Ladenkirchen  Gottesdienste zwischen Donut-Shops und Waschsalons

Titelbild Gegenüber Artikel Doppelbelichtung zeigt eine Illustration mit einer Ladenkirche © Ricardo Roa

Angezogen von günstigen Immobilienpreisen sind sie in belebten Eckpassagen eingekeilt oder zwischen leerstehenden Ladenlokalen verborgen: Ladenkirchen. Eine pragmatische Ehe zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Aber sie sind weit mehr als schmucklose Andachtsstätten, wie unsere Autorin erkennen musste.

Ich bemerkte sie zum ersten Mal einige Monate nach meinem Umzug von Deutschland nach Los Angeles. Unter all den neuen Eindrücken stach mir dieses Element der urbanen Landschaft besonders ins Auge. Überall in der Stadt verstreut finden sich diese Gotteshäuser, oft mit handgemalten Schildern, bedeutungsvollen Namen in verschiedensten Sprachen und bescheidener Einrichtung. Häufig teilen sie sich heruntergekommene Mini-Mall-Immobilien mit Tante-Emma-Läden, Waschsalons, kleinen Restaurants und Ähnlichem.

Für mich standen sie im starken Kontrast zu den prunkvolleren Kirchenbauten, die ich aus meiner Kindheit gewohnt war – vor allem jene, die als kunsthistorisch bedeutsam gelten, mit jahrhundertelanger Geschichte und renommierten Architekten und Künstlern verbunden sind. Diese schlichten Einkaufszeilen-Zufluchtsorte faszinierten mich – sie waren zugleich interessant und amüsant und, um ehrlich zu sein, nahm ich sie nie richtig ernst.

Obwohl sie in Los Angeles besonders auffällig sind, gibt es Ladenkirchen im ganzen Land. Sie verbreiteten sich im Norden und Westen, als während der sogenannten “Great Migration” im frühen 20. Jahrhundert bis zu sechs Millionen Nachkommen versklavter Menschen den Süden verließen und sich eine neue Heimat aus dem Nichts aufbauten. Nichtsdestotrotz haben storefront Kirchen besonders tiefe Wurzeln in Los Angeles, da die meisten auf das pentekostalische Christentum, das auch Pfingstbewegung genannt wird, zurückgehen. Diese spezifische religiöse Spielart ist ganz eng mit Downtown Los Angeles verbunden, genauer gesagt mit dem “Azusa Street Revival” aus dem Jahre 1906. Diese mehrjährige religiöse Initiative wurde von einem Prediger namens William J. Seymore geleitet und wird weithin als ein wichtiger Ausgangspunkt des modernen Pentekostalismus gesehen. Sie stieß eine christliche Bewegung an, die weiterhin exponentiell wächst, auch weltweit. In Lateinamerika konkurriert sie mit der katholischen Kirche und hat auch in Afrika schon Fuß gefasst.

Pentekostalismus ist eine ekstatische Form des Christentums, die dezentralisiert organisiert ist und häufig von charismatischen Predigern angeführt wird. Im Gegensatz zu manch alteingesessener hierarchischen und institutionellen Religiosität, können Anhänger hier eine Art von Freiheit und von radikalem Potential erleben. Zu dem von Seymour geleiteten “revival” gehörten Gottesdienste, in denen weisse und schwarze Gläubige – während der Hochkonjunktur offizieller Rassentrennung – gemeinsam beteten: Ein gutes Beispiel dafür, das Kirchen innerhalb von unterdrückerischen Gesellschaften als Orte bedingter Freiheit agieren können. So war es auch während der Zeit, in der versklavte Menschen sich nicht in Gruppen zusammenfinden durften und die einzige Ausnahme hierbei oft der Gottesdienst war. Oder, als Jahrhunderte später, evangelische Kirchen als Zufluchtsräume in der DDR dazu beitrugen, eine friedliche Revolution anzuregen, die schlussendlich zum Fall der Mauer führte. In den 1940er-Jahren brachte die zweite Great Migration schwarze Südstaatler nach Los Angeles, und in den darauffolgenden Jahrzehnten war die Stadt ein Tor für Millionen neuer Einwanderer. Die Einwanderungsreform von 1965 erlaubte Zuzug aus Asien und Lateinamerika, während brutale Kriege in Zentralamerika Tausende Flüchtlinge in den Norden trieben. In diesen vielfältigen neugebildeten Gemeinschaften entstanden neue storefront churches. Als materielle und spirituelle Zufluchtsorte halfen sie Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten, beim prekären Überleben in einer neuen Welt. Diese Kirchen, einzigartig an ihre Kontexte angepasst, befriedigen die Bedürfnisse ihrer migrantischen oder auf andere Weise transitorischen Gemeinden. Sie verbinden marginalisierte Menschen, die widrigen Umständen trotzen, miteinander und stellen ihnen benötigte Ressourcen zur Verfügung. Indem diese Form der Religionsausübung flexibel ist, vergrößert und verkleinert sie sich entsprechend der Wanderungsbewegungen ihrer Anhänger durch Amerika oder die ganze Welt. Und ihre Andachtsstätten, die storefront churches, können immer und überall entstehen. Aufgebaut in der kurzen Zeit, die es dauert, einen Klappstuhl aufzustellen, sind sie genauso schnell wieder weg. 

Selbstverständlich ziehen Laden-Kirchen aus denselben Gründen Gemeindemitglieder an, wie es Religionen seit jeher tun: Sie versprechen Zugehörigkeit, Sinn, wirtschaftlichen Beistand und spirituelle Heimat – dies ist sowohl der Fall für die Nordstaaten, die das Ziel der Great Migration waren, als auch für die Einwandererviertel des 20. und 21. Jahrhunderts in Los Angeles. Oft bin ich an Menschengruppen vorbeigekommen, wobei mich die Musik, der Duft warmer Mahlzeiten und das freundlich-gemeinschaftliche Ambiente anzogen haben, nur um dann festzustellen, dass ich auf eine storefront church gestoßen war. Im besten Fall sind solche Ladenkirchen unabhängige Knotenpunkte der Solidarität. Doch das Versprechen von Freiheit und der Abbau alter Hierarchien können auch in ein Raubmodell des Wohlstandsevangeliums umschlagen. Menschen, die Trost suchen, laufen Gefahr, ausgebeutet zu werden, wenn Prediger in einer unheiligen Allianz aus Unternehmergeist und Religion ihre eigenen Taschen füllen. Beim Nachdenken über storefront churches fiel mir noch was auf: Die Dynamik meiner eigenen Reaktion auf dieses – für mich – neuartige kulturelle Phänomen. Was genau hat mich damals eigentlich so amüsiert? War es die Diskrepanz zwischen dem bescheidenen Auftreten und der großen religiösen Ambition, die meinen Spott hervorrief? Vielleicht ein Gefühl der Überlegenheit? Fühlte ich mich unbewusst irgendwie besser, indem ich mich auf die Seite der kunsthistorisch wertvolleren religiösen Architektur meiner Herkunft schlug? Eine spirituelle Verbindung besteht für mich ebenso wenig mit jenen alten Bauwerken wie mit den Ladenlokal-Kirchen; beides hat für mich ausschließlich kulturellen oder kunsthistorischen Wert. Dahingehend sind mir beide Arten deshalb genauso fremd wie sie es einander sind. Und doch repräsentieren sie trotz ihrer Unterschiedlichkeit universelle menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte.

Indem ich meine eigene Perspektive hinterfrage, von der ich diese Orte der Basis Solidarität beurteile, erkenne ich Folgendes: Als ich erstmals auf die storefront churches traf, sah ich ihre Andersartigkeit, ihre für mich neuartigen und teilweise belustigende Elemente. Jetzt aber sehe ich, wie sie Menschen erlauben, auch unter schwierigen Umständen durch Gemeinschaft zu überleben und zu gedeihen. Indem ich meine voreingenommene Sichtweise hinterfrage, wird mir klar, dass echte Solidarität nur von Mensch zu Mensch wachsen kann, im Bewusstsein der gemeinsamen Menschlichkeit und jeglicher Machtverhältnisse. Wenn ich die Vielfalt, die es unter uns gibt, anerkenne, unsere universellen Bedürfnissen und unser Menschsein, dann begreife ich “Solidarität als Erkennen unserer inhärenten Verbundenheit, als einen Versuch Bindungen der Gemeinsamkeit zu schaffen, trotz unserer Unterschiedlichkeit,” wie es Leah Hunt-Hendrix und Astra Taylor in ihrem neuen Buch zu diesem Thema formulieren (Leah Hunt-Hendrix und Astra Taylor, Solidarity: The Past, Present, and Future of a World-Changing Idea). Ich habe verstanden, dass Solidarität nur zwischen Gleichgestellten existieren kann. Indem wir sowohl unsere Verschiedenartigkeit als auch unsere Ähnlichkeit erkennen, können wir über die schlichten Verbrüderungen unserer jeweiligen “in-groups” hinauswachsen. Wenn ich nicht objektifiziere, sondern aus dem Wissen um unsere Gemeinsamkeiten heraus beobachte, dann kann ich Faszination, Kommunikation und authentische Solidarität zulassen, die von einem menschlichen Subjekt zum anderen geschieht, ohne Objektifizierung oder Exotifizierung. Die Beschäftigung mit dem Wesen dieser bescheidenen storefront Kirchen ist für mich, ganz nebenbei, auch zu einer Lektion über authentische Solidarität geworden.

 

Mehr zum Thema

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.