Der Fall der Berliner Mauer war zweifellos eines der bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Ein Triumph der Bürgerbeteiligung. Doch trotz der anfänglichen Euphorie nahm die Zuversicht in den folgenden Jahren immer mehr ab. Das Versprechen einer besseren Zukunft für alle, und besonders für die Ostdeutschen, blieb eben das, ein Versprechen, das sich im Laufe der Zeit verflüchtigte. Durch die Logik des Kapitalismus und der Konsumgesellschaft wurden viele Menschen ausgegrenzt. Kleine Städte im Osten ohne Wachstumsperspektiven waren zum Ausschluss aus dem System verurteilt und ihre Einwohner, die in der DDR geboren und aufgewachsen waren, mussten alles neu lernen. Wer sich schnell anpassen konnte, vor allem junge Menschen, machte sich auf die Suche nach beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten in den großen Metropolen der ehemaligen Bundesrepublik. Die beiden Filme Freies Land von Christian Alvart und Deutschlandreise von Wolfgang Ettlich, die den diesjährigen Zyklus von Haus-Kino abschließen, thematisieren diese historische Zeit der Wiedervereinigung und die darauf folgende Ernüchterung, die sich im Alltag ihrer Bewohner ausbreitete.
Auch der Film befasst sich mit den aktuellen Schlüsselthemen wie Diversität, struktureller Rassismus und Fragen der Identität. Im Oktober präsentiert Haus-Kino zwei Filme, die von der Suche nach den Wurzeln in einer von Vorurteilen und Diskriminierung geprägten Gesellschaft erzählen. In Deutschland leben über eine Million Personen afrikanischer Abstammung, aber ihre Geschichten bleiben weitgehend unsichtbar. In Ines Johnson-Spain's Becoming Black erzählt die Regisseurin von ihrer Suche nach Zugehörigkeit. Viel Zeit verging, bis sie die Erklärung erhielt, die ihr nie gegeben worden war: Es kann nicht sein, dass eine weiße Familie ein schwarzes Kind bekommt. Das Schweigen, oder genauer, das Verschweigen steht im Zentrum dieses Dokumentarfilms. Ivie wie Ivie von Sarah Blaßkiewitz erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die trotz ihrer privilegierten Herkunft aufgrund ihres Aussehens regelmäßig mit Rassismus und Stereotypen konfrontiert wird. Sie hat diesen Zustand jedoch so verinnerlicht, dass sie ihn als normal empfindet.
Im Jahr 1969 machte Carol Hanisch den Begriff populär, der diesem Zyklus seinen Namen gibt und sich auf die Verbindungen zwischen persönlichen Erfahrungen und den größeren sozialen und politischen Strukturen bezieht. In einer Gesellschaft, die von historisch hegemonialen Diskursen dominiert wird, spricht das Kino afrodeutscher Frauen von der Existenz als Widerstand.
Im September stellt Haus-Kino zwei Filme vor, die sich mit den Themen Jugend und Zukunft beschäftigen.
Futur Drei begleitet drei Berliner Jugendliche iranischen Ursprungs, die ihre Identität und Umgebung mit großer Frische und Authentizität erkunden.
Dear Future Children dokumentiert den Kampf von drei jungen Aktivistinnen in Chile, Hongkong und in Uganda, die sich für soziale, politische und umweltbezogene Themen einsetzen.
Beide Filme zeigen drei Hauptfiguren, beide sind Debütfilme und erhielten viele Auszeichnungen. Darüber hinaus sind beide aus Kollektiven junger Menschen hervorgegangen, die ihre Meinung und den Wunsch, Machthierarchien abzubauen klar äußern. Es geht darum, Dinge anders zu machen, sowohl vor als auch hinter der Kamera.
Futur Drei ist mit den Worten des Regisseurs Faraz Shariat „ein Film, der eine vielschichtige Perspektive auf Rasse, Klasse, Geschlecht und Homosexualität bieten will. Es geht auch um die Arbeit des Protagonisten im Flüchtlingszentrum. Das Thema Einwanderung und die Dichotomie von Einwanderung und Rassismus sind in diesem Film sehr wichtig und waren vielleicht meine Hauptmotivation, ihn zu machen".
Regisseur Franz Böhm sagte über Dear Future Children: "Mit unserem Film wollen wir die Energie, die Wut und den Einfallsreichtum verschiedener Akteure des internationalen Protests gegen Klimawandel, die Zumutungen sozialer Ungleichheit und Aushöhlungen der Demokratie dokumentieren. Es soll eine Hommage an Menschen sein, die aus einer Position der schieren Aussichtslosigkeit heraus das Wort ergreifen und sich selbst zu Taten ermächtigen. Darüber hinaus zeigen wir die Wirkungen, die ihre Aktionen auf der ganzen Welt haben".
Wir alle sind oder waren irgendwann, auf irgendeine Art und Weise, Migranten. Sowohl die Sozialwissenschaften als auch die Politik haben sich mit Migration, Anpassung, Machtverhältnissen und in jüngster Zeit auch mit Diskursen über Dekolonisierung beschäftigt. So bietet auch der Film immer wieder die Möglichkeit, dem Phänomen der Migration Gesichter und persönliche Geschichten zu geben. Im August präsentiert Haus-Kino R.W. Fassbinders herzerschütternden Klassiker Angst essen Seele auf, ein Melodram, das anhand einer Liebesgeschichte Bürokratie und ironische Blicke auf die bestehenden Zustände sozialer Unterdrückung darstellt. Liebe und Hartnäckigkeit wiederholen sich in Darío Aguirres biografischem Dokumentarfilm Im Land meiner Kinder.
Juli: die Erzählkunst neu erfinden
Die Formen des Erzählens im Film werden ständig neu geprägt, verändern sich und verschieben ihre Grenzen. Im Juli präsentiert Haus-Kino zwei Filme, die neue Wege der Kommunikation mit dem Publikum einschlagen und traditionelle Ideen des Filmemachens infrage stellen. The Lobby von Heinz Emigholz ist ein Film, der in seinen Aufnahmen mit visueller Akrobatik neue Erzählformen erfindet. Und die iranische Filmemacherin Narges Kalhor erzählt in ihrem Dokumentarfilm In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran eine Geschichte, die sich mit einer anarchischen Wucht des Filmens, des Begehrens und der Wahrnehmung zwischen Traum und Realität bewegt. Beide Filme versetzen uns in einen Zustand der Verunsicherung und Verzauberung, indem sie die übliche, bequeme Zuschauerhaltung aufbrechen, mit der wir gewöhnlich Filme sehen. Sie stellen eine Herausforderung, eine Verführung und eine Suche des experimentellen Filmens dar.
Im Juni zeigt das Haus-Kino im Rahmen des „International Pride Day“ zum Gedenken an die Stonewall-Unruhen von 1969 zwei Filme zum Thema Geschlechteridentität, die den Blick erweitern und dazu einladen, uns darauf einzulassen. Es handelt sich dabei um den neuen Dokumentarfilm Genderation der schon legendären Regisseurin Monika Treut, für den sie nach San Francisco zurückkehrt, um die „Gendernauten“ der Trans-Bewegung der 1990er Jahre zu besuchen. Zum anderen wird der Spielfilm Neubau gezeigt, das Filmdebüt von Johannes Maria Schmit, ein queerer Heimatfilm über einen jungen Transsexuellen, der zwischen der Ruhe auf dem Land und dem Glücksversprechen der Großstadt schwankt. Aus der Perspektive verschiedener Generationen von Filmemachern und Protagonisten schildern beide Filme auf einfühlsame und hoffnungsvolle Weise die (fiktive oder reale) Gegenwart, das Leben in der Gemeinschaft, das Alter und den Tod, den Raum und die Sehnsüchte von Transmenschen.
Im Mai zeigt das Haus-Kino zwei Filme, die sich mit der Emanzipation der Frau in ihren persönlichen und beruflichen Beziehungen befassen.
Die Filmemacherin und Vertreterin des deutschen feministischen Kinos, Tatjana Turanskyj, zeigt in Eine flexible Frau die konservative Emanzipation, der Frauen im Kontext der Arbeitsflexibilität des globalisierten Kapitalismus unterworfen sind. In dem bewegenden Dokumentarfilm Walchensee forever von Janna Ji Wonders befragt die Regisseurin die Frauen in ihrer Familie nach der Befreiung von ihren emotionalen Bindungen zu Männern und ihrem Herkunftsort. Zwei Biografien kämpferischer Frauen, die zum Nachdenken und zur Fortsetzung des Kampfes für eine echte Frauenemanzipation einladen.
Beide Filme können kostenlos mit spanischen Untertiteln auf der Plattform Goethe on Demand angesehen werden.
Auf vollkommen unterschiedliche Weise beschreiben die beiden Filme, die Haus-Kino im Oktober präsentiert, Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Den heimatlichen Herkunftsort aufgrund von traumatischen Ereignissen verlassen zu müssen, ist oft nur schwer zu ertragen und in Extremfällen kann es bedeuten, dass das Leben auch danach noch in Gefahr ist.
Der Spielfilm Exil von Visar Morina ist ein beunruhigendes Drama von einem ausländischen Chemieingenieur, der in Deutschland arbeitet und in eine tiefe Identitätskrise fällt, weil er sich von seinen Kollegen diskriminiert fühlt. Mit einer ganz besonderen, dokumentarischen Herangehensweise fordert Havarie von Philip Scheffner große Aufmerksamkeit und Reflexion des Zuschauers. Ein Schlauchboot voller Flüchtlinge und ein Kreuzfahrtschiff mitten auf dem Meer. Indem Scheffner den Ton verdichtet und vom Bild loslöst, schafft er einen unglaublich intensiven Wahrnehmungsraum für den Zuschauer. Ein radikaler Befreiungsschlag des Kinos.
Im September zeigt Haus-Kino zwei starke Filme zum Thema Mann Sein. Der Spielfilm Atlas (2017) von David Nawrath erzählt die Geschichte eines Mannes, der eine der undankbarsten Arbeiten verrichet, er ist Möbelpacker bei Zwangsräumungen. In einer dieser Räumungsaktionen glaubt er in dem Mieter seinen Sohn zu erkennen und muss sich nun nicht nur mit dem Druck seines Arbeitgebers sondern auch mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen.
Und in hybridem Dokumentarfilmformat Männerfreundschaften (2018), eine spannende Einladung von Rosa von Praunheim, der anhand von übermütigen und unbekümmerten Assoziationen der Frage nach der Homosexualität des renommiertesten deutschen Schriftstellers Johann Wolfgang von Goethe nachgeht und gleichzeitig die Möglichkeit einer romantischen Beziehung zu dem berühmten Dichter Friedrich Schiller untersucht. Von Praunheim präsentiert seine ausgiebigen Forschungen in nachgestellten Szenen und wirft die Frage einer möglichen Neudeutung der deutschen Klassik auf.
Im August präsentiert Haus-Kino einen Spiel- und einen Dokumentarfilm, die beide der Frage nach dem deutschen Begriff von Heimat nachgehen, der kaum in andere Sprachen zu übersetzen ist und mit Begriffen wie Ort der Zugehörigkeit, Ursprungsland, Vaterland oder auch ein Raum in der Zeit umschrieben werden
Der Klassiker Malou (1980/81) der deutsch-argentinischen Filmemacherin Jeanine Meerapfel begleitet die junge Hannah auf ihrem Weg der Selbstfindung auf den Spuren ihrer Mutter Malou, die alles hinter sich ließ, um einem Mann nach Argentinien zu folgen.
In dem Meisterwerk Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019) verwebt der Dokumentarfilmemacher Thomas Heise persönliche Dokumente seiner Familie aus vier Generationen und lässt den Zuschauer ein Jahrhundert deutscher Geschichte hautnah nachempfinden.
Die beiden Juli-Filme von Haus-Kino reflektieren die in der Bundesrepublik Deutschland ab den 1960er Jahren vorherrschende Weltanschauung, die stark vom wachsenden Wohlstand und dem Glauben an ein unendliches Wachstum geprägt war.
Mit seinem unwiderstehlichen Humor verleiht der kleine Hape in Der Junge muss an die frische Luft (von Oskargewinnerin Caroline Link, 2018) dem schwierigen Alltag der Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet der 1970er Jahre einen ganz besonderen Glanz. Juliane Henrich hingegen spürt der Frage nach, wie der Begriff des „Westens“ sich von seiner ursprünglichen Bedeutung loslösen und zur Bezeichnung einer Ideologie, eines Gesellschaftsmodells werden konnte, um schließlich in jede Spalte der westdeutschen Geschichte zu dringen
HAUS-KINO eröffnet sein Programm im Juni mit zwei Filmen, die die kleine Benni (9) und die bezaubernde Carlotta (50) begleiten. Beiden bleibt aufgrund unterschiedlicher persönlicher Probleme eine Aufnahme in normale gesellschaftliche Strukturen verschlossen.
Der Spielfilm Systemsprenger von Nora Fingscheidt zeichnet ein bewegendes Bild von Benni und den Menschen, die immer wieder scheitern in ihren Versuchen, dem traumatisierten Mädchen Halt zu geben und zu helfen, ihre Ängste und Aggressionen zu überwinden.
Carlotta dagegen geht in dem hybriden Dokumentarfilm Lost in face von Valentin Riedl einen sehr eigenen Weg, um mit ihrer physischen Behinderung kreativ umzugehen.