Die kollektive Arbeit, die in Mexiko bei einigen indigenen Völkern alltäglich ist, kann als wertvoller Anstoß für die Konstruktion einer funktionierenden Gemeinschaft betrachtet werden. Auf der einen Seite wird das Gemeinwohl gestärkt, auf der anderen ein aktiver Widerstand gegen ein kapitalistisches System geleistet, dessen Diskurse zu Solidarität und Gemeinschaft stets von individuellen Interessen unterlaufen werden. Der Einblick in andere, jahrhundertealte Formen der Solidarität führt zu der Erkenntnis, dass jene neue Welt, die wir uns so sehnlichst wünschen, tatsächlich möglich ist.
Mexiko gehört zu den fünf Ländern mit der größten Biodiversität und verfügt mit seinen 68 Sprachen auch über eine enorme kulturelle Vielfalt. Der Bundesstaat Oaxaca verfügt seinerseits über die größte Biodiversität und Sprachenvielfalt innerhalb von Mexiko. Dass in Oaxaca die meisten ethnischen Gruppen leben, ist vermutlich kein Zufall. Es wird angenommen, dass die biologische einen direkten Einfluss auf die kulturelle Vielfalt hat.Ein Ausdruck der Letzteren ist eine besondere soziale Praktik, deren Wurzeln bis in die prähispanischen Kulturen Mesoamerikas zurückreichen. Ihr Ursprung, ihre Eigenschaften und einige Beispiele derselben sollen im Folgenden erläutert werden. Besagte Tradition hat den Zusammenhalt innerhalb der indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos gestärkt und ihren sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt gefördert: der Tequio.
Die Besonderheit dieser Praktik kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der Tequio ist die Praxis der kollektiven Verrichtung von Tätigkeiten und der unbezahlten Zusammenarbeit von Mitgliedern einer indigenen Gemeinschaft, die dem Gemeinwohl dient.“ Der Begriff „Tequio“ wird aus dem Nahuatl abgeleitet. Der Wortstamm „tequitl“ bedeutet „Arbeit“ oder „Tribut“.
Der Tequio existierte bereits vor der Ankunft der Spanier, die diese Form des gemeinschaftlichen Zusammenhalts für ihre Kolonialvorhaben ausnutzten, denn für die Urbanisierung von Flächen und die Förderung ihrer wirtschaftlichen Interessen wurde viel Arbeitskraft benötigt. Daher baten sie die Tlatoanis um Hilfe, die als Herrscher über ihr Volk bestimmen konnten. Später missbrauchten die Spanier den Tequio, der wie oben erwähnt als kollektive Arbeit für das Gemeinwohl definiert wird, zusätzlich für private Zwecke, was zu Ausbeutung und Beschwerden der Indios führte, wie die Menschen von den Kolonialisierenden genannt wurden. Daraufhin gingen die Spanier dazu über, die anfallenden Arbeiten zu bezahlen, wobei der Lohnausgleich allerdings dürftig ausfiel. Die besten Beispiele dieser Ausbeutung waren die encomiendas, also Leistungen, die die indigene Bevölkerung angeblich der spanischen Krone schuldeten, el peonaje und el obraje.
Die Encomienda stellt die erste Form der kolonialen Ausbeutung dar. Eine Gruppe von Personen leistete unbezahlte Arbeit für einen spanischen Encomendero (Kolonisator), der ihnen im Gegenzug die katholische Lehre näherbrachte und als ihr „Herr“ für ihren Schutz sorgte. Peonaje nannte man die schlecht bezahlte Arbeit in den Bergwerken, die Arbeiter selbst bezeichnete man als peones. Obraje war der Überbegriff für die ebenfalls miserabel entlohnte Arbeit von indigenen Menschen in kleinen Textilfabriken, meist unter unmenschlichen Bedingungen. Es überrascht daher wenig, dass das Wörterbuch der Real Academia Española den Tequio als eine Leistung definiert, deren Erbringung den Indios als Tribut aufgezwungen wurde. Durch den entstandenen Missbrauch veränderten die Spanier eine soziale Praktik, die nun nicht mehr als eine prähispanische Methode zur unentgeltlichen, aber freudenreichen gemeinschaftlichen Arbeit wahrgenommen wurde, sondern als eine Ausbeutung von Arbeitskraft und Wirtschaftsleistung.
Die großartigen vorspanischen Städte, ihre Agrarsysteme und die bewundernswerten Be- und Entwässerungsanlagen auf der Hochebene im Zentrum Mexikos sind ohne den Zusammenhalt und die gemeinschaftliche Arbeit unserer Vorfahren kaum zu erklären. Ungeachtet des Einbruchs ausbeuterischer Systeme wie dem Kolonialismus oder Kapitalismus überlebt der Tequio bis heute und bleibt eine Möglichkeit des Widerstands sowie ein handfester Beweis für die Geschlossenheit unserer indigenen Völker.
Unter all den sozialen Praktiken der indigenen Völker nimmt der Tequio vermutlich die wichtigste Stellung ein. Er bestimmt das öffentliche Leben und ist landesweit verbreitet. Allerdings handelt es sich nicht um die einzige Praxis dieser Art, denn es gibt andere, weniger bekannte und auch gewisse private Praktiken, die ähnliche Merkmale aufweisen und sich in erster Linie auf die Solidarität berufen.
Dabei ist unter anderem die Guelaguetza zu nennen, eine Tradition der zapotekischen Bevölkerung in Oaxaca, bei der die Nachbarn ihre Hilfe anbieten, sobald ein Fest oder eine Familienfeier ansteht. Die Unterstützung beruht auf Gegenseitigkeit und erfolgt verhältnismäßig, denn irgendwann hat jeder eine familiäre Verpflichtung (sei es eine Hochzeit, eine Feier zum 15. Geburtstag der Tochter, eine Taufe, eine Beerdigung, o.ä.).
Auch die Gozona ist eine Tradition der zapotekischen Bevölkerung in der Sierra Norte in Oaxaca. In diesem Fall handelt es sich um eine gegenseitige Unterstützung in Naturalien, die auf Hochzeiten beschränkt ist.
Die Córima oder Kórima ist ein faszinierender Brauch der ethnischen Gruppe der Rarámuri (auch: Tarahumara) im Bundesstaat Chihuahua, der im Wesentlichen darin besteht, grundsätzlich alles zu teilen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Eine beneidenswerte Lebensauffassung dieser ethnischen Gruppe, die Freude und Trauer, aber auch Armut und Reichtum miteinander teilt. Das ist ihre Grundregel fürs Überleben.
TEQUIO IN SAN MATEO RíO HONDO
Im Folgenden werde ich auf die Praxis des Tequio in San Mateo Rio Hondo eingehen, einer Gemeinde in der Sierra Sur in Oaxaca. Ich selbst bin in diesem Dorf aufgewachsen und kann daher aus erster Hand berichten.San Mateo Río Hondo ist eines der zwei oder drei Dörfer im Bundesstaat Oaxaca, in denen es ausschließlich privaten Landbesitz gibt. Dadurch ergeben sich spezielle Voraussetzungen für die Ausübung des Tequio. Es gibt zwar eine kommunale Behörde, die die Dorfbevölkerung dazu aufruft, aber die Durchführung erfolgt stets spontan und aus freiem Willen. Wer dem Aufruf nicht folgt, dem drohen keine Sanktionen, und da keine offiziellen Abkommen oder Gesetze zur Regelung der Teilnahme vorliegen, wird auch nicht kontrolliert, wer sich beteiligt und wer nicht. Das verleiht dem Ganzen mehr Authentizität, hat aber gleichzeitig den Nachteil, dass es mangels strikter Organisation jederzeit verschwinden könnte.
In unserer Gemeinde wird der Tequio als ein uraltes, atavistisches Verhalten wahrgenommen. Er wird aus moralischer Überzeugung praktiziert, aus dem Wunsch heraus, Traditionen zu bewahren und aus dem einleuchtenden Grund, dass der Tequio auch eine Form des kollektiven Zusammenlebens darstellt.
Von religiösen Feiertagen einmal abgesehen, bietet die Teilnahme an einer kollektiven Aktivität Anlass zu einem der seltenen Festtage des Dorfes und ist dazu eine gute Gelegenheit zum großzügigen Teilen.
Es ist ein wohltuender und rührender Anblick, wenn meine Landsleute dem Aufruf aus eigenem Antrieb heraus folgen, ganz ohne Gesetz, ohne Zwang, ohne Aussicht auf Strafe, allein aus Solidarität, um dem Beispiel und dem Erbe ihrer Vorfahren gerecht zu werden (jener Männer, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts unter widrigsten Bedingungen, mit Hacke und Schaufel, mit Schwielen und Blasen an den Händen, große Werke vollbrachten, unter anderem die Straße, die noch heute die Hauptstadt des Staates mit der Pazifikküste verbindet).
Darüber hinaus bin ich mir sicher, dass die Menschen auch deshalb mitmachen, weil sie in dem Tequio eine Möglichkeit sehen, Spaß zu haben und soziale Kontakte zu pflegen, während sie einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Unser Tequio ist nicht nur Arbeit, sondern auch ein Fest. Geteilt werden Mühen, Stunden, Gespräche, Gelächter sowie jede Menge Essen und Trinken. Der Tequio ist eine außergewöhnliche Tätigkeit, bei der die Mitwirkung aller erforderlich ist. Sie umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten, die unterschiedliche Kompetenzen voraussetzen: Fleiß, Kraft, Geschicklichkeit, Talent, Kreativität, Einfühlungsvermögen, Tapferkeit und manchmal sogar ein bisschen Heldenmut.
Zu den Aktivitäten, die durch Tequio bewältigt werden, gehören: Der Bau von Schulen oder öffentlichen Gebäuden, die Bereitstellung öffentlicher Leistungen wie Trinkwasser oder Elektrizität, der Ausbau und die Sanierung oder Reinigung von Straßen, die Instandsetzung oder Verschönerung von öffentlichen Gebäuden, Straßen und Plätzen sowie Kirchen oder Friedhöfen.
Der Tequio bedeutet also, dass die Bevölkerung ihren Beitrag zu schweren Arbeiten leistet, etwa öffentlichen Baumaßnahmen, die in der Regel von Männern verrichtet werden. In anderen Fällen finden die Arbeiten im Vorfeld von staatlichen oder religiösen Feiertagen statt. Jeder bringt sich ein, wie er kann, beispielsweise durch Kreativität und Einfallsreichtum bei der Herstellung von hübschen Dekorationen aus Pflanzen, Blättern, Sträuchern, Moos, Maisblättern, Papier oder Blumen. Andere übernehmen Reinigungsarbeiten, den Transport, das Heranschaffen von Material oder das Aufstellen der Bühne. Wieder andere, die nicht persönlich mitwirken können, helfen mit großzügigen oder bescheidenen Geldbeträgen oder Sachleistungen, um den Bedarf an materiellen Gütern zu decken (für Dekoration, Musik, Feuerwerk, Essen, Getränke, Auszeichnungen, Tänze und Darbietungen). Einige wirken bei der Vorbereitung und Ausrichtung der Festessen mit, betätigen sich als Köchinnen und Köche oder als Bedienung, andere sind für den Transport und den Einkauf von Waren zuständig.
Manch einer trägt jedoch auf ganz andere Weise zum Gelingen der Feierlichkeiten bei. Mit Begeisterung ziehen diese Personen Kostüme oder traditionelle Tracht an und tanzen, einen langen Stock mit einer riesigen Kugel namens marmota in der Hand oder einen Korb mit Blumen auf dem Kopf. Die Mutigsten tragen einen Pappmaché-Stier mit Feuerwerkskörpern oder zünden die Raketen, die für Umzüge und Feiern (Comparsas, Calendas und Fiestas) unerlässlich sind. Diese Arbeit übernimmt nicht jeder. Mit dieser ganz speziellen Form des Tequios leisten auch sie ihren Beitrag zu den kollektiven Aktivitäten.
In San Mateo Río Hondo existieren aber auch andere Formen der gemeinschaftlichen Arbeit. Bei einem großen familiären Ereignis wie einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Totenwache kommen die Dorfbewohner den Angehörigen zu Hilfe und unterstützen sie mit Geld oder Sachleistungen, um sie auf diese Weise zu entlasten. Eine solche Geste erfordert keine Gegenleistung wie bei der Guelaguetza, da sie spontan und freiwillig erfolgt.
Bei Notfällen (wie den in dieser Region häufig vorkommenden Waldbränden) eilen die Bewohner meines Dorfes ihren Mitbürgern zu Hilfe. Ausgerüstet mit einfachen, aber wirksamen Geräten (wie Schaufeln, Macheten, Spitzhacken, Äxten und Wasserbehältern) packen sie in lobenswerter Weise mit an, und das, obwohl ihre Hilfe in diesem Fall nicht dem Gemeinwohl dient, sondern allein dem Schutz und der Unterstützung jener, die direkt vom Feuer betroffen sind. Womöglich motiviert sie der Gedanke, dass auch sie irgendwann die Hilfe der anderen benötigen könnten.
Nur wer eine solche Katastrophe durchlebt hat, weiß, dass es Mut, Geschicklichkeit, Ausdauer, Erfahrung und ein gewisses Maß an Heldentum erfordert, um sich an den Löscharbeiten zu beteiligen. Nur wer dabei war, versteht, wie mühsam es ist, Berge zu erklimmen, die teuflische Hitze der Flammen zu ertragen, dazu die Beklemmung inmitten der Rauchschwaden, die einem das Atmen erschweren, und die Vorstellung, dass man von einem Augenblick auf den anderen vom Feuer eingeschlossen sein könnte. Es ist daher umso eindrucksvoller, wie sehr diese Männer sich aufopfern, um ihren Mitmenschen in Not zu helfen und ihre Wälder zu schützen. Ihr einziger Lohn ist dabei die eigene Zufriedenheit nach getaner Pflicht, die Dankbarkeit der Betroffenen und ‒ zuweilen ‒ die stille Bewunderung von Frauen und Kindern.
Darüber hinaus bestehen noch weitere Formen der kollektiven Solidarität, etwa bei der Ernte von Mais, Bohnen und vormals auch Weizen. Auf Wunsch des jeweiligen Landwirts oder aus eigenem Entschluss heraus helfen Nachbarn und Freunde bei der Ernte oder Aufteilung des Landes, falls die Parzelle halbiert oder geteilt wird. Dabei werden sie allein durch eine anschließende Feier entlohnt. Um die geernteten Maikolben und befüllten Körbe herum wird ein Festessen improvisiert. Gereicht werden Mole und eine Rindfleischbrühe oder in einer Grube gegartes Fleisch mit Tortillas, dazu Bier, Mezcal und Tepache, ein süßes Getränk aus gegärter Ananas. Verschwitzt und zufrieden teilen die Erntehelfer ihre Speisen und danken den Göttern für die gute Ernte.
Der Tequio und all die anderen Formen der kollektiven Solidarität, die von den verschiedenen mexikanischen Volksgruppen praktiziert werden, wecken Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. Womöglich gibt es ein Gegenmittel für unsere zunehmend entmenschlichte und rücksichtslose Welt. Diese simple Philosophie und ihre grundlegenden Werten können uns eine Menge lehren. Fragt man einmal ganz unbedarft nach, was der Grund für dieses Bewusstsein der Kollektivität ist, so zeigt sich, dass die Gemeinschaftspraxis und die jahrtausendealte Ethik unserer Völker auf einem Grundsatz beruht: Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude.