Eintauchen in deutsche Geschichte – Screenshot aus dem Computerspiel „Mythos of Neuschwanstein“ | Foto (Ausschnitt): © Astragon
Spiele lassen uns in die Kultur eines Landes eintauchen und machen seine Geschichte erlebbar, sagt Thorsten Unger, Geschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Games-Branche (GAME).
Herr Unger, Serious Games, also Spiele mit einem Bildungszweck, gewinnen auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung. „Ernsthafte Spiele“ – ist das nicht ein Paradox?
Weil Ernsthaftigkeit scheinbar im Widerspruch zum Spiel steht, das immer auch Freiwilligkeit voraussetzt, mag der Begriff zunächst vielleicht widersprüchlich klingen. Dabei geht es darum, Spiel mit Sinnhaftem zu verbinden, indem die Lust am Spielen genutzt und auf anspruchsvollere Inhalte sowie ein Lernziel gelenkt wird.
In den verschiedensten Bereichen wird dieses Prinzip bereits angewandt. Ist es denkbar, Serious Games auch zur Vermittlung deutschlandkundlichen Wissens einzusetzen, um das Land mit seinen historischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten spielerisch vorzustellen?
Aus zwei Gründen sind Spiele gut geeignet, landeskundliches Wissen zu vermitteln. Zum einen, weil Spiele mit ihrem Regelwerk und ihren Spielzielen Systeme simulieren. Beispielsweise zeigt die spielerische Abbildung einer Volkswirtschaft, wie gut wir mit Spielen Wirkungszusammenhänge darstellen können: Spieler erhalten unmittelbares Feedback, zudem etablieren Spiele eine Kultur des Scheiterns, indem sie Wiederholungen zulassen und dadurch Fehler heilen. Das schafft Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge. Zum anderen erzählen Computerspiele Geschichten. Und diese können natürlich mit realen Hintergründen und Themen, angereichert mit Fakten, erzählt werden, sodass spielerisch dann etwa geschichtliche oder systemische Zusammenhänge mit Bezug zu Deutschland vermittelt werden.
Zwar gibt es noch wenige ausdrückliche Serious Games zum Thema Deutschlandkunde. Doch wer beispielsweise Patrizier spielt, erfährt ganz nebenbei durch Simulation des Handels in einem bestimmten historischen Setting von den Kaufmannsverbünden der Hanse. Auch klassische, zum Unterhaltungszweck konzipierte Computerspiele wie die Anno-Reihe und Siedler transportieren letztlich Geschichte, weil sie in einen realen historischen Kontext eingebettet sind.
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Mystery of Neuschwanstein (2015), Denkspiel
Das märchenhafte Schloss Neuschwanstein gehört zu den berühmtesten Bauwerken Deutschlands. Das mag auch an der Lebensgeschichte seines Erbauers, König Ludwig II. von Bayern, liegen. Dieser flüchtete sich mehr und mehr in eine Traumwelt und starb 1886 unter ungeklärten Umständen. „Mystery of Neuschwanstein“ vermittelt historische Fakten über sein Leben, und die Spielenden durchleuchten als Journalisten die Ereignisse, die zu seinem Tod geführt haben könnten. Eine Besonderheit sind handgemalte Szenen im sogenannten Wimmelbild-Stil.
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Utopolis – Aufbruch der Tiere (2015), Denkspiel, Simulation
In „Utopolis“ begeben sich bis zu 25 Spielende in die Rolle von fünf Waldtieren. Ihre Aufgabe ist es, Missionen zu erfüllen und dafür die unterschiedlichen tierischen Fähigkeiten so geschickt wie möglich einzusetzen: Die Eichhörnchen sind gute Sammler, die Hirschkäfer sind begabte Handwerker, die Wölfe können die Umgebung schnell erkunden. Die Kooperation aller Mitspielenden, die im Chat ihre Regeln aushandeln, ist entscheidend für das Gelingen ihres Abenteuers. Im Spiel werden grundlegende Mechanismen einer Demokratie vermittelt: Gesetzgebung, Gemeinschaftsdenken, Rechtsstaat.
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Lernabenteuer Deutsch – Ein rätselhafter Auftrag (2013), Serious Game
Als Journalistin, die aus dem Ausland angereist ist, um ihren Onkel zu suchen, muss der Spielende einen Kriminalfall in einem deutschen Unternehmen lösen. „Lernabenteuer Deutsch“ ist als Sprachlernspiel konzipiert. Gleichzeitig vermittelt es Kontextwissen rund um die Arbeitswelt in Deutschland: Im Spielverlauf wird zum Beispiel das Verfassen eines Lebenslaufes oder eines Bewerbungsschreibens geübt. Darüber hinaus erhalten Deutschlernende grundlegende Informationen zur interkulturellen Kommunikation.
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Forge of Empires (2012), Strategie
Der Spieler gründet eine Stadt in der Steinzeit und erlebt deren Veränderungen durch die Epochen. Jedes Zeitalter ist durch unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsstufen gekennzeichnet. Der Wechsel von einer Epoche zur nächsten ist mit der Erforschung neuer Wohnkonzepte, Produktionsstätten, Militärtechnik oder kulturellen Einrichtungen verbunden. Berührungspunkte mit deutscher Landeskunde ergeben sich zum Beispiel durch die Möglichkeit, sogenannte legendäre Bauwerke zu errichten – für das frühe Mittelalter schlägt das Spiel den Aachener Dom, für die Zeit des Kolonialismus die Dresdner Frauenkirche vor.
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1378 (km) (2010), Ego-Shooter
Der Spielende wird an unterschiedliche innerdeutsche Grenzabschnitte in das Jahr 1976 versetzt. Er kann sowohl in die Rolle eines Grenzsoldaten der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) als auch in die Rolle eines sogenannten Republikflüchtlings schlüpfen, der versucht, die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland (BRD) zu überwinden. Das Spiel will diesen brutalen Teil der deutschen Geschichte nacherlebbar machen. Wer als Grenzsoldat agiert, hat die Wahl, Flüchtlinge zu verhaften oder gar selbst zum Flüchtling zu werden. Wer schießt, muss sich im Spiel vor Gericht verantworten.
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Patrizier IV – Aufstieg einer Dynastie (2010), Wirtschaftssimulation
Hier ist der Spieler als Händler im Nordeuropa des 14. Jahrhunderts unterwegs, der Blütezeit der sogenannten Hanse: Aus der Zusammenarbeit und den Zusammenschlüssen deutscher Kaufleuten zur Förderung ihres Handels im Ausland entstand ein Bund aus zeitweilig 200 See- und Binnenstädten. Das Strategiespiel vermittelt Wissen über das deutsche Patriziat, die Oberschicht des Mittelalters, und simuliert den Auf- und Ausbau eines Handelshauses in der Hanse: Vom Warenangebot in den Städten über die Namen wichtiger Personen bis hin zu den Daten von Seuchen, Bränden und Hungersnöten entspricht der Handlungsrahmen den geschichtlichen Tatsachen.
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Die Siedler 7 (2010), Wirtschaftssimulation
Im europäischen Mittelalter des 15. Jahrhunderts soll die Spielerin oder der Spieler ein Königreich mit befestigten Städten und kleinen Dörfern errichten, in denen Siedler Güter produzieren. Dazu stehen drei Spielstrategien zur Verfügung: Militär, Handel und Wissenschaft. Geschichtlich und landeskundlich interessant ist „Die Siedler 7“ vor allem durch die Einbettung in den Kontext der Renaissance. Damals wurde antikes Wissen in den Bereichen der Architektur, bildenden Kunst und Philosophie wiederentdeckt. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung verschiedener Technologien spielten dabei auch deutsche Klöster.
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GI
Öko-Simulator – Projekt Grün (2010), Simulation
Der Spieler wählt einen von sieben geopolitischen Kontinenten und versucht als Staatsoberhauptes einen ökologisch vorbildlichen Erdteil zu entwickeln. Um Ökonomie und Ökologie in Einklang zu bringen und zu halten, stehen den Spielenden unter anderem Gesetzesinitiativen, zum Beispiel zur Besteuerung von Kohlendioxid-Emissionen, und Förderpakete für erneuerbare Energien zur Verfügung. Dadurch vermittelt „Öko-Simulator – Projekt Grün“ einen sehr guten Einblick in eines der aktuell wichtigsten politischen Programme der deutschen Regierung: die Energiewende.
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Anno 1404 (2009), Aufbaustrategie
Die Spielerin oder der Spieler übernimmt die Rolle eines Seefahrers im späten Mittelalter. Ziel ist es, in bisher unerschlossenen Gebieten, Siedlungen zu errichten und zu Städten auszubauen. Dazu müssen immer komplexere Wirtschaftskreisläufe geschaffen werden. Auch diplomatische Beziehungen mit fremden Kulturen spielen eine wichtige Rolle. Das Gamedesign legt Wert auf die faktengetreue Darstellung des historischen Kontextes. Insbesondere die Strukturierung der mittelalterlichen europäischen Gesellschaft in klar voneinander abgegrenzte Klassen, sogenannte Stände, wird in diesem Strategiespiel erfahrbar.
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Die Gilde 2 (2006), Wirtschaftssimulation
Im Deutschland des 15. und 16. Jahrhunderts soll in Augsburg, Berlin, Dresden, Hannover oder Köln eine Handelsdynastie gegründet werden. Dabei kann der Spielende seine Karriere als Handwerker, Gelehrter, Patron oder Gauner beginnen, um dann über mehrere Generationen hinweg durch sein kaufmännisches und privates Geschick Reichtum und politischen Einfluss zu erwerben. Die persönlichen Lebensumstände im Mittelalter werden in „Die Gilde 2“ ebenso thematisiert wie politische und weltliche Macht, Handel, Hierarchien, illegale Machenschaften und der Einfluss der Kirche.
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Genius – im Zentrum der Macht (2007), Simulation, Strategie
Als Politikerin oder Politiker soll der Spieler in Deutschland Karriere machen. Der Weg führt von der Kommunalpolitik bis hin zum Berliner Bundestag und zur Kanzlerkandidatur. Dabei sind verschiedene Aufgaben zu bewältigen, wie zum Beispiel im jeweiligen Wahlkreis einen Kindergarten zu errichten oder eine sinnvolle Infrastruktur aufzubauen. Um voranzukommen, müssen sich die Spielenden mit den Mechanismen politischer Entscheidungsprozesse beschäftigen. „Genius – im Zentrum der Macht“ gibt einen guten Einblick in das politische und gesellschaftliche System Deutschlands.
Erlebte Landeskunde
Kann man also sagen, dass Serious Games herkömmlichen Lernmethoden voraus haben, dass sie Landeskunde mit Leben füllen, durch ihre Interaktivität den Spieler eintauchen lassen in die Kultur, ihn teilhaben lassen am nationalen Gedächtnis?
Bei Spielen nehmen Sie immer eine aktive Rolle innerhalb eines Handlungskontexts ein: Sie selbst sind König, Rennfahrer oder Fußballspieler. Das intensiviert die Medienerfahrung und ist vergleichbar mit der Immersionsmethode zum Sprachenerwerb, dem sogenannten „Sprachbad“. Dabei tauchen Lernende in das fremdsprachige Umfeld ein und haben durch die unmittelbare Konfrontation mit der Sprache eine intensivere Lernerfahrung, ohne beispielsweise in die Muttersprache ausweichen zu können. Auch im spielerischen Handlungskontext erhalten Sie immer unmittelbare Ergebnisse für ihr Handeln und bewegen sich in einem inhaltlich abgeschlossenen Raum, beispielsweise dem Computerspiel. Dabei erfahren Sie zudem Selbstwirksamkeit.
In Deutschland gibt es etwa mit „Lernabenteuer Deutsch. Das Geheimnis der Himmelsscheibe“ des Goethe Instituts ein solches Serious Game mit landeskundlichen Inhalten für den Fremdsprachenunterricht. „Genius – Im Zentrum der Macht“ erklärt spielerisch das politische System Deutschlands. Doch darüber hinaus scheinen deutschlandkundliche Serious Games eher rar zu sein.
Ja, für die Spielentwicklung gibt es hier noch viel zu tun. Kommendes Jahr liefert das Reformationsjubiläum zum 500. Jahr des Thesenanschlags von Martin Luther eine hervorragende Vorlage, die dazu einlädt, spielerisch Geschichte zu erleben. Außerhalb Deutschlands gibt es eindrucksvolle, sehr realistische Simulationen und Geschichten, etwa zu Waterloo oder zum Erdbeben auf Haiti. Dass wir in Deutschland keinen kulturell motivierten Spielemarkt haben, liegt auch an fehlenden Förderinstrumenten. Letztendlich aber ist die Frage natürlich, was ein landeskundliches Spiel überhaupt ausmacht. Der Begriff ist dehnbar, wenn Sie etwa an ein Spiel wie
Öko Simulator denken, das aufgrund seines Themas der erneuerbaren Energien eine starke Verbindung zu Deutschland hat – aber natürlich auch in jedem anderen Land funktioniert.
Vorteile digitaler Spiele
Die spielerische Vermittlung von Landeskunde gibt es schon länger – man denke nur an Spiele wie „Stadt-Land-Fluss“, Deutschlandquartett, die Deutschlandedition von Trivial Pursuit. Welche Vorteile bringt die digitale Form des Spiels?
Die Medienerfahrung ist eine andere. Denn kein Brettspiel kann das Eintauchen in eine Rolle derart intensiv audiovisuell unterstützen. Auch sind die Handlungsoptionen begrenzter und es sind stärkere Vereinfachungen nötig als im Computerspiel. Das wird schnell klar, vergleicht man Monopoly mit der digitalen Simulation einer Volkswirtschaft, die dynamisch auf Situationen reagiert und beispielsweise Angebot und Nachfrage entsprechend berechnet.
Bei all den Vorteilen, die Spiele in der Vermittlung landeskundlichen Wissens haben: Wo stößt diese Methode an Grenzen?
Persönliche, reale Erfahrungen lassen sich natürlich nicht ersetzen. Man muss sich vor Augen halten, dass Serious Games immer ausgehend vom Bildungszweck konzipiert werden. Bei komplexen landeskundlichen Inhalten ist die Vermittlung über ein Spiel daher nicht einfach. Denn es sind nicht beliebig viele Informationen transportierbar, eine klare Fokussierung und Einbettung ist nötig. Der bei Lernmedien übliche Dreiklang aus Briefing-Action-Debriefing, also das Lernen aus Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung, ist bei digitalen Spielen, die ohne Aufsicht gespielt werden, eine große Herausforderung. Für echte Lerneffekte kommen der Einführung in das Spiel und Tutorials große Bedeutung zu.
Welche Entwicklungschancen sehen Sie für Serious Games in diesem Bereich?
Mit dem technologischen Fortschritt wird viel Neues machbar. Augmented Reality lässt spannende, interessante Medienerfahrungen zu und kann Landeskunde wirkungsvoll transportieren. Dann werden wir vielleicht durch die Wartburg laufen und Luther in seiner Schreibstube sehen. Über die visuelle Darstellung hinaus erreichen wir die unmittelbare Teilhabe und persönliche Erfahrung: Wenn man etwa – wie im niederländischen Waterline-Museum möglich – als Fallschirmspringer die besondere geografische Lage und dessen militärische Bedeutung bei der Verteidigung des Landes unmittelbar nachvollzieht, um dann sicher im Museum zu landen. Das spielerische Moment wird genutzt werden, um Geschichte erlebbar zu machen.
Thorsten Unger
| Foto: © GAME e. V.
Thorsten Unger ist Geschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Games-Branche (GAME) und arbeitete selbst lange als Games-Entwickler, insbesondere im Bereich Serious Games. Er beschäftigt sich in zahlreichen Fachbeiträgen, Interviews und öffentlichen Diskussionen mit dem Potenzial von Games und deren kultureller Bedeutung. Zudem ist er als Unternehmer und Berater im Bereich Lern- und Kommunikationsmedien tätig.