© Die Andere Bibliothek, Berlin, 2020
Ohne Nationalismus gebe es die heutige Weltordnung, aufbauend auf die Nationalstaaten auch nicht. Souveränität, nationale Selbstbestimmung, Unabhängigkeit – bis zum Ende des Kolonialismus trieb die Ideologie der Nationalismus die Geschichte in eine Richtung voran, in der immer mehr Leute die Möglichkeit erhielten, allein über ihr Schicksal zu entscheiden. Sogar auch demokratisch. Eine konstruktive Ideologie. Das war aber natürlich nie so wunderschön. Zum Nationalismus gehörten immer Ausgrenzung, Missbrauch der Minderheiten, Konflikte zwischen den Nationalstaaten, Gewalt, sogar zwei Weltkriege.
In der Zeit der Globalisierung und der europäischen Integration könnte man denken, dass diese Ideologie ihre Mission erfüllte. Das Werk von Michael Thumann stellt durch Beispiele, die aus den täglichen Nachrichten bekannt sind, dar, dass der Nationalismus unserer Zeit eher destruktiv ist. Der Journalist Thumann, der als außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit persönlich die Geschichte der 1990er und 2000er Jahre mitfolgte, und zwar vor Ort im ehemaligen Jugoslawien, in Moskau, in Istanbul, zeigt die traurigste Lesart der letzten Jahrzehnte, die von den Balkankriegen bis zum Brexit und Präsident Donald Trump gelangten.
Wie führte Putins „produzierter“ Nationalismus zu der Annexion der Krim, was ist die Rolle der Kirche, die Propaganda und die Verfälschung der Geschichte in Putins Macht? Wie wurde der Prediger Fethullah Gülen der „Albtraum“ des türkischen Präsidenten Erdoğan und wie wurden die Kurden von seinen Alliierten zu seinem größten Feind, warum griff er in den Syrien-Krieg ein? Wie dehnten die beiden Autokraten ihre Kriege gegen die einheimischen Feinde auch auf das Gebiet der Europäischen Union aus, wie laufen ihre hybriden Kriege durch Gewalt, Diplomatie und Desinformation in Europa ab? Wie war es möglich, auch in den stabilsten Demokratien wie den USA und der EU durch nationalistische und populistische Phrasen die demokratischen Institutionen und das Wählervertrauen abzuschwächen, was bedeutet Antielitismus, wenn die Gegner selbst auch starke Mitglieder der Elite sind?
Aus dem Buch bekommen die Leser*innen ein umfangreiches Bild über die Vorkommnisse und die Hintergründe der weltweiten nationalistischen und populistischen Tendenzen. Unabhängig davon, ob man diese Geschichte in Deutschland oder in Ungarn liest, findet man viele Gründe, sich um die Zukunft Europas und der europäischen Demokratie zu sorgen.
Die Andere Bibliothek
Michael Thumann
Der neue Nationalismus: Die Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie
Die Andere Bibliothek, Berlin, 2020
ISBN 978-8477-0430-0
285 Seiten
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