Ausgesprochen … gesellig
Ein letztes Mal
Dies ist der letzte Kolumnenbeitrag in dieser Reihe von Maximilian Buddenbohm. Ein letztes Mal beobachtet er – sehr treffend – gesellschaftliche Vorgänge im Alltag.
Von Maximilian Buddenbohm
Dies ist die letzte Kolumne in dieser Reihe, in der es um die Gesellschaft gehen sollte, um das Miteinander. Wie sich dieser Umgang ändert, wie die Zeit und die Ereignisse, Trends darauf einwirken. Große Themen, die man, so habe ich gedacht, gut im Kleinen erwischt, wenn man etwa bloß aus dem Fenster sieht, wenn man wie jeden Tag zum Einkaufen geht, in einen Coffee-Shop oder in die Bücherei, in die Stadt, auf einen Markt. Wenn man normale Dinge macht und dabei aufpasst und mitschreibt. Wobei übrigens, aber das nur als Arbeitsanekdote am Rande, verblüffend viele Menschen leicht verunsichert reagieren, wenn man neben ihnen etwas notiert, und zwar, das ist leicht zu beobachten, je förmlicher ich dabei angezogen bin, desto mehr. Vielleicht sehe ich aus, wie man sich einen vom Ordnungsamt vorstellt, vielleicht habe ich meinen Beruf verfehlt. Egal, es ist zu spät für mich, das noch neu zu entscheiden.
Die Weltgeschichte zeigt sich jedenfalls rückblickend in den großen Ereignissen, das kann man in Schulbüchern nachlesen, die Kulturgeschichte zeigt sich in dem, was wir die ganze Zeit gemacht haben, das kann man in Romanen, in Tagebüchern und in manchen Kolumnen nachlesen.
Tagebücher
In meinem Studium vor vielen Jahren haben wir uns auch mit Tagebüchern befasst, mit der Verschlagwortung ihrer Inhalte für Archivzwecke. Ich habe Bibliothekswesen studiert, da war das naheliegend. Wir haben in einem Seminar zum Thema alte Tagebücher gelesen und bearbeitet, es waren handgeschriebene Tagebücher von Menschen, die nicht prominent waren, die keine besondere Position hatten. Sie hatten nur die seltsame Marotte, ihren Alltag schriftlich festzuhalten. Ich weiß noch, wie erhellend wir das fanden. Da hat eine Frau, irgendeine Frau, 1920 Kaffee für sich und ihren Mann gekocht, und schon wie sie das gemacht hat – sie hätte uns noch viel mehr Details nennen können, wir fanden das alles spannend und aufschlussreich und meinten auch, dabei etwas zu lernen.Aber während man es erlebt, kocht man eben nur Kaffee. Jeden Tag macht man das, immer wieder, es ist einigermaßen langweilig, und es braucht einen merkwürdigen Drang, um das zu notieren. In Blogs wird so etwas oft festgehalten. Lesen Sie auch Blogs, wenn Sie auf einer Ebene unterhalb der Schlagzeilen über die Gesellschaft informiert bleiben wollen. Ohne eine solche Empfehlung möchte ich die Reihe hier nicht beenden.
Ich gehe noch einmal an einem Sonnabend für diese Kolumne in die Stadt. Das sollte man allerdings nicht tun, merke ich gleich, denn das machen alle, es ist voll. Es ist sogar noch voller als sonst, ich staune. Es kommt mir vor, als seien heute sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner Hamburgs gleichzeitig in der Innenstadt unterwegs. Es gibt kein besonderes Event in der Stadt, es ist nur gutes Wetter und der Herbst wird in Kürze erwartet, da gehen die Menschen zum Shopping, und wie sie das tun.
Shopping
Die Herbstkollektionen sind noch nicht lange verfügbar, aber viele von den Menschen, die mir zu Tausenden entgegenkommen, tragen schon auffällig neue Sachen, haben schon irgendwo bestellt oder waren in der letzten Woche bereits in den Läden und gehen nun die nächste Runde. Dieses Spiel wiederholt sich zwar, wenn die Läden nicht gerade wegen einer Pandemie geschlossen haben, zu jedem Saisonwechsel, aber es kommt mir so vor, als falle der Wechsel der Mode dieses Mal krasser aus. Es tragen auf einmal dermaßen viele Menschen das, was auch in den Schaufenstern neben ihnen hängt … ich bin mir nicht sicher, ob ich es schon jemals in dieser Überdeutlichkeit und fast satirischen Zuspitzung wahrgenommen habe, wie geschlossen wir uns als Kollektiv auf Kommando gleichzeitig umziehen. Vielleicht sehe ich auch eine Spätfolge der Coronajahre oder eine Trotzreaktion gegenüber der Inflation und den Preisen, ich weiß es nicht.Tatsächlich tragen heute so viele Menschen offensichtlich neue Sachen, dass ein Gedanke naheliegt, der einer näheren Prüfung vermutlich nicht standhalten würde, sich aber aufdrängt – so schlecht kann es uns nicht gehen. Was die alles kaufen! Was die alles wegtragen! Das kann doch nicht wahr sein! In den Haupteinkaufsstraßen sieht es aus, als würde sich die Gesellschaft heute für viel Geld neu einkleiden, es ist ein Shopping-Flashmob.
Jetzt kommt, versteht sich, der obligatorische Hinweis, dass diese Szene nichts oder zu wenig über den Wohlstand der Gesellschaft aussagt. Es ist nur eine Stadt, an einem Tag, zu einer Stunde. All diese Kleidung, sie ist vielleicht billiger, als ich zunächst unterstelle, und viele der Menschen haben vielleicht lange keine Kleidung mehr gekauft, mein erster Eindruck kann falsch sein. Er kann auch stimmen, so ist es nicht, ich habe nur keine genaue Kenntnis. Ich könnte nach Hause gehen und mir denken: „Na, so schlimm kann es mit der Wirtschaftskrise gar nicht sein.“ Ich könnte auch nach Hause gehen und denken: „Nanu, das war jetzt aber merkwürdig.“ Und das wäre die bessere Variante.
Leder
Es gibt aber doch etwas, das ich allgemeingültig aus diesem Besuch in der Stadt ableiten möchte, und es hat einen Bezug zu den anderen Krisen, die wir in diesen Jahren durchleben.Mir kommen da etwa zwölf, vierzehn junge Frauen entgegen. Eine sehr gutgelaunte Gruppe ist das, man hört es gleich. Laut lachend, etwas herumrangelnd, sie schwenken Einkaufstaschen und rempeln sich spaßeshalber an, sie trinken Kaffee aus Pappbechern und zwei singen etwas zu einer Handymelodie, immer wieder dabei kreischend und kichernd. Sie sind laut, sie sind fröhlich, sie haben offensichtlich beste Laune. Und sie tragen alle schwarzes Leder.
Es ist nicht so, dass alles, was sie tragen, aus Leder wäre, aber es ist doch viel. Röcke, Hosen, Jacken, Mäntel, Tops, alle Varianten der Lederoberbekleidung kann ich im Vorbeigehen kurz wahrnehmen, eine reiche Auswahl. Es ist also klar, dieser Trupp hat schon vor diesem Besuch in der Stadt erfolgreich eingekauft. Und klar ist auch, Leder ist in, besonders schwarzes Leder. Falls man es noch nicht gewusst haben sollte, man ist spätestens jetzt darüber informiert, wenn man diesen Trupp junger Frauen gesehen hat. Sie sehen aus wie eine frisch durchgestylte Modestrecke aus einer Zeitschrift, es läuft nur kein Fototeam neben ihnen her. Auch andere Frauen in der Stadt tragen Leder, sehe ich dann, und viele sind es. Aber nur bei diesem Trupp der jungen Frauen wirkt es so geballt auffällig, als sei es eine Art von neu erworbener Teamkleidung.
Der Übergang von Mode zu Mode ist manchmal fließend, manchmal etwas ruckartiger, dieser hier ist plötzlich. Es ist nur wenige Wochen her, vier vielleicht, da wäre der Anblick dieser Gruppe noch einigermaßen grotesk gewesen, hätte ganz andere Assoziationen geweckt und die Frauen wären in dieser Kleidung allen aufgefallen, wie ein Ensemble von Schauspielerinnen in exaltierten Kostümen. Heute dreht man sich nicht nach ihnen um, sie fallen wohl nur wenigen auf. Sie tragen eben die neue Mode, na und. So schnell geht das, denke ich, so schnell ändern sich die Trends und unsere Wahrnehmung und so schnell, darauf kommt es an, tritt eine andere Normalität ein.
Anpassung
Der Sachverhalt wird noch bemerkenswerter, wenn man die Zeiträume genau eingrenzen kann. Wir brauchen also nur ein paar Wochen, um einen auffälligen Wechsel verdaut zu haben. Wenn Sie mir nicht folgen können, stellen Sie sich bitte vor, Ihnen wären vor zwei Monaten vierzehn junge Frauen in Leder entgegengekommen, dann verstehen Sie mich vermutlich.Das ist, wenn man den großen Bogen sehen möchte, das Erfolgsrezept der Menschheit, wenn man unsere Geschichte überhaupt als Erfolg sehen möchte. Wie unfassbar schnell wir uns jederzeit anpassen und ändern können, wie schnell wir unsere vereinbarte Normalität verschieben und neu justieren können. Im Großen und im Kleinen können wir das, von der Mode bis zur Politik und zur Weltgeschichte.
Und ich schließe mit der Einschränkung, dass wir uns zwar wahnsinnig schnell anpassen können, aber doch nicht immer auf die richtige Art, wie ich am Beispiel dieses Spaziergangs durch die Stadt noch eben erläutern kann. Denn die Menschen haben zwar alle schnell auf eine neue Mode umgeschwenkt, auf die Herbstmode des Jahres – aber es ist gar kein Herbst. Es sind 25 Grad an diesem Tag Ende September, kurz nach dem heißesten Sommer der Geschichte, und die Menschen in den neuen Sachen, auch der Schwarm junger Frauen in schwarzem Leder, sie schwitzen wie irre, denn die neue Kollektion ist viel zu warm für dieses Wetter.
Vielleicht sind wir doch nicht schnell genug für alle Umbrüche gerade. Man wird es beobachten müssen.
„Ausgesprochen …“
In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Maximilian Buddenbohm und Susi Bumms. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.