Retrospektive Locarno 2016
Ein neuer Blick auf das deutsche Nachkriegskino
Die Filme der Adenauer-Ära gelten vielen als anspruchsloses biederes Unterhaltungskino. Dass das deutsche Nachkriegskino weitaus vielfältiger war, hat die Retrospektive des Internationalen Filmfestivals von Locarno belegt.
Franziska will weg, so schnell wie möglich, egal wohin. Sie erträgt ihren Ehemann nicht mehr, mit dem sie nach Mailand gereist ist. Der nächste Schnellzug geht nach Venedig, ohne Gepäck steigt sie ein. Aber der Fluchtort wird zur Sackgasse. Am Ende wird sie wieder am Fahrkartenschalter stehen.
Helmut Käutners subtilem modernen Frauenporträt Die Rote (1962) war nach seiner Uraufführung kein Erfolg beschieden. Es passte nicht in das Schema beliebter Publikumsproduktionen: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wollte sich die große Mehrheit der Kinogänger weder mit den nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, noch mit der Aufarbeitung der Vergangenheit oder einem kritischen Blick auf die Gegenwart konfrontieren.
Papas Kino ist tot
Dem Bedürfnis nach leichter Unterhaltung entsprach das westdeutsche Nachkriegskino zwischen 1949 und 1963, der Regierungszeit Konrad Adenauers, mit unzähligen Komödien, Heimatfilmen und rührseligen Melodramen. Klischeehafte Spielfilme wie Schwarzwaldmädel (Hans Deppe, 1950), Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin (Ernst Marischka, 1957) oder Die Trapp-Familie (Wolfgang Liebeneiner, 1956) mit Stars wie Maria Schell, Romy Schneider oder Dieter Borsche avancierten zu großen Kassenerfolgen. Gegen dieses inhaltlich und formal schematisierte westdeutsche Mainstreamkino richtete sich 1962 die Kritik junger Filmschaffender. Im sogenannten Oberhausener Manifest setzten sie unter dem Motto „Papas Kino ist tot“ ein Fanal für eine radikale Erneuerung des deutschen Films. An der Einschätzung, das Kino der Adenauer-Ära sei bieder und wenig innovativ, hat sich bis heute wenig geändert. Doch in der Zeit von 1949 bis 1963 wurden über Tausend Filme in Deutschland gedreht. Dass darunter durchaus auch qualitativ hochwertige Filme waren, wurde meist übersehen.
Kostbare Wiederentdeckungen
Eine repräsentative Auswahl jener oftmals vergessenen, aus der Masse herausragenden Produktionen präsentierte die groß angelegte Retrospektive des Internationalen Filmfestivals von Locarno im August 2016. Unter dem Titel Geliebt und verdrängt wurden Filme gezeigt, die einen genauen und meist kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er- und 1960er-Jahre werfen. Sie belegen, dass das Nachkriegskino der Bundesrepublik weitaus vielfältiger war als sein Ruf.
Die Ratten (1954) von Robert Siodmak
| Foto (Ausschnitt) © Deutsches Filminstitut, Frankfurt
Vor allem dem erfolgreichen Produzenten Artur Brauner war es schon früh wichtig, neben lukrativen Unterhaltungsfilmen ambitionierte Werke zu schaffen, die sich kritisch mit Gegenwart und Vergangenheit auseinandersetzen. Seine Firma CCC-Film produzierte unter anderem die preisgekrönte Gerhard-Hauptmann-Verfilmung Die Ratten (1954) des während der NS-Zeit in die USA geflohenen Regisseurs Robert Siodmak. Auch Der achte Wochentag (Aleksander Ford, 1958), ein Gesellschaftsdrama über ein deutsch-polnisches Paar, das im kriegszerstörten Warschau keinen Ort für ein intimes Zusammensein findet oder Helmut Käutners Politthriller Epilog (1950) wurden von Brauner realisiert. Insbesondere Helmut Käutner (1908 – 1980), der sich in Filmen wie Große Freiheit Nr. 7 (1944) oder Unter den Brücken (1945) auch während des Nationalsozialismus eine gewisse ideologische Unabhängigkeit bewahrte, hat die Retrospektive als einen der ganz Großen wiederentdeckt.
Schwarzer Kies (1961) von Wolfgang Käutner
| Foto (Ausschnitt) © Deutsches Filminstitut, Frankfurt
Sein bislang nur in einer zensierten Kopie erhältlicher Film Noir Schwarzer Kies (1961) verdient besondere Beachtung. Eine Militärflugbasis für mehrere Tausend US-amerikanische Soldaten in Deutschland wird zum Dreh- und Angelpunkt für Schwarzhandel, Opportunismus und Prostitution. Schwarzer Kies reflektiert bundesdeutschen Nachkriegsalltag, übt offen Kritik an den US-Besatzern und ihren Verbündeten und ist in seiner ungeschönten Gesellschaftskritik ein Ausnahmefilm in der BRD der Nachkriegszeit.
Imperialismuskritik in DEFA-Filmen
Kritische Auseinandersetzungen mit der NS-Zeit und der Bundesrepublik während der Adenauer-Ära finden sich hingegen vor allem unter den Filmen der DEFA. Darin greift die volkseigene Produktionsfirma der DDR solche Themen auf, die in der Bundesrepublik totgeschwiegen wurden und suggeriert zugleich, dass das sozialistische Gesellschaftssystem der „imperialistischen“ Bundesrepublik moralisch überlegen sei. Sie handeln von Nationalsozialisten, die nach dem Krieg in der BRD Karriere machen, von US-amerikanischen Alliierten, die mit militärischen Projekten den Frieden gefährden und von atomarer Aufrüstung in der Bundesrepublik. Das Drama Spotkania w mroku (1960, deutscher Titel: Begegnung im Zwielicht) der Regisseurin Wanda Jakubowska beschreibt etwa die menschliche Enttäuschung einer polnischen Pianistin. Nach Kriegsende kehrt sie in eine westdeutsche Kleinstadt zurück, in der sie zuvor als „Zwangsarbeiterin“ leben musste. Ausgerechnet der Mann, für den sie damals tiefere Gefühle entwickelte, kollaboriert nun mit ehemaligen Nazis.
Begegnung im Zwielicht (Spotkania w mroku, 1960) von Wanda Jakubowska
| Foto (Ausschnitt) © DEFA-Stiftung/Eduard Neufeld.
Spotkania w mroku besticht mit faszinierenden Schatteneffekten in der Bildästhetik. Die aufwühlende Musik des Komponisten Stanislaw Skrowaczewski, aus dessen Klavierkonzert lange Passagen die Geschehnisse untermalen, betont mit harten und schwermütigen Klängen die von wechselnden Emotionen und düsteren Impressionen bestimmte Handlung.
Ein singuläres Beispiel deutsch-deutscher Koproduktionen
Als einer der wenigen westdeutschen Regisseure setzte sich Wolfgang Staudte (1906 – 1984) mit dem Nationalsozialismus auseinander. Er führte Regie bei dem ersten deutschen Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (1946) und arbeitete ab 1955 zum Missfallen der Bundesrepublik verstärkt für die DEFA. Daneben versuchte er in der BRD, gesellschaftskritische Anliegen zu inszenieren. Sein außergewöhnliches Drama Leuchtfeuer (1954) ist ein seltenes Beispiel deutsch-deutscher Koproduktionen.
Foto (Ausschnitt): © Deutsches Filminstitut, Frankfurt
Dem Münchner Produzenten Erich Mehl gelang dieser Clou, indem er eine Stockholmer Firma mit dem symbolträchtigen Namen Pandora als Tarnung ins Spiel brachte. Der Film erzählt von Bewohnern einer kargen Fischerinsel, die in große Hungersnot geraten und darüber ihre Moral verlieren. Auf Strandgut von zerschellten Schiffen hoffend, setzen sie den Leuchtturmwärter unter Druck, die Lichter zu löschen – mit fatalen Folgen. Mit seinen dramatischen Unwetterszenen auf hoher See erweist sich dieses komplexe zeitlose Drama um Schuld und Verantwortung auch als ein formal und optisch bemerkenswertes, faszinierendes Werk.