit manchen öko-feministischen Tendenzen sehen. Natürlich muss man solche Parallelen kritisch untersuchen, aber in unserem Fall würde die Brücke heißen: seit der documenta 5 sind das fast 50 Jahre her und wie sieht die Situation heute aus? Schauen wir uns die Situation in der Demokratischen Republik Kongo an. Oder schauen wir uns die Situation in Polen oder in der Slowakei an. Die Antwort würde sehr ähnlich einer Äußerung von Valie Export und Elfriede Jelinek lauten: es wendet sich wieder gegen Frauen. Auf der einen Seite beobachten wir drastische Gewalt an Frauen, die sich physisch und psychisch manifestiert. Auf der anderen Seite beobachten wir politische und rechtliche Aggression gegen Frauen, die sich kommunikativ manifestiert. Beide Manifestationen sind nur zwei Seiten einer Münze, nämlich: der kulturalistisch bedingten, naturalisierten Genderasymmetrie und der fortlaufenden Entdemokratisierung der Gesellschaft.
Weil wir in einem globalen Wirtschaftssystem leben, wird sich ein Teil des Projekts mit der außereuropäischen Problematik, die aber mit Europa sehr wohl viel zu tun hat, befassen. Inspiriert von der Aussage Milo Raus („Eine globale Wirtschaft braucht auch eine global agierende Kunst“) werden wir unsere Aufmerksamkeit auf die künstlerische Formen und Strategien lenken, die außereuropäisch aktiv sind. Globalisierung impliziert eine planetare Reziprozität, mit anderen Worten: es kommt zu ständigen parallelen Wechselwirkungen zwischen allen partikularen Teilen einer globalen Weltgesellschaft. Keine soziale, wirtschaftliche, politische, rechtliche oder ökonomische Operation wirkt nur lokal, sondern hinterlässt globale Spuren. Diese Dimensionen der Globalisierung hat Beuys bereits an der documenta 6 thematisiert. Das zirkulierende Environment Honigpumpe am Arbeitsplatz (Kassel, 1977) war von einem 100-tägigen „Weltseminar“ begleitet (organisiert von der FIU), an dem diverse Dissidenten*innen, Systemkritiker*innen und Aktivisten*innen aus vielen Ländern beteiligt waren. So haben sich z. B. Dissidenten von der Charta 77 aus der kommunistischen Tschechoslowakei mit dem exilierten Pantomimentheater aus Chile von Gloria Romo und Pancho Morales und mit der feministischen Aktivistin aus Jamaika Veronica Lovindeer („Minority Arts Association“) getroffen. Anwesend war auch der Künstler und Filmemacher Georges Levantis, der sich in seinen Filmen mit den Flüchtlingen auf den Meeren befasste. Honigpumpe am Arbeitsplatz stellt eine Modellform, eine kommunikative Struktur dar, im Rahmen derer haben vor fast fünfzig Jahren internationale Akteure*innen Themen bearbeitet, die uns heute sehr vertraut erscheinen. Unter anderem waren das: Kernenergie und ihre Alternativen, Randgebiete Europas, Regionalpolitik, Medien und Manipulation, Menschenrechte, urbaner Niedergang und Institutionalisierung, Migration, Gewalt und Verhalten zu Gewalt, nationaler und internationaler Terrorismus, Arbeit und Arbeitslosigkeit. Ausgegangen von der Idee dieses „Welt-Workshops“ wenden wir uns in der intra-europäischen Sektion zu denen künstlerischen Positionen, die vor allem innerhalb der Problematik Europas agieren, um den Halbkreis der außereuropäischen Interventionen in einem globalen Kreis zu schließen.
Der Druck von Informationen über den Zustand der Öko-Systemen, die immer heißer Situation des „climate change“, die geringe Effektivität der internationalen Verträge, kurz: die Komplexität der Umwelt übersteigt die Ohnmacht unserer Systemlösungen und Kommunikation. Wenn es in Beuys Oeuvre ein Aspekt ist, der einer Aktualisierung bedürfte, dann ist es sicher sein ökologisches Engagement. Nicht nur 7000 Eichen – Die Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung (documenta 7 – 8), sondern auch sein Thematisieren der Bienenproblematik, machen aus ihm einigermaßen einen „pilot-ökologischen Künstler“. Weil wir aber der Meinung sind, dass mit den sieben tausend Bäumen in Kassel ein schon genug voluminöser künstlerischer Zeichen und Signal zur Öffentlichkeit gesetzt worden ist, laden wir diesmal nicht „ökologische Künstler“, sondern „ökologische Aktivisten“ ein, die im lokalen Terrain arbeiten und gegen die ungeheure Verstöße gegen Naturschutzgesetze kämpfen. Mit dieser Geste wollen wir die Frage akzentuieren, ob heute die engagierte Kunst effektiv im Terrain der spezialisierten Probleme wirken kann oder wirken soll, oder, ob sie nicht lieber die Agenda den Spezialisten überlassen sollte.
Wir halten es für wichtig auch der theoretischen/ diskursiven Auseinandersetzung Raum zu geben. Ein Teil dieser Sektion werden Vorträge nicht nur zum Thema „Beuys“ sein, sondern auch zum lokalen Kontext, z. B. zum Thema Fluxus und Happening in der Tschechoslowakei. Gleichzeitig versuchen wir das Phänomen des „Action Teaching“ zu aktualisieren – wir laden gegenwärtige Autoren*innen, die sich mit „Lecture Performance“ befassen, aber auch Akteure*innen, die sich mit der Problematik der gegenwärtigen sozio-engagierten Kunst beschäftigen. Ein sehr wichtiges Thema des Projekts wird die „Ästhetisierung der Gesellschaft“ sein, welche die Probleme wie z. B. „Ökonomisierung der Kunst“ oder „Ökonomisierung der Kreativität“ mit sich bringt. Damit hängen weitere prekären Angelegenheiten zusammen, etwa die Frage nach der Beziehung zwischen dem Kunstmarkt und dem Kunstsystem usw. Die praktische Kondensierung der Idee dieses Projekts haben wir den weißrussischen Performern*innen und Aktivisten*innen überlassen. Das (nicht nur) slowakische Publikum kann sich auf ein künstlerisches Gestalten von Menschen freuen, die aus einem Land kommen, in dem die Verstöße gegen Menschenrechte und Verletzungen der Menschenwürde ein Alltag geworden sind.
VIRTUELLE GALERIE „BEUYS VERSTEHEN“
„Beuys verstehen“ ist der Titel einer virtuellen Galerie der Goethe-Institute Warschau, Prag und Bratislava. Sie ist in Kooperation mit dem Kuratorenteam von beuys2021 entstanden und wurde von dem Berliner XR Unternehmen ZAUBAR produziert.
Eines der zentralen Kooperationsprojekte zwischen dem Team von beuys2021 und dem Goethe-Institut ist der Podcast „Die Erde spricht“. Unterschiedliche Perspektiven aus Deutschland und dem Ausland beleuchten in einer kritischen Analyse die heutige Relevanz von Beuys, seinem Schaffen und den Auswirkungen auf Kulturschaffende weltweit.
Aktualisierung statt nostalgische Zelebrierung
Das impliziert viele Fragen. Wie sieht die soziale Kunst heute aus? Welche Strategien benutzt die engagierte, aktivistische, politische Kunst im 21. Jahrhundert? Oder: Ist das überhaupt noch Kunst? Kann die Kunst wirklich sozial wirksam werden? Kann sie sozial relevant sein? Wäre es nicht besser, alles einem politisch-organisierten Aktivismus zu überlassen? Wäre dann die Aufgabe der Kunst nicht eher eine Sensibilisierung des Sozialpublikums für das Quantum von neuen, vielleicht irritierenden Ideen vonseiten des polit-organisierten Aktivismus? Oder beides zusammen?
Teilnehmende:
Alice Koubová, CZ (Philosophin), Florian Malzacher D (Kurator für zeitgenössische performative Künste, Autor, Dramaturg), Milo Rau , CH (Theater-und Filmregisseur), Claudia Schmid, D (Filmregisseurin), Pavlína Morganová, CZ (Kunsthistorikerin und Kuratorin), Olia Sosnovskaya, BY (Künstlerin, Wissenschaftlerin und Produzentin) und andere.
Apolena Rychlíková (1989 in Brünn) ist Redakteurin der WebsiteA2larm.cz, Publizistin und Film- sowie Radiodokumentaristin. Sie arbeitet als Kommentatorin für den Tschechischen Rundfunk und den Salón Práva und schreibt ihre Texte für mehrere tschechische Medien. Als Filmemacherin arbeitet sie mit führenden tschechischen Produktionen zusammen.
Beuys lebt noch und sein Werk ist eine Vorbereitung auf das komplexe, irritierende 21. Jahrhundert – sagt der slowakische Künstler Robert Svarc und präsentiert seine Gedanken zu Beuys’ Vermächtnis.