Seit drei Jahrzehnten entwickeln sich mit Aussicht auf großen Nutzen für den Sprachunterricht kognitive Linguistik und Grammatik. Man kann geradezu von einem Paradigmenwechsel sprechen: weg von der Form- und Strukturfokussierung, hin zu den Konstruktionen in den Gehirnen der Lernenden.
Kognitionslinguistische Ansätze gehen davon aus, dass Grammatik und Lexikon ein Kontinuum symbolischer Einheiten bilden, die jeweils einen phonologischen/orthografischen Pol (also die Formseite) und einen semantischen Pol (also die Bedeutungs- und Funktionsseite) abdecken. Denn nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Formen der Grammatik haben Bedeutungen. Die Form-Bedeutungs-Übergänge sind allerdings fließend. So finden sich einerseits idiomatische Redewendungen wie „Mit Leib und Seele Deutschlehrerin sein“, die zwar symbolisch komplex sind, aber eine sehr spezifische Bedeutung haben. Andererseits ist beispielsweise die Präposition zu in Infinitivsätzen symbolisch einfach, besitzt jedoch eine äußerst abstrakte Bedeutung: etwa in „Es ist gar nicht so schwer, sich sowas vorzustellen“. Dass die konzeptuelle Struktur der Sprache eine genauso wichtige Rolle in der Kommunikation spielt wie der konzeptuelle Inhalt, fällt jedoch den meisten Sprecherinnen und Sprechern nur gelegentlich auf, da sie in der Regel auf den Inhalt fokussiert sind. Daher erscheint es umso dringlicher, Grammatik als nachvollziehbares Grundgerüst der Sprache zu vermitteln, das sich grundsätzlich nicht vom Lexikon unterscheiden lässt.
Die Kognitive Sprachdidaktik
Das kognitionsdidaktische Modell unterscheidet insgesamt vier Ebenen: erstens die Ebene der kognitiven Linguistik, zweitens die Ebene der Transferdifferenz, drittens die Ebene der grammatischen Metapher, viertens die Ebene der Darstellung und Vermittlung.
Das Modell der kognitiven Didaktik
| Abbildung: © Jörg Roche/Ferran Suñer Muñoz 2014
Die kognitive Linguistik geht davon aus (Ebene 1), dass reale Welt-Erfahrungen symbolisiert in Sprache und Grammatik abgebildet werden. Die Zuordnung von Erfahrungen und Sprache erfolgt dabei in Domänen, die das konzeptuelle Gerüst für die Strukturierung von Inhalten darstellen: Bewegung, Raum, Gravitation, Kraft, Widerstand und andere. Körperbasierte Erfahrungen wie oben, neben, unten, heiß, kalt gibt es in allen Sprachen dieser Welt. Diese Bildschemata werden aber von Sprache zu Sprache unterschiedlich genutzt. So heißt es im Deutschen „im Regen“, im Spanischen und Französischen „unter dem Regen“ (
bajo la lluvia; sous la pluie). In diesen Sprachen sind Wettererscheinungen eine Größe über uns, und somit nach dem Bildschema oben-unten konzeptualisiert, im Deutschen und Englischen hingegen als Behälter.
Konzeptualisierung des Regens im Spanischen, Französischen und Russischen
| Abbildung (Ausschnitt): © Jörg Roche 2017
Konzeptualisierung des Regens im Deutschen und Englischen
| Abbildung (Ausschnitt): © Jörg Roche 2017
Diese unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Welt bezeichnet die kognitive Sprachdidaktik als die genuine Vermittlungsaufgabe des Unterrichts (Transferdifferenz, 2. Ebene). Transparent machen lässt sie sich unter anderem mit bildlichen Darstellungen, die den Lernenden bereits bekannt sind, sogenannten grammatischen Metaphern, wie sie zum Beispiel Sportarten darstellen (3. Ebene). Die 4. Ebene des Modells behandelt die mediale Vermittlung der Sprache, zum Beispiel die Verwendung von Animationen bei der Erklärung von Modalverben.
Grammatische Metaphern in Animationen
Besonders hilfreich zur Veranschaulichung sind Animationen: Sie dienen dazu, Grammatik durchschau-, erklär- und lernbar zu machen und die Entwicklung der konzeptuellen Kompetenz der Lernenden zu fördern. Animationen aus den Bereichen des Sports scheinen dafür sehr geeignet, weil Sportarten international weit verbreitet und bekannt sind, weil sie ein hohes Image und Motivationspotenzial haben, weil sie leicht in die Praxis transferierbar sind, weil sie im Grunde auf die gleichen Wahrnehmungs- und Gestaltungsprinzipien der Welt zurückgreifen wie Sprache.
Darüber hinaus lassen sich die Grammatikanimationen effizient mit den Prinzipien der Handlungsdidaktik und der Theater- und Tanzpädagogik verbinden: Durch ihren Rückgriff auf körperliche Erfahrungen lassen sich Animationen durch Bewegungen, Gesten etc. leicht nachbilden. Bei den Modalverben lässt sich das zum Beispiel mit dem Bildschema des Hindernisses anschaulich machen, hier dargestellt anhand einer Schranke, die von einer externen Kraft/Autorität (Polizist) bewegt wird.
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Abbildung (Ausschnitt): © Katsiaryna Kanaplianik (EL-Bouz) 2016
Neu-Präsentation einer einfachen Animation des jeweiligen Grammatikphänomens mit Hilfe einer grammatischen Metapher
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Abbildung (Ausschnitt): © Katsiaryna Kanaplianik (EL-Bouz) 2016
Wiederholung, unterstützt von grafischen Symbolen wie Pfeilen, Verstärkungen und Vergrößerungen und einzelnen einfachen Begriffen
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Abbildung (Ausschnitt): © Katsiaryna Kanaplianik (EL-Bouz) 2016
)) Zweite Wiederholung in Zeitlupe, unterlegt mit einfachen (metasprachlichen) Erklärungen
Lernziel Konzeptuelle Kompetenz
Vor diesem Hintergrund setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der erfolgreiche Sprachenerwerb sich nicht nur auf das Wissen über die formellen Eigenschaften einer Sprache und deren denotative Bedeutungen beschränkt, sondern auch den kultursensitiven Umgang mit der entsprechenden konzeptuellen Versprachlichung von Erfahrungen umfasst. Den Erwerb einer solchen konzeptuellen Kompetenz kann man also getrost als das übergeordnete Ziel des Sprachenunterrichts ansehen. Dies erfordert jedoch die aktive Auseinandersetzung der Lernenden mit den konzeptuellen Unterschieden – also die Überbrückung der Transferdifferenz – durch die Herstellung entsprechender Links zwischen der Erst- und der Fremdsprache. Den Endzustand einer erfolgreichen Integration der konzeptuellen Unterschiede kann man mit einem Begriff aus den kognitiven Kulturwissenschaften als Transdifferenz bezeichnen. So bildet sich aus der kognitiven Sprachdidaktik eine natürliche Brücke zur Landeskunde: Die Grundlagen einer Sprachkultur lassen sich plastisch, nachvollziehbar und nachhaltig erklären.
Die anfängliche
Transferdifferenz von Sprachen ist also kein Hindernis für den Sprachenerwerb. Sie initiiert im Gegenteil wichtige Prozesse der konzeptuellen Sprachbewusstheit, die für den Erwerb konzeptueller Kompetenz in der Fremdsprache wie auch in der Ausgangssprache von zentraler Bedeutung sind.
Literatur
Gradel, Valentina (2016): The acquisition of the German case system by foreign language learners through computer animations based on cognitive linguistics. In: Stefanowitsch, Antol/Schoenefeld, Doris (Hg.): Yearbook of the German Cognitive Linguistics Association. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 113-134.
Kanaplianik (EL-Bouz), Katsiaryna (2016): Kognitionslinguistisch basierte Animationen für die deutschen Modalverben. Zusammenspiel der kognitiven Linguistik und des multimedialen Lernens bei der Sprachvermittlung. Berlin/Münster: Lit. Verlag.
Langacker, Ronald W. (2008): Cognitive Grammar. A Basic Introduction. Oxford/New York: Oxford University Press.
Littlemore, Jeannette (2009): Applying cognitive linguistics to second language learning and teaching. Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan.
Roche, Jörg (2013): Mehrsprachigkeitstheorie. Erwerb – Kognition – Transkulturation – Ökologie. Tübingen: Narr.
Roche, Jörg/Suñer Muñoz, Ferran (2014): Kognition und Grammatik: Ein kognitionswissenschaftlicher Ansatz zur Grammatikvermittlung am Beispiel der Grammatikanimationen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19. Jg., H. 2, S. 119-145.
Roche, Jörg/Scheller, Julia (2008): Grammar Animations and Cognitive Theory of Multimedia Learning. In: Zhang, Felicia/ Barber, Beth (Hg.): Handbook of research on computer-enhanced language acquisition and learning., Hershey/New York: Information Science Reference, S. 205-219.
Tyler, Andrea (2008): Cognitive linguistics and second language instruction. In: Robinson, Peter/Ellis, Nick C. (Hg.): Handbook of cognitive linguistics and second language acquisition. New York/London: Routledge, S. 456–488.