Märchen aus der Gegenwart: E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“


Wo in Dresden stand das Schwarze Tor, hinter dem das hexenhafte Äpfelweib Anselmus verfluchte, weil er ihren Korb mit Ware umgestoßen hatte? Wo ist das „Linkische Bad“ geblieben, in dem der Held so gern sein Doppelbier getrunken hätte – wenn er das Geld nicht dem Äpfelweib als Entschädigung hätte überlassen müssen? Und wo am „schönen Elbstrom“ blühte jener Holunderbaum, aus dem sich die goldgrüne Serpentina mit ihren Schwestern züngelnd und flüsternd schlängelte, sodass Anselmus ihr in ewiger Liebe verfiel?
In seiner Kindheit hätte Ingo Schulze dies allzu gern gewusst. 2006 hat der in Dresden geborene Schriftsteller beschrieben, wie er die Schauplätze des Goldenen Topfes im Stadtraum aufzuspüren suchte. Dabei „stellte sich jedoch heraus, dass sich an den beschriebenen Orten entweder nur noch eine freie Fläche befand oder etwas anderes“, heißt es bei Schulze. „Deshalb versetzte die kindliche Vorstellungskraft die Figuren in ein imaginäres Dresden, an jenen sagenhaften Phantasieort, den es seit dem 13. Februar 1945 nicht mehr gab.“
Das „serapiontische Prinzip“ des Märchens

Dieses auch im Goldnen Topf waltende Prinzip hat Hoffmann in seinen Serapionsbrüdern (1819–1821) klar formuliert: „Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, sodass jeder nachzusteigen vermag.“ Das Fantastische ist der „wunderbare herrlichste Teil“ des Lebens. Bezeichnenderweise nimmt das (gleich wieder ironisierte) Wunderbare des Goldenen Topfes am „Himmelfahrtstage“ um punkt drei Uhr nachmittags seinen Lauf. Der Germanist Richard Benz hat die Erzählung deshalb ein „Wirklichkeitsmärchen“ genannt.
Zwei Seiten der Medaille

Strukturierend wirken aber auch die Mächte und Kräfte, die wechselseitig an Anselmus zerren – und die doch immer nur zwei doppelgängerhafte Seiten einer Medaille sind: Auf der einen Seite steht der Konrektor Paulmann mit seiner 16-jährigen Tochter Veronika, die sich durch eine Heirat mit Anselmus schon als zukünftige Frau Hofrat sieht. Auf der anderen Seite steht der Geheime Archivarius Lindhorst mit Serpentina und seinen beiden anderen Schlangentöchtern: ein wegen seiner Verbindung mit der grünen Schlange aus Atlantis verbannter Salamander, den nur die Verheiratung seiner Kinder erlösen kann.
Goldener Goldtopf und dampfende Schüssel
Letztlich wirkt im Goldenen Topf also der in jeglicher Hinsicht ambivalente Konflikt zwischen borniertem Philister- und riskantem Künstlertum, zwischen brüchiger Vernunft und wahnhaftem Rausch, zwischen finanzieller Absicherung und dichterischer Freiheit: ein Konflikt, den der ausgebildete Jurist Hoffmann in seiner Doppelexistenz als preußischer Beamter und Schriftsteller aus eigener Erfahrung kannte.Dementsprechend ambivalent versieht Hoffmann das Happy End seines Märchens mit den ironisierten Zügen des klassischen Bildungsromans: Während sich Veronika „bei der dampfenden Suppenschüssel“ mit einem schon fertigen Hofrat verlobt, heiratet der Student Anselmus seine Serpentina und erhält den titelgebenden Topf (der einer ursprünglichen Idee Hoffmanns zufolge ein juwelenbesetzter Nachttopf sein sollte) als Mitgift.
Ein Dresdner in Atlantis
Der Goldene Topf ist somit kein „naives“ Volksmärchen wie aus den Sammlungen der Gebrüder Grimm. Er ist, wie im Untertitel angekündigt, ein „Märchen aus der neuen Zeit“: ein durchkomponiertes und poetisierendes, vom Erzähler angeblich in „Vigilien“ („Nachtwachen“) verfasstes Kunstmärchen der Romantik, dessen Form auch Autoren wie Ludwig Tieck, Wilhelm Hauff, Novalis, Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte Fouqué oder Clemens von Brentano zur Darstellung des Dunklen, Verborgenen, Wahn- und Rätselhaften des Lebens und des menschlichen Innern zu bedienen wussten.27. Februar 2010 im Schauspielhaus
Anders als viele dieser Zeitgenossen aber nutzt Hoffmann die romantische Ironie, um die Ernsthaftigkeit märchenhafter Utopien selbst wieder in Frage zu stellen. Während sein Schwiegersohn Anselmus auf einem Rittergut in Atlantis Karriere als Dichter macht, ist der zum Beamtendasein verdammte Salamander Lindhorst weiterhin gezwungen, „seine beiden noch übrigen Töchter an den Mann zu bringen.“ Selbst im Märchenreich sind die bürgerlichen Werte nicht außer Kraft gesetzt, der profane Alltag rankt sich über die gesamte Himmlesleiter bis hinauf ins „geheimnisvolle wunderbare Reich“ des Mythos. Die frühromantische Rückkehr zum Ursprung ist den Helden unmöglich geworden. Den „heiligen Einklang aller Wesen” bietet nur mehr – in einem hübsch ironischen Doppelsinn – „das Leben in der Poesie.“
Für Ingo Schulze hat Anselmus sein Dresden ohnehin mit nach Atlantis genommen: „An seinem Sächsisch wird man ihn dort vielleicht erkennen.“ E.T.A. Hoffmann hätte dieser Einfall sicher gefallen.
ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er arbeitet als Literaturkritiker, Kultur- und Wissenschaftsjournalist (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, NZZ am Sonntag, Westdeutscher Rundfunk) in Köln.
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März 2012
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