Moderne Märchen

Frankfurter Geschichten

Ihr Lebensmotto hat Angelika Steiger in ihrem Literatursalon an die Wand gehängt. Foto: Sebastian WenzelAngelika Steiger erzählt gerne Märchen. Damit verdient die Frankfurterin ihr Geld. Wir haben sie in ihrem Literatursalon besucht und zugehört.

Angelika Steigers Kunden starren auf ihre Lippen. Sie lauschen der Frankfurterin begeistert. Steiger flüstert über Drachen, erzählt von Wasserhexen und reimt über Prinzen. Dabei rollt sie das R und betont das K. Mal hallen ihre Worte durch den Raum, mal wispert sie. Mal zieht sie ihre Mundwinkel nach oben, mal eine Schnute. Steiger erweckt mit ihrer Stimme Märchen zum Leben. Ihre kleinen Zuhörer sind fasziniert von den großen Geschichten. Die professionelle Erzählerin hat heute Besuch von einer Gruppe des Kinderzentrums Weinstraße.

Mit ihrer Stimme erweckt Angelika Steiger Märchen zum Leben. Foto: Sebastian WenzelIn Steigers Literatursalon Café Chocolat fleezen sich acht Kinder auf einer roten Matratze. Einige liegen auf dem Bauch und strecken die Beine in die Luft. Andere bevorzugen den Schneidersitz. Steiger thront vor ihnen auf einem Holzstuhl. Die 57-Jährige redet über den König Hupf, der zum Einschlafen immer auf seinem Bett herumspringt. Während Steiger murmelt, blickt sie den Kindern in die Augen, runzelt die Stirn und bewegt ihre Hände. „Wenn ich Märchen vorlesen würde, müsste ich dauernd ins Buch schauen. Durch das freie Erzählen stehe ich in einem viel intensiveren und direkten Kontakt mit den Zuhörern.“

Erst Krankenschwester, dann Erzählerin

Gespannt lauschen die kleinen Gäste im Literatursalon den großen Geschichten von Angelika Steiger. Foto: Sebastian WenzelSteiger mag die Nähe zu Menschen – schon immer. Früher arbeitete sie als Krankenschwester. Sie pflegte Senioren, sortierte Tabletten, wusch Körper und beantwortete die Fragen von Praktikanten sowie Auszubildenden. Irgendwann in den 1980er-Jahren besuchte sie in ihrer Freizeit eine Theatervorstellung. Die Bühnenkünstler zeigten Nathan der Weise und der Schauspieler Will Quadflieg begann mit der Ringparabel, einer Geschichte über das Verhältnis von Christen, Juden und Muslimen. „Ich sehe mich heute noch, wie ich Zeit und Raum vergaß, mich vorbeugte und nur dieser Sprache und dem Ausdruck lauschte“, erinnert sich Steiger. Ihre Leidenschaft für erzählte Literatur war geweckt. Aber erst 2004 entdeckte sie bei einem Spaziergang einen Zettel des Märchenforums Frankfurt. „Ehrenamtliche Helfer gesucht“, stand darauf. „Irgendeine Seite in meiner Seele fing ganz doll an zu klingen“, sagt Steiger. Sie meldete sich. Schon bald übernahm sie eigenverantwortlich mehrere Gruppen in Kindertagesstätten und erzählte dort ihre Geschichten. Sie bildete sich weiter, trainierte ihre Stimme und besuchte Märchenseminare. 2007 machte Steiger sich selbständig und eröffnete ihren Literatursalon, in dem auch andere Künstler auftreten.

Auch im Bücherregal von Angelika Steiger dreht sich alles um Märchen. Foto: Sebastian WenzelFür die Kinder, die sie heute besuchen, hat Steiger neben der Geschichte vom König Hupf eine Geschichte aus der Türkei ausgesucht. Sie heißt Das Töpfchen und geht so: Ein armes Mädchen kauft einen Zauberkessel, den sie auf die Straße wirft. Aber der Topf wandert immer wieder zurück zu ihrem Haus und bringt erst Weinblattrouladen, dann Schmuck und schließlich einen Bräutigam. Das Märchen entdeckte Steiger in ihrem Arbeitszimmer. Hier stapeln sich auf sechs Metern Fachbücher: zum Beispiel die Enzyklopädie der Märchen, Sandmännchens Reise durchs Märchenland oder das Große Buch der deutschen Volkslieder. Wenn Steiger einen interessanten Text gefunden hat, beginnt die Arbeit. Sie fügt Dialoge hinzu, kürzt Sätze und ergänzt Wörter. Bei einigen Werken dauert das Jahre. „Ein gutes Märchen ist eine kleine Geschichte, in der etwas Wunderbares geschieht. Es berührt die Zuhörer und entführt sie in eine Traumwelt“, sagt die Frankfurterin. Das funktioniert nur mit einer lebendigen Sprache. Das Töpfchen steht also nicht einfach plötzlich vor der Tür, sondern es wandert „holterdiepolter huckediezuck“ zur Tür hinaus, die Straße hoch bis vor das Haus des Mädchens. Es klopft an die Tür, spricht und glänzt – mindestens genauso wie die Augen der kleinen oder großen Zuhörer.

Märchen für Groß und Klein

Gespannt lauschen die kleinen Gäste im Literatursalon den großen Geschichten von Angelika Steiger. Foto: Sebastian WenzelSteiger erzählt ihre Geschichten nicht nur Kindern. Zusammen mit ihr reisen auch Jugendliche und Erwachsene in das Märchenland. Sie ist unterwegs im ganzen Rhein-Main-Gebiet. Von Frankfurt nach Wiesbaden, von Mainz nach Darmstadt. Hier spricht sie in Schulen und Kindergärten, da in Hotels und Restaurants, dort auf privaten Geburtstagen oder Hochzeiten. Mal packt sie unterhaltsame Märchen in ihren Koffer, mal stopft sie nachdenkliche Geschichten hinein. „Märchen sind das Fernsehprogramm der Vergangenheit. Es gab schlüpfrige und deftige Geschichten, die kein Kind hören sollte. Andere Märchen vermitteln moralische Werte. Aber schon der Märchenerzähler Rudolf Geiger wusste: Märchen haben das Vorrecht, vom Ernst des Lebens auf heitere Weise zu erzählen“, sagt Steiger. Heiter? Ist es nicht brutal, wenn der Prinz einen Drachen dahinmetzelt? Ist es nicht herzlos, wenn die Eltern Hänsel und Gretel im Wald aussetzen? Ist es nicht grausam, wenn die Hexe im Ofen verbrennt?

„Nein“, sagt Steiger. „Das tägliche Leben ist grausamer und viele Fernsehsendungen erst recht.“ Verbrennt in ihrer Geschichte eine Hexe, erzählt sie das in einem Satz. Auf Details verzichtet sie. Aber an dem Sachverhalt selbst führen keine Worte vorbei. Schließlich muss in Kindermärchen das Gute siegen – und deshalb enden so viele Geschichten mit dem Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Sebastian Wenzel
ist freier Journalist und lebt in Wiesbaden.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
März 2012

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