Auszug aus dem Roman von Khuê Phạm  Wo auch immer ihr seid

Zuschnitt Bucheinband Illustration Brothers and Ghosts by Khue Pham © Scribe Publications

„Wo auch immer ihr seid“ ist die Geschichte einer jungen Frau aus Berlin, die wenig Interesse an ihrem vietnamesischen Erbe hat. Nach dem Tod ihrer Großmutter in Kalifornien begleitet sie widerwillig ihre Eltern in die USA, um an der Testamentseröffnung teilzunehmen. In der vietnamesischen Gemeinschaft von Little Saigon in Westminster, Orange County, stößt sie nach und nach auf ein Familiengeheimnis, das bis in den Vietnamkrieg zurückreicht.

Als wir am nächsten Tag durch Little Saigon fahren, passieren wir ein großes Einkaufszentrum, das von einem Buddha und drei Männern aus Marmor mit langen Umhängen bewacht wird: den Göttern für Glück, Wohlstand und Langlebigkeit. Weiße Säulen säumen den Eingang, sie tragen geschwungene, hellgrüne Dächer, so wie bei einer Pagode. Ich fahre das Fenster herunter und mache ein Foto. »Was ist das für eine Fahne, die da hängt?« Zwischen den Säulen ist eine gelbe Flagge mit drei roten Querstreifen angebracht. Sie erinnert mich an die von Spanien, aber das Verhältnis stimmt nicht, die roten Streifen sind viel dünner als die gelben. Mein Vater wirft einen Blick darauf. »Das ist die Fahne von Südvietnam.« »Aber die vietnamesische Fahne ist rot und hat einen gelben Stern!«, widerspreche ich. »Jetzt schon. Aber vor dem Krieg hatten Nord- und Südvietnam unterschiedliche Flaggen. Das hier ist die der damaligen Republik im Süden. Die, die du kennst, ist die der Kommunisten aus dem Norden. Es gab außerdem noch eine rot-blaue Fahne mit einem gelben Stern, das war das Symbol des Vietcong.« »Kompliziert.« Er seufzt. »Der Krieg war sehr kompliziert.« Gerade will ich ihn fragen, was er damit genau meint, da dreht er das Autoradio auf. Vom Vietnamkrieg habe ich natürlich in der Schule gehört, ich kenne die Bilder von Ho Chi Minh und dem nackten Mädchen, das vor den Napalmbomben flieht. Was der Krieg mit ihm und seiner Familie gemacht hat, weiß ich jedoch nicht. Weder er noch meine Mutter haben von sich aus davon erzählt, weder meine Geschwister noch ich kamen auf die Idee, sie danach zu fragen. Der Vietnamkrieg ist etwas, das in Geschichtsbüchern und Dokumentarfilmen in Schwarz-Weiß stattfindet, er hat nichts mit uns oder unseren Leben zu tun. Ich sehe den Fahnen hinterher, die sich in der untergehenden Sonne in gelb-rote Streifen auflösen. In Little Saigon lebt das besiegte Südvietnam offenbar fort. Es ist, als ob der Geist der Vergangenheit noch in den Köpfen der Menschen herumspuken würde, als ob es noch unfinished business zu erledigen gäbe.

Am Fenster zieht eine westliche Benutzeroberfläche mit vietnamesischen Features vorbei. Die Geschäfte sehen typisch amerikanisch aus, heißen aber »Saigon City Market Place« oder »Hanoi Corner«. Die Restaurants werben mit den Pfannkuchen Bánh xèo, dem Klebreis Xôi oder den belegten Broten Bánh mì. Die Apotheken tragen vietnamesische Namen, ebenso die Wäschereien, Bubble-Tea-Läden und die kriminell günstigen Massagesalons (»1 hour – $15 Dollar only!«). Man sieht kaum Menschen auf den Straßen, aber sieht man welche, haben sie schwarze Haare und diese asiatischen Körper, die im Vergleich zu weißen Körpern immer ein bisschen schmächtig wirken. Hier aber sind sie unter ihresgleichen, sodass nicht alle einfach nur klein sind, sondern stämmig und sportlich und zierlich und ja, auch hochgewachsen. Auf der Spur neben uns fährt eine asiatische Familie mit zwei Mädchen in einem Pick-up vorbei, die Mutter hat ihre Haare braun gefärbt und locker hochgesteckt, der Vater trägt eine schwarze Architektenbrille zu einem weißen T-Shirt mit Jackett. Neidisch schaue ich ihnen hinterher. Wer wäre ich geworden, wenn ich hier aufgewachsen wäre? 

Denke ich an meine Kindheit zurück, sehe ich ein schwarzhaariges Mädchen, das in einem hellblauen Haus lebt und mit der melodischen Sprache seiner Eltern aufwächst. Nichtsahnend plapperte ich die Worte nach, mit denen sie mich fütterten und in den Schlaf wiegten, zärtlich vor Glück über ihr erstes Kind. Als Kind war mir nicht klar, dass die Welt meiner Familie eine andere war als die aller anderen um uns herum; dass ich aufwuchs in einer Realität, in der genau fünf Menschen lebten: meine Mutter, mein Vater, meine Schwester, mein Bruder und ich. Im Kindergarten begriff ich es. Im Kindergarten traf ich Paul und Sarah, die mit bunten Bauklötzen spielten, während ich ihnen stumm zusah. Ihre Eltern waren groß, blond und selbstsicher; holten sie Paul und Sarah ab, scherzten sie mit der Erzieherin. Meine Eltern waren klein, schwarzhaarig und immer zu spät, kamen sie endlich herbeigehetzt, saß ich vor dem Kindergarteneingang und baute Bauklötzchenburgen nach.

Je älter ich wurde, desto mehr verstand ich, wie anders wir waren. So wie ich lernte, wie groß der Unterschied zwischen uns und allen anderen war, so lernte ich, mich meiner fremden Umgebung anzupassen. Jeden Tag ein paar deutsche Worte mehr, jeden Tag ein paar vietnamesische Worte weniger. Ich vergaß die Lieder, die ich als Kleinkind gesungen hatte, und stimmte in der Schule bei »Heute soll es regnen« ein. Ich wollte Spaghetti essen, nicht Phở. Luden meine Eltern ihre vietnamesischen Freunde zu Partys ein, verdrehte ich die Augen, weil sie so uncoole Sachen machten wie Karaoke zu singen. Immer musste ich etwas auf dem Klavier vorspielen. Immer erzählten meine Eltern von meinen Noten. Das einzig Tröstliche war, dass alle anderen vietnamesischen Kinder auch vorspielen und danebenstehen mussten, während ihre Eltern mit diesem Sieg beim Mathematikwettbewerb oder jenem Vorzeige-Abitur prahlten. 

Bei den Deutschen beobachtete ich dieses ständige SichBeweisen-Müssen nie. Meine Freunde bekamen Geld, wenn sie eine 2 in Mathe schrieben, sie begannen mit fünfzehn, von ihren Eltern Zigaretten zu schnorren, sie durften am Wochenende so lange raus, wie sie es für richtig hielten. Kam es trotzdem zum Streit, folgten Aussprachen, in denen die Worte »Entschuldigung« und »Liebe« fielen. Gefühle, die Deutschen sprachen so frei über Gefühle. Ich fand das befremdlich, wusste aber, dass mein Befremden auch seltsam war. Also schwieg ich. Es war wichtig, die Unterschiede zwischen meiner Familie und ihren Familien verschwinden zu lassen, denn unsere Welt war klein und komisch, während ihre groß und allgemeingültig war. 

»Zieh dich bloß ordentlich an, du weißt doch, wie misstrauisch die Deutschen gegenüber Ausländern sind!«, sagte meine Mutter immer, und ich höre noch heute, wie sie dieses Wort mit einer Mischung aus Angst und Drohung aussprach. Alles wollten wir sein, nur nicht das, was wir waren. Im Deutschland der neunziger Jahre gab es keinen Platz dafür. Nicht für meinen Vater, der vor dem Schwimmbad von Fremden gefragt wurde, ob er billige, geschmuggelte Zigaretten zu verkaufen habe. Nicht für mich, die ich meinen eigenen Namen bald verlernte. In ihrem Einwandererehrgeiz ließen meine Eltern es geschehen: Ich sollte es doch zu etwas bringen in diesem Land. Kiều stammte aus der kleinen Welt, aber Kim wusste sich in der großen geschmeidig zu bewegen, es den Deutschen recht zu machen, zu einer von ihnen zu werden. Erst hier, in Amerika, frage ich mich zum ersten Mal, ob es auch anders hätte sein können ...

Khuê Phạm las am 30. September 2024 im Rahmen unseres Longing/Belonging Festivals Ausschnitte aus „Wo auch immer ihr seid“ (Brothers and Ghosts). Der Lesung folgt eine Diskussion mit dem Journalisten Joshua Yaffa. Eine Aufzeichnung der Diskussion können Sie untenstehend ansehen, oder auch auf dem YouTube-Kanal des Goethe-Instituts Washington
 
 

Portraitfoto Autorin Khuê Phạm © Penguin Random House / Photo: Alena Schmick


Khuê Phạm ist eine preisgekrönte ZEITmagazin-Redakteurin und Buchautorin. 2012 veröffentlichte sie mit Alice Bota und Özlem Topçu »Wir neuen Deutschen«, das von Einwandererkindern und ihrem Platz in Deutschland handelt. Ihr Debütroman »Wo auch immer ihr seid« erschien 2021 und wurde als Tanztheater adaptiert. „Brothers and Ghosts“, die englische Übersetzung, wurde 2024 in Großbritannien, Australien und den USA veröffentlicht. Khuê Phạm gehört zu den Gründungsmitgliedern den PEN Berlin und zu der Jury für den Internationalen Literaturpreis, den des Haus der Kulturen der Welt ausrichtet. Mehr unter khuepham.de.  Instagram: @pham_fatale
 
Khuê Pham, Wo auch immer ihr seid
© 2021 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Erhältlich in allen guten Buchhandlungen.

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