Migrationspolitik in Deutschland  Die gefühlte Krise

Deutschland in Herbst - im großen Stil © Shutterstock

Über kaum etwas wird dieser Tage härter diskutiert als die „Migrationskrise“. Aber hat Deutschland wirklich ein Problem mit zu viel Einwanderung? Es ist eine paradoxe Situation. Während auf dem Arbeitsmarkt überall Leute fehlen, sind Politik und Medien vor allem mit einem Thema beschäftigt: Abschiebung. 

Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich rapide verändert: Bei den Untersechsjährigen in den Städten der alten Bundesrepublik sind die Kinder mit Migrationshintergrund – also Kinder mit mindestens einem Elternteil, das selbst noch eingewandert ist – mittlerweile in der Mehrheit. Zudem hat die anhaltende Geburtenschwäche und der geringe Einwanderungssaldo zu einem dramatischen Mangel an Arbeitskräften geführt. Diese Entwicklung ließ sich vor 15 Jahren bereits absehen, doch wenn ich damals in Vorträgen prognostizierte, dass sich Arbeitgeber bald um Arbeitskräfte bewerben müssten, dann schaute ich oft in leere Gesichter: Politische und wirtschaftliche Eliten waren es gewöhnt, dass es immer mehr arbeitssuchende Personen als Stellen gab und bügelten meine Bedenken teilweise arrogant ab. 

Im Jahre 2024 ist die Schwierigkeit der Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr zu leugnen: Betriebe, Einzelhandel, Gastronomie, alle suchen händeringend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - unter den Problemen der deutschen Ökonomie rangiert der „Fachkräftemangel“ in jeder Umfrage auf einem der Top-Plätze. Tatsächlich werden gar nicht nur „Fachkräfte“ gesucht, sondern der Mangel zieht sich durch alle Segmente des Arbeitsmarktes. Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass Politik und Medien fast besessen darüber debattieren, dass zu viele Migrant*innen nach Deutschland kommen. Seit 2023 ist die „Migrationskrise“ eine Art Selbstläufer, so dass die Parteien innerhalb und außerhalb der Regierung sich quasi einig sind: Der deutsche Staat mache es „denen zu leicht, die von unserem Sozialstaat profitieren wollen“, so Finanzminister Lindner; man müsse so schnell wie möglich Ukrainer loswerden, die nicht arbeiten, so die Union; und der Kanzler wiederholt ohnehin stoisch die Maxime, es müsse „im großen Stil“ abgeschoben werden.

Abschiebung von potentiellen Arbeitskräften und Steuerzahlenden

Nun sind die Personen, die nach 2022 vor dem Krieg in der Ukraine flohen, zu 80% alleinstehende Frauen mit Kindern, so dass der Vorwurf, arbeitsscheu zu sein, doch ein wenig schäbig wirkt. Viele Geflüchtete haben zudem lernen müssen, dass sich staatliche Transferleistungen kaum mit Arbeit kombinieren lassen, womit der Staat regelrecht Anreize schafft, nicht zu arbeiten. Schließlich ist zwischen 2015 und 2023 das Aufenthaltsgesetz sage und schreibe 71mal geändert worden, also im Durchschnitt etwa neunmal im Jahr. Selbst gestandene Rechtsanwälte können kaum noch folgen, was Geflüchteten (aber ebenso eingewanderten „Fachkräften“) das Leben unnötig schwer macht. Und dennoch bleibt die Geschichte der syrischen und irakischen Geflüchteten durchaus eine Erfolgsgeschichte: 2022 hatten fast 60 Prozent derjenigen, die zwischen 2014 und 2016 noch vom Staat eine Grundsicherung bezogen, einen sozialversicherungspflichtigen Job - und das trotz niedriger Bildungsabschlüsse. Da stellt sich die Frage, warum steigende Asylzahlen für hysterische Aufregung sorgen und ob eine Abschiebung „im großen Stil“ nicht auch eine Abschiebung von potentiellen Arbeitskräften und Steuerzahler*innen wäre.

Vielleicht lässt sich das Säbelrasseln besser verstehen, wenn die jüngsten Erfolge der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) mitbedacht werden, die offen rassistisch gegen die Einwanderung nach Deutschland polemisiert. Auf diesem Terrain versuchen die bürgerlichen Parteien offenbar, Boden gutzumachen. Allerdings feiert die AfD ihre größten Erfolge ausgerechnet in den neuen Bundesländern, die zwischen 1990 und 2022 massiv an Bevölkerung verloren haben: Zwischen 14%, (Sachsen) und einem Viertel (Sachsen-Anhalt). Die Ablehnung von Einwanderung ist also dort am höchsten, wo am meisten Personen abwandern und wo selbst in strukturschwachen Regionen viele Stellen nicht besetzt werden können. Das ist nicht so leicht zu erklären, aber klar ist: Die Gründe für den Erfolg der AfD liegen auch woanders, und das Nachplappern von deren Parolen stärkt das rassistische Weltbild: In diesen Kreisen wurde schon immer behauptet, dass es eine „Migrationskrise“ gäbe und die etablierten Parteien nichts unternähmen.

Eine Krise des Selbstverständnisses

Der Zorn des rechtspopulistischen Umfelds richtet sich aber auch gegen solche Deutschen mit Migrationshintergrund, die als „nicht assimiliert“ betrachtet werden. Nun hat sich wie erwähnt die Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland dramatisch verändert. 1998 hat erstmals eine Bundesregierung anerkannt, die Migration sei „unumkehrbar“ (zuvor sah man das offiziell anders), und 2000 wurde das bis dahin geltende „Blutsrecht“, das die Staatsangehörigkeit an die Biologie koppelte, gründlich liberalisiert. Allerdings haben sich die Mentalitäten und Herangehensweisen aus der Zeit davor oftmals nicht mitverändert. In Sachen Einwanderung gilt weiterhin das Prinzip der „Integration“. Das kann eine pragmatische Seite haben (Eingliederung in den Arbeitsmarkt z.B.), doch oft genug verbirgt sich dahinter die romantische Vorstellung einer prästabilisierten nationalen Einheit, die am Ende vor allem unzufrieden macht: Nie sind alle „integriert“ genug, immer ist die Gesellschaft zu sehr „gespalten“ etc.

Umso schwerer fällt es, die Errungenschaften zu sehen, denn die Erfahrung ist, dass das Zusammenleben im Alltag häufig kommod funktioniert und von der kommunalen Politik häufig auch gut moderiert wird. Offenbar hat Deutschland weniger eine „Migrationskrise“, sondern eine Krise des Selbstverständnisses. Für Leute, die wie ich schon lange mit dem Thema Migration beschäftigt sind, kommt das alles andere als unerwartet. Seit Jahren knirscht es im Getriebe, und die nationale Politik hinterlässt einen zunehmend ratlosen und chaotischen Eindruck. In einer solchen Situation sollten die Entscheidungsträger weniger „Insta“-Reaktionen zeigen als vielmehr einen Plan für die konsequente Modernisierung der Bundesrepublik entwickeln und verfolgen. Die mentale Krise ist ja nie weit vom Zusammenbruch entfernt.

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