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KAFKAS ERBE

Warum empfinden wir Kafka noch immer als so modern und gegenwärtig?
Illustration von Roberto Maján

Kafka, der zu Lebzeiten kaum bekannt war und in seinem Testament seinen engen Freund Max Brod um die Vernichtung all seiner Schriften bat, avancierte dank Brods „Verrat“ mit seinen Erzählungen und Romanen zur Legende der Literaturgeschichte. 

Von A.Ömer Türkeş

Franz Kafka, der 1924 im Alter von nur vierzig Jahren starb, prägte das 20. Jahrhundert durch den großen Einfluss, den er auf die nachfolgenden Generationen hatte. Kafka, der zu Lebzeiten kaum bekannt war und in seinem Testament seinen engen Freund Max Brod um die Vernichtung all seiner Schriften bat, avancierte dank Brods „Verrat“ mit seinen Erzählungen und Romanen zur Legende der Literaturgeschichte. 

Der Aufstieg dieser Legende begann im zerstörten Nachkriegseuropa und verbreitete sich ab den 1950er Jahren auf dem gesamten Kontinent. Die erstaunliche Überschneidung zwischen den geistigen und emotionalen Befindlichkeiten der Menschen jener Zeit und den von Kafka hervorgehobenen Themen ist unbestreitbar: Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Suche, die Absurditäten des täglichen Lebens, Menschenmassen, Entfremdung – kurzum, die Krisen oder Albträume des modernen Menschen.

Seine Geschichten sind von all dem durchdrungen. Aber Kafkas Größe zeigt sich nicht nur darin, dass er von diesen Albträumen erzählt, sondern in der Art, wie er sie erzählt, nämlich in der kafkaesken Welt, die er mit seinem unverwechselbaren Stil erschafft. Kafkas Welt ist offen für unterschiedliche Interpretationen, die durchaus sehr widersprüchlich sein können. Es gibt nur wenige Personen in der Literaturgeschichte, deren Werke so sehr hinterfragt werden. Franz Kafka, der in den 1930er bis 1950er Jahren einen zentralen Platz in den lebhaften, reichen und einzigartigen Diskussionen über den Realismus von Marxisten wie György Lucas, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Bert Brecht einnahm, wurde auch von existenzialistischen Schriftsteller*innen, insbesondere Albert Camus, hochgeschätzt. Kafka ist zweifellos der meistgelesene und meistimitierte Autor des 20. Jahrhunderts, dessen Einfluss sich auch auf die Literaturwelten der Sprachen ausbreitete, in die seine Werke übersetzt wurden.

Kafka im türkischsprachigen Raum

Die Übersetzung von Kafkas Werken ins Türkische ließ nicht lange auf sich warten. Ich möchte jedoch drei Artikel erwähnen, die vor diesen Übersetzungen im Jahr 1954 über Kafka geschrieben wurden: zwei Artikel unter dem Titel „Franz Kafka“ – einer von Fikret Ürgüp in der Zeitschrift Varlık und einer von Melahat Özgü in Kültür Dünyası –, sowie ein von Cevad Erginsoy in der Zeitschrift Forum unter dem Titel „Kafka und das Gesetz“ veröffentlichter Text. Das erste Werk Kafkas in türkischer Sprache, Die Verwandlung, wurde 1955 vom Verlag Yeni Ufuklar in der Übersetzung von Vedat Günyol publiziert. Ein Jahr später veröffentlichte der Varlık Verlag In der Strafkolonie in der Übersetzung von A. Turan Oflazoğlu. Der Prozess wurde 1960 vom Çan Verlag in der Übersetzung von Sabahattin Eyüboğlu veröffentlicht.

Um den Einfluss von Kafkas Werken auf das intellektuelle und literarische Leben der Türkei zu verstehen, muss man sich in die kafkaeske Welt begeben. Milan Kundera nennt in seiner Abhandlung Die Kunst des Romans vier charakteristische Eigenschaften: Das erste Merkmal des Kafkaesken sei, dass sich die Protagonist*innen in einer Welt befänden, die nichts anderes als eine riesige, labyrinthische Institution sei, aus der sie nicht entkommen und die sie nicht verstehen können. Zweitens gäbe es für die Protagonist*innen keine andere mögliche Welt, daher sei ihre ganze Existenz ein Irrtum. Des Weiteren kenne der Angeklagte in Kafkas Werken den Grund für seine Bestrafung nicht. Die Absurdität der Strafe sei so unerträglich, dass die angeklagte Person eine Rechtfertigung für ihre Strafe zu finden sucht, um Frieden zu finden, folglich suche die Strafe ihr Verbrechen. Die vierte Charakteristik der kafkaesken Welt sei, dass das Komische nicht dazu diene, die Tragödie noch zu verstärken, sondern sie im Gegenteil bedeutungslos zu machen.

In den 70 Jahren seit der ersten Übersetzung von Kafka im Jahr 1955 haben sich das politische und soziale Umfeld der Türkei und die Funktionsweise all ihrer Institutionen, insbesondere der Justiz, so „kafkaesk“ entwickelt, dass selbst Kafka erstaunt gewesen wäre. So gesehen ist der Einfluss des Autors so tiefgreifend wie aktuell. Ferit Edgü, einer der prominenten Vertreter der türkischen Literatur der 1950er Jahre, fasst diese Realität in einem Artikel aus dem Jahr 1961 mit den folgenden Sätzen zusammen:

„Wir leben in seiner Welt. Es gibt nichts, das seine von unserer Welt unterscheidet. Alle Rechtfertigungen, alle Reden sind umsonst. Wir sprechen dieselbe Sprache, ob wir es wollen oder nicht. Alles spielt sich direkt vor unseren Augen ab. Es ist, als ob wir in einer ‚Strafkolonie‘ festgehalten würden. Mit all unserer Hilflosigkeit, mit all unseren Möglichkeiten, leben wir in diesem Land, in dieser Absurdität, in dieser Depression, in dieser Einsamkeit, die Kafka in all seinen Werken geschaffen hat – ja, ohne irgendeinen Unterschied, ganz genau dort.“

Ähnliche Gedanken treten in Demir Özlüs Artikel von 1966 zutage:

„Die Situation der*des türkeistämmigen Intellektuellen von heute unterscheidet sich nicht von der des Josef K. in Der Prozess. Die Situation des Volkes in der Türkei, das zum Spielball verschiedener wirtschaftlicher, sozialer, historischer und internationaler Verhältnisse geworden ist, entspricht genau dem Schicksal des Helden von Kafkas Anekdote ‚Vor dem Gesetz‘. Der Zustand von K. im Schloss ist der Zustand des türkeistämmigen Volkes.“

Die Depression des bürgerlichen Individuums

Schwarzer Humor und Ironie waren die wirksamsten Mittel, die die bekanntesten Vertreter*innen der türkischen Literatur der 1950er Jahre – darunter Tahsin Yücel, Leyla Erbil, Ferit Edgü, Orhan Duru, Fikret Ürgüp und Vüsat O. Bener – einsetzten, um die Stimmung, die Verzweiflung und das ziellose Aufbegehren des einsamen und entfremdeten Individuums in einer kruden, baufälligen und absurden Welt zu beschreiben. Der dunkle, aber wirkungsvolle Humor, den sie durch die Kombination von Absurditäten und einander entgegengesetzten Mentalitäten erschaffen, zeugt von einer Depression, die durch den Druck von Gesellschaft und Politik sowie von aufgezwungenen Traditionen und Bräuchen verursacht wird. Die Schriften dieser Generation lassen sich mit einem bitteren Lachen vergleichen. In diesem Sinne zeigt sich thematisch wie stilistisch eine Annäherung an Kafkas Werke.

Ab den 1960er Jahren nahm die Zahl der Romane zu, die sich mit dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft und der durch die Moderne hervorgerufenen Orientierungslosigkeit befassten. Die Beschäftigung mit diesen Themen, von den Schriftsteller*innen der „Generation von 1950“ angestoßen, verhalf den nachfolgenden Autor*innen zur Entwicklung neuer Erzähltechniken. Kafka und das Kafkaeske stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. So sehr, dass sogar Yaşar Kemal eine Novelle in diesem Stil verfasst hat. Der Text Ein Vogel mit nur einem Flügel, den er nach eigenen Angaben in den späten 1960er Jahren geschrieben hatte, wurde in den 2000er Jahren veröffentlicht. Um das abstrakte Gefühl der Angst zu behandeln und seine Irrationalität zu offenbaren, entfernte sich Yaşar Kemal sogar von seinem bisherigen Stil und näherte sich dem „Absurden“. In den Werken von Kemal gibt es meistens einen solidarischen Aspekt, doch in dieser Geschichte fällt vor allem das Gefühl der Einsamkeit ins Auge. Der Bahnhofsvorsteher in Ein Vogel mit nur einem Flügel, der sein ganzes Leben dem Teekochen widmet, oder der Postvorsteher, der die ihm zugewiesene Stadt nicht erreichen kann, erinnern an Becketts Warten auf Godot oder Kafkas Das Schloss – sie könnten einem seiner Romane entsprungen sein.

Melih Cevdet Andays Roman Gizli Emir [Der geheime Auftrag], der den Staatsstreich vom 12. März 1971 vorwegnahm, ist eine der besten Kafka-Interpretationen im türkischsprachigen Roman. Mit Abstraktionen aus der Atmosphäre jener Jahre beschreibt er alle autoritären, oppressiven Machtstrukturen und die Hilfs- und Orientierungslosigkeit der in diesen Verhältnissen gefangenen Menschen. Wie bei Kafka sind die Zeit, der Ort und die Menschen, die Melih Cevdet in seinem Roman schildert, gleichsam einem Alptraum entsprungen. Alles ist absurd, aber diese Absurdität ist die Realität selbst.

Der Schrecken und das Gefühl ersticken zu müssen, wie sie die politische und soziale Atmosphäre der 1960er und 1970er Jahre in den Menschen auslöste, spiegeln sich in den Romanen von Autor*innen wie Bilge Karasu, Oğuz Atay, Erhan Bener, Çetin Altan und Erdal Öz wider. Nach den 1980er Jahren kann ich Hasan Ali Toptaş mit Die Schattenlosen, Murat Yalçın mit Hafif Metro Günleri [Die leichten Metro-Tage], Hakan Bıçakcı mit Romantik Korku [Romantische Angst], Tayfun Pirselimoğlu mit Şehrin Kuleleri [Die Türme der Stadt], Orhan Pamuk mit Schnee, Mehmet Eroğlu mit Belleğin Kış Uykusu [Der Winterschlaf des Gedächtnisses] und Haldun Çubukçu mit Bütün Aşkların Gömüldüğü Yer [Der Ort, an dem alle Liebe begraben liegt] als Autor*innen aufzählen, in deren Werken der Einfluss Kafkas deutlich spürbar ist.

Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass es noch viele weitere Romane gibt, in denen wir Kafka nachspüren können. Denn die Absurdität, in die Kafkas verwirrte Protagonist*innen geraten, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Metapher für die Welt, mit der sich der moderne Mensch auseinandersetzen muss. Aus diesem Grund führt der Weg einer jeden Person, die schreibt, um den Leser*innen die Erstickung des modernen bürgerlichen Individuums vor Augen zu führen, in der Türkei wie auch in jedem anderen Land, zwangsläufig über Kafka.

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