Ausgehend von persönlichen Dokumenten, von Filmemacher Thomas Heise aus dem Off vorgetragen, entsteht nicht nur das Bild einer Familie über vier Generationen hinweg, sondern auch die persönlichen Verstrickungen eines Jeden in den Zeitläufen des 20. Jahrhunderts treten deutlich hervor: Der Schulaufsatz aus dem Kaiserreich, die Briefe des Vaters aus dem Nazi-Arbeitslager, von den jüdischen Verwandten aus Wien, kurz vor ihrer Deportation, die Tagebücher der Mutter aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, der Briefwechsel zwischen der Sozialistin und ihrem Verehrer aus Mainz, die Notizen des Regisseurs aus der Nachwendezeit. Dazu Schwarzweiße Aufnahmen der erwähnten Orte in der Gegenwart: das Arbeitslager, ehemalige NVA-Kasernen, Reihenhäuser in Mainz, eine Fahrt mit der Wiener Straßenbahn, ein Hörsaal der Universität, an der der Vater Professor war, und immer wieder Züge und Gleise – und in Farbe, die Deportationslisten der Wiener Juden. Ein Film über deutsche Geschichte, Heimat-Geschichte und die Frage, was bleibt?
auszeichnungen
- Caligari Filmpreis / IFF Berlin (2019)
- Preis für den besten Dokumentarfilm / Visions du Réel Nyon (2018)
- Social Awareness Award / Crossing Europe Linz (2018)
- Deutscher Dokumentarfilmpreis / Deutscher Dokumentarfilmpreis (2019)
- Preis der deutschen Filmkritik / Verband der deutschen Filmkritik (2020)
kritiken und Empfehlungen
„Auf der Berlinale läuft auch ein Film, der einen Weg weist zu dem, was deutsche Heimat sein könnte. Er handelt von einem Land, das er im Laufe von dreieinhalb Stunden erst entstehen lässt. Heimat ist ein Raum aus Zeit heißt der monumentale und dabei doch so filigrane Film, in dem Thomas Heise die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre fast ausschließlich mit Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Schulaufsätzen seiner Familie erzählt. All diese Texte liest Heise mit ruhiger Stimme selbst vor. Ihr Bogen führt von seinen Großeltern väterlicherseits über zwei Weltkriege bis in den Alltag der DDR und in die Gegenwart. 'Es ist schon komisch, diese großen Daten, Kriegsbeginn, Kriegsende, Mauerbau, Mauerfall, werden gar nicht markiert, aber sie sind trotzdem da', sagt Thomas Heise in seiner vor Büchern schier berstenden Berliner Wohnung in der Schönhauser Allee. (…) Er finde den Begriff Heimat schwierig, weil er oft ideologisch überformt sei, sagt Heise. 'Was mir daran gefällt, ist seine Offenheit für Widersprüche und die Unmöglichkeit, ihn restlos aufzuklären. Wie dem auch immer sei, man kann ihr nicht entkommen.' Und man will es auch nicht, nachdem man Thomas Heises Film gesehen hat. Und so geschieht es, dass man einen Film wie eine fatale, zarte, traurige, nachdenkliche deutsche Heimat bewohnen kann, der man gemeinsam mit dem Regisseur und seiner Familie ins Auge blickt.“ (Katja Nicodemus, Die Zeit)„Die Szene etwa, die von der Deportation der Wiener Großmutter-Familie erzählt, ist atemberaubend - von einer dramaturgischen Intensität, die einem die Unfassbarkeit des Holocaust konkret werden lässt. Und das gerade weil im Bild zu diesem Zeitpunkt nichts als eine alphabetisch geordnete Liste abgefahren wird, auf der als Datum der 19. Oktober 1941 vermerkt ist. Es ist der Tag, an dem alle hier namentlich aufgeführten Wiener Juden in Zügen in die Lager im Osten geschickt werden. Auf der Tonspur sind die postalischen Nachrichten an Heises Großeltern in Berlin zu hören, deren Datumsmarken sich unaufhaltsam diesem 19. Oktober 1941 annähern. Aus der Korrespondenz, die von den Mal für Mal größer werdenden Zumutungen handeln, spricht immer auch noch etwas Hoffnung – als Zeichen der Unmöglichkeit, sich die bürokratisch organisierte, massenhafte Vernichtung von Menschen vorstellen zu können.“ (Matthias Dell, Spiegelonline)
„Daneben gibt es Zeugnisse der Liebe in Zeiten des Kalten Krieges. Udo, ein früher Geliebter von Rosie, die später Heises Mutter werden wird, lebt im Westen und schreibt in den frühen 1950er Jahren kluge, witzige und sehnsüchtige Briefe an die Frau, die ihn über fast ein Jahrzehnt beschäftigen wird und die er nach Kräften dazu bringen will, in den Westen zu kommen. Sie wird nicht kommen. Sie wird den Philosophen Wolfgang Heise heiraten und in einer nahezu hellsichtigen Sicht auf diesen ernsten Wissenschaftler ihre Ehe analysieren, bevor sie überhaupt begonnen hat. Die Briefe Udos von West nach Ost zeigen einen analytisch scharfen Blick auf beide Systeme vor dem Mauerbau. Und sie zeigen auf der anderen Seite eine sehr selbstbewusste und kluge Frau, die sich vorbehält, über ihre politischen Ansichten und ihre Liebe vollkommen unabhängig zu entscheiden. Ein Frauenbild, das man selten mit dieser Zeit in Verbindung bringt.“ (Anette Schuhmann, zeitgeschichte-online.de)
„Am spannendsten sind jedoch die Passagen, die sich mit Wolfgang Heise und seinen Kämpfen gegen die Partei beschäftigen. Als er, der große marxistische Philosoph der DDR, sich 1976 mit Robert Havemann gegen die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns stellte, schäumten die SED-Funktionäre über so viel 'kleinbürgerliche Vorbehalte' und 'intellektualistische Rechthaberei' und nehmen ihm seinen Rektorenposten an der Humboldt Universität. Später diskutiert er in seinem Wohnzimmer mit Heiner Müller die Tragödie des modernen Sozialismus mit einer Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit, die einem den Atem rauben. Die Unterhaltung ist in Heiner Müllers Kapitalismus-Texten 'Für alle reicht es nicht' abgedruckt, Heise hat sie gefilmt. Sein Vater zitiert Brecht: 'Der Geschlagene entrinnt nicht / der Weisheit.'“ (Thekla Dannenberg, perlentaucher.de)