Vorwort & Einleitung

Vorwort von Khalid Wad Albaih

Als ich noch sehr jung war, zog ich mit meiner Familie aus dem Sudan, einer mehrheitlich sudanesischen Gesellschaft, nach Katar, einem Land, in dem die Mehrheit aus internationalen Arbeitskräften besteht. Ich bin mit Menschen aus aller Welt aufgewachsen und habe dabei gelernt, Gespräche in vielen Sprachen zu beginnen. Mit jeder Unterhaltung und jedem Kennenlernen eines Landes gab es ein geistiges Bild, das den jeweiligen Ort und seine Leute repräsentierte – dieses Bild entsteht normalerweise aus der Ansammlung von medialen Eindrücken und Gesprächen. Zum Beispiel: der Felsendom für Palästina, Ikea für Schweden, die Pyramiden für Ägypten, Qadafi für Libyen und so weiter … leider hatten die meisten Menschen, so auch ich, wegen des Mangels an sudanesischer Medienproduktion keinerlei Vorstellung vom Sudan.

Ich fand mich immer wieder in der Situation, das einst größte Land Afrikas beschreiben zu müssen: „Der Sudan ist das größte Land in Afrika“, „Wir haben die meisten Pyramiden der Welt“, „Der Nil entsteht tatsächlich im Sudan“, „Nein, nicht der ganze Sudan ist ein Dschungel“ … man versteht, worum es mir ging.

Sudanes*innen sind sehr stolze Menschen. Der Mangel an Wissen über und Wertschätzung für einen pluralistischen Sudan war jedoch das Ergebnis erfolgreicher Bemühungen der politischen Arabisierung und Islamisierung des Sudans seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956.

Wie viele andere wusste ich nur, was ich von meiner Familie hörte – darüber, wie sauber und organisiert die großen Städte waren, wo jeden Morgen Milch in Glasflaschen in die Häuser geliefert wurde, wo die Leute mit der Straßenbahn und den gut ausgerüsteten Zügen fuhren, wie etabliert die staatliche Universität Khartum war. Das ist jedoch nicht genug, um ein geistiges Bild für mich zu erschaffen, geschweige denn für den Rest der Welt.

Dieses Buch ist der erste, gewissermaßen egoistische Versuch, ein geistiges Bild des Sudans aufzubauen – mit Hilfe der Erinnerungen einer Vielzahl von Künstler*innen.

„Sudan Retold“ ist die allererste Sammlung ihrer Art – sie versucht, kreative Erzählungen von Comicautor*innen, Grafiker*innen, Köch*innen, Filmemacher*innen und Illustrator*innen zu verschiedenen historischen Momenten des Sudans zusammenzustellen. Diese Künstler*innen wurden 2017 nach einem Bewerbungsaufruf des Goethe-Instituts in Khartum ausgewählt.

Einleitung von Larissa Führmann

Sudan – der Name kommt vom Arabischen bilād as-sūdān (بلاد السودان), „das Land der Schwarzen“, und bezieht sich auf das Land, in dem die zwei Nile aufeinandertreffen und in dem 74 Sprachen gesprochen werden; wo die Königinnen der nubischen Zivilisation vor 4000 Jahren Matriarchate anführten, die Bewohner*innen später die Römer zurückschlugen und 255 Pyramiden bauten, die doppelte Anzahl der Pyramiden in Ägypten. Jahrtausendelanger Handel und Hajj-Pilgerrouten vermischten Menschen, Kulturen und Traditionen. Es ist das Land, das türkische, ägyptische und englische Kolonialist*innen bekämpfte, eindrucksvolle Kirchen und Moscheen beherbergt und dafür bekannt ist, in den letzten 62 Jahren drei Revolutionen durchlebt zu haben. Malcolm X besuchte den Sudan 1959, gefolgt von anderen einflussreichen Persönlichkeiten wie Louis Armstrong, Harry Belafonte, Jimmy Cliff und Miriam Makeba. 

Heutzutage wissen die meisten Menschen nur wenig über die reiche Geschichte des Sudans, seine facettenreiche Gegenwart und die vielfältige Bevölkerung. Internationale Medien berichten zunehmend über Kriege, Hungersnöte und politische Krisen, wobei ein unvollständiges Bild des Landes gezeichnet wird, welches bis vor seiner Spaltung vor ein paar Jahren noch das flächenmäßig größte Land Afrikas war. 

Im Juni 2016 kontaktierte mich Khalid Wad Albaih, der mir von seinem Konzept zur Graphic Novel „Sudan Retold“ erzählte. Dabei sprach er davon, wie wichtig er es finde, jungen Künstler*innen die Chance zu geben, in einem Buch sudanesische Geschichte(n) zum ersten Mal zu erzählen oder neu zu interpretieren. Dabei sollten die Künstler*innen Geschichten des Landes ihrer Vorfahren mit Hilfe von Fotografie, Poesie, Geschichtenerzählung, Malerei und mehr darstellen. Khalids Idee sollte auf diese Weise eine Leerstelle ausfüllen und die Darstellung und Anerkennung des Sudans außerhalb seiner Grenzen ausbauen. 

Durch eine offene Ausschreibung fanden sich dreißig ausgesuchte Künstler*innen und kreative Köpfe mit den unterschiedlichsten Interessen und Fähigkeiten für das Projekt zusammen. In einem dreitägigen Workshop im Januar 2017 präsentierte Khalid seine Vision – sofort kamen Ideen auf und Diskussionen entflammten unter den Künstler*innen. In den folgenden Wochen sollte die Gruppe ihre Ideen ausbauen und auf Papier bringen. Als die Nachrichten über den Workshop und das Buch die Diaspora erreichten, bekamen wir immer mehr Kapitelvorschläge. 

Nachdem die ursprünglichen Konzepte ausgearbeitet und erste Entwürfe fertig waren, fand ein weiterer Workshop mit dem deutschen Comickünstler Reinhard Kleist statt, der zusätzlichen Input zur Realisierung der ersten sudanesischen Graphic Novel gab. Durch den Enthusiasmus der Künstler*innen brachten es 26 Kapitel in die finale Auswahl für das Buch. Sie geben einen Einblick in den Sudan aus der Perspektive der Künstler*innen. Der Band soll zum Wissen über den Sudan beitragen und das Bewusstsein von der reichen, aber verschleierten Geschichte des afrikanischen Kontinents erweitern.
 

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