Pointiert und poetisch schreibt der deutschsprachige Autor Deniz Utlu über Migration und Identität. Warum seine türkischen Wurzeln für andere eine größere Rolle spielen als für ihn und wie er selbst seine Identität definiert, erzählt er im Interview.
Herr Utlu, Sie waren im Mai auf einer Lesereise in Peru. Spielte dort Ihre Herkunft eine Rolle?
Das Goethe-Institut hat mich im Rahmen der Europa-Wochen, in denen Migration das Thema war, zu Lesungen nach Lima und Arequipa eingeladen. Vorgestellt wurde ich dort, den Tatsachen entsprechend, als deutschsprachiger Autor. Das Interesse des vornehmlich jungen Publikums war groß. Mich überrascht es immer wieder, wie Literatur Menschen, die aus so verschiedenen Kontexten – und manchmal Zeiten – kommen, verbinden kann.
Definieren Sie sich selbst denn als türkisch oder deutsch?
Die binäre Frage nach nationaler Identität hat mit mir selbst als Person mit Mehrfachzugehörigkeit nichts zu tun. Meiner Ansicht nach beschäftigt diese Frage vor allem die Mehrheitsgesellschaft. Zweifelsohne gibt es aber auch Menschen mit Migrationszuschreibungen, die diese an sie von außen herangetragene Unsicherheit verinnerlicht haben – und ebenfalls zu ihrem großen Thema machen.
… und es gibt die, die sauer werden, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden. Wie reagieren Sie?
Mich ärgert das nicht, ich nehme das vor allem als Hilflosigkeit der Mehrheitsgesellschaft wahr. Es ist ein krampfhafter Versuch, eine Essenz der Identität zu finden. Wenn ich gefragt werde, was ich bin und wie ich mich fühle – also ob türkisch oder deutsch – dann versuche ich, freundlich zu bleiben. Wenn Politiker versuchen, essentialistisch zu definieren, was deutsch ist und was deutsche Kultur ausmacht, dann kippt das Hilflose nicht selten ins Lächerliche – und es wird deutlich, wie unmöglich es ist, Binarität aufrechtzuerhalten.
Stichwort „deutsche Kultur“: Welche Rolle spielte Kultur bei Ihrer Sozialisation und Integration? Immerhin haben Sie als 19-Jähriger in Hannover mit freitext ein Magazin für Kultur und Gesellschaft gegründet und längere Zeit herausgegeben.
An meinem Gymnasium gehörten viele Lehrer der 68er-Generation an – wie auch die Eltern der Schüler. In meinem Jahrgang hatten gerade mal zwei von hundert Schülern – wie ich – einen Türkei-Bezug. Das ist eine ganz andere Situation als heute in Berlin-Kreuzberg und Berlin-Neukölln. An der Schule herrschte eine ganz starke Diskussionskultur, und sie war sehr offen für die Künste. Wir hatten eine Theater-AG, die sehr wichtig für mich war. Zudem hatte ich das Glück, Lehrer zu haben, die mich förderten – das war in der Grundschule und in der Orientierungsstufe anders. Mit einem der Lehrer verbindet mich noch immer eine intensive Freundschaft.
Schon damals sammelten Sie erste Erfahrungen als Autor.
Ja, geschrieben habe ich schon als Kind. Und als ich in der neunten Klasse aus Protest gegen die Schulleitung zwei Artikel in einer Schülerzeitung veröffentlichte, die ich selbst herausgab, machte ich die Erfahrung, dass Schreiben etwas bewirken kann. Ein Text mit dem Titel Was ist links?, vielleicht mein erster Essay, sorgte für große Diskussionen und wurde im Unterricht behandelt. Es gab sogar Veranstaltungen deswegen, weil vor allem Schüler aus den höheren Stufen das Bedürfnis hatten, sich damit auseinanderzusetzen. Mit Reaktionen hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Sie schreiben inzwischen an Ihrem zweiten Roman. Welche Rolle spielt Migration in Ihrem Werk?
Das Migrantische ist der Kontext meines ersten Romans, aber nicht das Thema. Es sollte aber auch nicht jeglicher migrantischer Kontext ignoriert werden, damit andere Facetten des Textes sichtbar werden. Ich glaube nicht, dass Migration heute aus der Gegenwartsliteratur ausgeblendet werden kann – unabhängig davon, welche biografischen Bezüge die Autoren haben. Wir können gar nicht mehr so tun, als gäbe es dieses Phänomen nicht.
Dieses Phänomen spiegelt sich aber nicht in der Präsenz von Literaten und Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund wider. Braucht es vielleicht eine besondere Förderung dieser Gruppen?
Auch für den Kulturbetrieb gilt das, was für alle andere Sektoren – wie Wirtschaft und Politik –gilt: Es muss dafür gesorgt werden, dass Menschen mit Migrationszuschreibungen selbstverständlicher Bestandteil werden. Der Kulturbetrieb sollte es sich leisten und auch dafür sorgen, dass Menschen mit Mehrfachidentitäten in ihrem künstlerischen, literarischen Schaffen ernstgenommen und sie eben nicht auf das Thema Herkunft reduziert werden.