35 Jahre Mauerfall   Heidis Traum

1989 Heidi und Doris in Budapest
1989 Heidi und Doris in Budapest. © Heidi Krebs Baier

Im Ost-Berlin Ende der achtziger Jahre herrschte Aufbruchstimmung. Als sich die Grenze zu West-Berlin dann in der Nacht vom 9. auf den 10. November öffnete, kam jedoch für viele dennoch überraschend. Heidi, eine waschechte Berlinerin, die im Ostteil der Stadt aufgewachsen ist, erzählt wie sie die Nacht des Mauerfalls erlebte.

Ein Zirkusartist öffnete mir das Tor zur Welt im Ost-Berlin der 80er Jahre. Im Alter von etwa zehn Jahren las ich die Erzählung Der große Blondin über den französischen Akrobaten Charles Blondin, der die Niagarafälle auf einem Seil überquert hatte. Dieser Seiltänzer schaffte es sogar in meine Träume. Was mich so süchtig nach dieser Geschichte machte, war –neben dem Nervenkitzel des Seilgehens – die beschriebene Schönheit der Natur, die diese riesigen Wasserfälle umgibt. Ich träumte ich davon, eines Tages selbst dorthin zu reisen.

Aber auf einen Trip zu den Niagarafällen würde ich, ein kleines Mädchen aus Ost-Berlin Anfang der 80er Jahre, wahrscheinlich bis zum Rentenalter warten müssen. Ich war eine leidenschaftliche und talentierte Turnerin, durfte aber nur an Wettkämpfen im so genannten nicht-westlichen Ausland teilnehmen. Ich konnte es nicht begreifen, dass mir die DDR-Regierung verwehrte, die ganze Welt zu bereisen.

Man konnte spüren, dass Veränderungen in der Luft lagen

1989 dann, als sich das politische Klima zu verändern begann, war ich im richtigen Alter und zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Menschen kamen in den Kirchen zusammen und diskutierten über Veränderungen in der Politik. Diese Gruppen fanden schnell Zuspruch, so dass bald in den Kirchen alle Plätze besetzt waren und die Leute in den Gängen standen, um zuzuhören. Im Sommer 1989 überquerten immer mehr Menschen die nicht ganz so streng bewachte Grenze zu Westdeutschland über Ungarn. Andere sprangen über den Zaun der westdeutschen Botschaft in Prag, um von da aus nach Westdeutschland auszureisen. Man konnte spüren, dass Veränderungen in der Luft lagen. In der DDR war es nun möglich, einen Reisepass beantragen. Auch wenn dieser wegen der strengen Reisebeschränkungen scheinbar nur ein Papier war, füllten viele meiner Bekannten einen Antrag aus. Ich ebenso. Zu diesem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt.

Dann kam der 9. November 1989 - und plötzlich begann mein Traum wahr zu werden! An diesem Tag kam ich am Abend vom Turntraining mit meiner Mutter, die auch meine Trainerin war, nach Hause. Im Fernsehen sahen wir die Nachrichten und wunderten uns: Eine Pressekonferenz wurde live übertragen, in der es hieß, dass jeder mit einem Ausweis die Grenze nach Westdeutschland/Westberlin passieren könne. Ab wann das gelte? Ab sofort!

Wir konnten es nicht glauben, aber gegen 23 Uhr beschlossen wir, es einfach zu versuchen. Mein Bruder glaubte uns nicht und schlief weiter. Wir machten uns direkt auf den Weg zum Grenzübergang Friedrichstraße, auch „Tränenpalast“ genannt, weil man sich hier von Verwandten oder Freunden verabschiedete, die Ost-Berlin/Ostdeutschland verließen – für einen Besuch oder für immer. Die Stimmung im Zug zur Friedrichstraße kann man nicht mit Worten beschreiben. Ich schaute in all die Gesichter voller Aufregung und fragte mich gleichzeitig, ob unser Traum von Reisefreiheit wirklich wahr werden würde. Noch konnten wir dem Glücksgefühl nicht trauen.

Nachdem wir mindestens eine Stunde in der Schlange gestanden hatten, bekamen wir einen Stempel in unsere Ausweise und passierten tatsächlich die Grenze. Es war bereits nach Mitternacht. Am 10. November 1989 stand ich in West-Berlin.

Zuerst sah ich das blaue Licht der U-Bahn-Station und die Lichter der großen Kirche in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten. Meine Vorstellung vom Westen war funkelnder und glamouröser gewesen. Nichtsdestotrotz war ich beeindruckt von all den verschiedenen Autos. In dieser Nacht mischten sich die Westmodelle schon mit ostdeutschen Trabis, Wartburgs, Skodas und Moskvichs. Überall wurde Freibier angeboten und Leute, die sich nicht kannten, umarmten sich und feierten -– es war ein einziges, unglaubliches „Wow“. Was für eine Nacht. 

Wir müssen jetzt gehen

Wir reisten gegen 4 Uhr morgens zurück nach Hause und weckten meinen Bruder, der nicht glauben wollte, was wir ihm über unsere letzten Stunden in West-Berlin erzählten, bis wir ihm die Stempel in unseren Pässen zeigten. Er brauchte weniger als 5 Minuten, um sich selbst auf den Weg zu machen.

An diesem Tag hatten wir in der Schule am Morgen Russisch-Unterricht. Alle hatten es eilig und flüsterten in den Klassenzimmern: „Wir müssen jetzt gehen. Sie schließen die Grenze um 8 Uhr wieder.“ Müde wie ich war, antwortete ich, dass ich bereits meinen ersten Ausflug nach West-Berlin gemacht hatte. In unserem Klassenbuch stand an diesem Tag der Vermerk: „Nur drei Personen anwesend wegen Grenzöffnung“.

Die meisten Menschen gingen am Tag nach dieser Pressekonferenz nicht zur Schule oder zur Arbeit - ein besonderer Tag nach einer ganz besonderen Nacht, der das Leben so vieler veränderte, auch meines. Statt wie geplant Sportwissenschaften an der Universität Leipzig zu studieren, machte ich eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin und verdiente genug Geld, um ein Jahr als Au-pair in den USA zu verbringen und später auf Weltreise zu gehen. Und ja, ich bin zu den Niagarafällen gereist – eine weitere sehr schöne und intensive Erfahrung. Ich bin so froh, dass ich diese Reise vor meinem Rentenalter erleben durfte. Mit meiner Gymnastikgruppe nahmen wir nun an vielen Wettkämpfen in verschiedenen Ländern teil – und organisieren noch heute Treffen, bei denen wir in Erinnerungen an diese fantastischen Zeiten schwelgen.

Der 9. November ist für mich auch aus anderen Gründen ein ganz besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem ich einige Jahre später meinen Mann Sebastian kennen gelernt habe, der sich ebenfalls für Sport und Reisen begeistert. Wir haben einen Sohn, Max, und lebten einige Jahre in Phoenix, Arizona und New York City, nachdem wir an der Green Card Lotterie teilgenommen und gewonnen hatten.

Während unserer Reisen lernten wir interessante Menschen kennen – schlossen Freundschaften, über Grenzen und Ozeane hinweg, die wirklich ein Leben lang zu halten scheinen.

Ich bin sehr dankbar für die historische Wende im Jahr 1989. Viele Träume sind für mich in Erfüllung gegangen und ich freue mich darauf, noch mehr zu entdecken, zu lernen und ein Leben ohne die Grenze, die Deutschland in zwei Teile trennte, zu genießen.
 
Goethe-Institut & Heidi Krebs Baier