Deutsche und mexikanische Migration  Von Dürer bis Volkswagen

Ein Volkswagen in Mexiko © Jorge Zapata / Unsplash

Der wohl erste überlieferte Berührungspunkt der beiden geografischen Gebiete, die wir heute Mexiko und Deutschland nennen, war eine Ausstellung im Jahr 1520 und ein deutscher Künstler, der von ihr fasziniert war.

Ein Jahr vor der Eroberung Tenochtitláns ließ Karl I. von Spanien im Rathaus von Brüssel all jene Gegenstände ausstellen, die ihm seine Vasallen aus Chalchihuecan (Veracruz) gesandt hatten. Anwesend war auch der deutsche Künstler Albrecht Dürer. In seinem Tagebuch hielt er fest: „Und ich hab aber all mein lebtag nicht gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der menschen jn frembden landen. Und der ding weiß ich nit außzusprechen, die ich do gehabt hab.“

Dürer sprach zwar nicht direkt über die Ureinwohner Mexikos, sondern über ihre Artefakte, doch nur wenige Jahre später, traf ein anderer deutscher Maler, Christoph Weiditz, am Hof desselben Königs, der mittlerweile als Karl V. zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt worden war, auf eine Gruppe indigener Menschen. Ihm verdanken wir einige Porträts der ersten Mexikas, die europäischen Boden betraten.

ZUERST KAMEN DIE DEUTSCHEN NACH MEXIKO

Etwa 300 Jahre später begannen die ersten Deutschen im Gebiet des Vizekönigreichs Neuspanien zu siedeln, beeinflusst sicher auch von den Forschungsreisen Alexander von Humboldts um die Jahrhundertwende des 18./19.Jahrundert. Im 19. Jahrhundert emigrierten insgesamt etwa 3,5 Millionen Deutsche in Richtung des amerikanischen Kontinents. 90% von ihnen wanderten in die USA aus, der Rest verteilte sich auf die verschiedenen lateinamerikanischen Länder. Mexiko nahm dabei nur sehr wenige Migranten auf. Marianne Oeste de Bopp beschreibt den schleppenden Prozess folgendermaßen: „1824 hatte die deutsche Kolonie in Mexiko 25 Mitglieder, 1875 waren es noch unter 200.“

Nach dieser ersten Welle von „Handelskonquistadoren“ scheint um 1880 eine systematischere Migration von Deutschen nach Mexiko einzusetzen, womit nicht nur deren Beteiligung an kulturellen und archäologischen Funden zunahm, sondern auch die Anzahl von deutschen Brauereien, Zeitungen und Technologien, welche die Modernisierung Mexikos vorantrieben. Die Migranten und ihre aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weckten die Neugier der Mexikaner, die ihren Blick ihrerseits allmählich auf Deutschland richteten und dort eigene Möglichkeiten sondierten.

Viele der deutschen Migranten unterhielten weiterhin engen Kontakt zu ihren Familien und Gemeinden und schickten ihre Kinder später zum Studieren in ihre alte Heimat. Einer von ihnen war Rodolfo bzw. Rudolf Dresel, der in Monterrey geboren wurde und an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz Medizin studierte, um dann in Berlin zu promovieren. Obwohl nicht wissenschaftlich belegbar, könnte er bei seinem Tod 1890 der erste mexikanische Auswanderer, der auf deutschem Boden starb, gewesen sein.

DIE ERSTEN MEXIKANISCHEN AUSgeWANDERten IN DEUTSCHLAND

Manuel Eduardo de Gorostiza (1789-1851) war der erste diplomatische Gesandte des unabhängigen Mexikos. Er erwirkte, dass Preußen die Unabhängigkeit anerkannte und knüpfte Handelsbeziehungen mit Regierungen diverser Gebiete, die heute zu Deutschland gehören. Alles deutet darauf hin, dass er der erste Mexikaner war, der nach der Unabhängigkeit deutschen Boden betrat, da er zwischen 1824 und 1832 gleich mehrere Reisen in diese Region unternahm.

Soweit mir bekannt ist, waren die ersten mexikanischen Germanophilen die Schriftsteller und Übersetzer Luis Martínez de Castro (1819-1847) und José Sebastián Segura (1822-1889). Der erste Mexikaner, der nach Deutschland emigrierte ‒ zumindest zeitweise, und zwar Mitte der 1860er Jahre ‒, war Rafael de Zayas Enríquez (1848-1932) aus Veracruz. Laut Aussage seines Freundes Ignacio Manuel Altamirano studierte er in Preußen Philosophie und Recht und schrieb in Hamburg einen Text über deutsche Literatur. Allem Anschein nach unternahm er die Reise nicht allein, sondern wurde von Freunden begleitet: den Söhnen des Gouverneurs von Veracruz.

Im Anschluss an seine Rückkehr nach Mexiko wurden viele seiner Mitbürger durch Zayas Begeisterung für Deutschland angesteckt. Hervorzuheben wäre dabei Santiago Sierra, der 1874 die erste mexikanische Version der Grimmschen Märchen herausbrachte, Werke von Goethe übersetzte und so die deutsche Kultur und Literatur verbreitete.

Laut meiner Recherche sind die ältesten Nachweise von weiteren Mexikanern in Deutschland trotz dieser Pioniere wesentlich später datiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts emigrierte eine Handvoll junger Männer. Darunter auch Gabriel Ibáñez, der aus Puebla 1893 nach Berlin zog, dort an der Friedrich-Wilhelms-Universität Medizin studierte und 1899 seinen Doktortitel erhielt. Ein weiterer Emigrant war Alberto Villaseñor aus Orizaba, der sich im Oktober 1897 am Leipziger Konservatorium der Musik einschrieb, und Julián Carrillo aus San Luis Potosí, der es ihm im Oktober 1899 gleichtat.

Der erste Staatsbesuch eines mexikanischen Präsidenten fand 1924 statt, als Plutarco Elías Calles nach Deutschland reiste, obwohl er gerade erst gewählt worden war und seine Staatsgeschäfte noch gar nicht offiziell aufgenommen hatte. Während seines sechswöchigen Aufenthalts machte er sich mit der Industrie und denr sozialen Situation vor Ort vertraut. In verschiedenen Interviews sprach er zwar über die Migration von Deutschen nach Mexiko, doch nie über die Migration von Mexikanern nach Deutschland.

Unter Präsident Elías Calles erfuhren die deutsch-mexikanischen Beziehungen eine Stärkung, was wiederum den Studierenden zugutekam, da ihnen ab den 1920er Jahren, ein Studienaufenthalt in Deutschland leichter möglich war als vorher. Allerdings nahmen nicht viele diese Möglichkeit wahr; der Großteil zog ein Studium in Frankreich vor. Nichtsdestotrotz machten Studierende und Akademiker in dieser Zeit den Großteil der mexikanischen Bevölkerung in Deutschland aus. Um den akademischen Austausch von Studierenden und Spezialisten weiter voranzubringen, schlossen die beiden Länder 1977 ein Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit.

MIGRATIONS AUS LIEBE

Während seiner Mexiko-Reise im Jahr 2011 bekräftigte der damalige Außenminister Guido Westerwelle, dass „die Geschichte der deutsch-mexikanischen Wirtschaftsbeziehungen untrennbar mit dem VW-Käfer verbunden“ sei. Ähnliches lässt sich auch bezüglich des Volkswagenkonzerns und den deutsch-mexikanischen Liebesbeziehungen sagen. Volkswagen spielt eine nicht unerhebliche Rolle dabei, dass sich viele Mexikanerinnen entschieden, nach Deutschland auszuwandern.

Für Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim ist die „Liebesmigration“ sowohl eine Folge der sexuellen Revolution als auch der wachsenden Emanzipation der Frauen, die mit der Globalisierung in den 1990er-Jahren ihren Einzug hielt.

In Mexiko geschah dies aber schon früher, nämlich mit der Eröffnung der Volkswagen- und Siemens-Werke Mitte der 1970er-Jahre. Hier gesellte sich zu der ersten Migrationswelle von mexikanischen Studenten nach Deutschland eine zweite Welle von Liebesmigranten. Deutsche Ingenieure und Techniker strömten ins Land und fanden die Liebe.

Expertinnen wie Yvonne Riaño und Paulina Sabugal Paz heben immer wieder hervor, welch entscheidende Rolle das Wunschdenken lateinamerikanischer Frauen bei ihrer Entscheidung spielt, nach Europa auszuwandern. Riaños Forschungen beziehen sich zwar größtenteils auf die Schweiz, können aber auch auf Deutschland und Europa angewendet werden. Sie schreibt, dass „die von [lateinamerikanischen] Frauen angestrebte Gleichheit in der Partnerschaft und ihre idealisierende Einschätzung europäischer Männer wichtige Faktoren für ihre Entscheidung sind, binationale Ehen einzugehen und aus Liebe zu emigrieren“.

Riaño schildert das Paradox, das sich aus dieser Idealisierung ergibt: Viele Frauen, die sich in ihren Heimatländern gegen klassische Rollenbilder gewehrt haben, sind ihren Männern in ein harsches Land mit rauem Klima und komplizierter Sprache gefolgt, ohne dabei vorauszuahnen, dass die Schwierigkeiten von Mutterschaft, Integration und Arbeitsmarkt sie letztendlich dazu bringen werden, notgedrungen ‒ und aus Liebe ‒ eben in jene traditionellen Strukturen zurückzufallen, die sie aufzubrechen versuchten.

WIRTSCHAFTSMIGRATION NACH DEUTSCHLAND

Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 verbesserte das deutsche Image in Mexiko, kurbelte Migrationsprozesse weiter an und bereitete den Weg für einen dritte Einwanderungswelle. Die WM stellte für viele Mexikaner einen persönlichen Anreiz dar, der sie zur Migration ermutigte.

Die Motivation Deutschlands, diese Entwicklung zu fördern, hatte besondere Gründe: Das Land förderte die Einwanderung, um den aufkommenden Personal- und Fachkräftemangel in verschiedenen Industriezweigen auszugleichen. Und an wen wendet sich die Regierung in diesem Fall? An seine wichtigen Wirtschaftspartner, natürlich.

Im Falle Mexikos unternahm die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007 den ersten Schritt: Im Rahmen des „Heiligendamm-Prozess“ kam es zum Abschluss eines binationalen Abkommens mit Mexiko. Eine erfolgreiche Strategie, denn Deutschland wurde Mexikos wichtigster Handelspartner in der EU und Mexiko Deutschlands wichtigster Partner in Lateinamerika. Das bestätigen sowohlRogelio Granguillhome, der ehemalige mexikanische Botschafter in Deutschland (2017-2021) als auch die Bundestagsabgeordnete Dunja Kreisel, derzeitige Vorsitzende der Deutsch-Mexikanischen Parlamentariergruppe.

Wie zu erwarten, hatte der enge wirtschaftliche, industrielle, wissenschaftliche und touristische Transfer auch einen immer stärker wachsenden menschlichen Austausch zur Folge.

Wenn ich einen ungefähren Zeitpunkt nennen müsste, ab dem Mexikaner aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland auswanderten, dann würde ich das Jahr 2012 nennen. Vielleicht trieb der historische Netto-Null-Migrationssaldo in den USA die Migranten dazu, ihr Glück in Deutschland zu suchen, wie es auch der Spielfilm Guten Tag, Ramón (2013) andeutet.

Ein Beispiel für diese dritte Einwanderungswelle ist die Migration von Pflegekräften. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn reiste 2019 höchstpersönlich nach Mexiko, um dort angesichts des Pflegenotstands in Deutschland um Pflegefachkräfte anzuwerben. Eine der wenigen Studien, die die mexikanische Migration in Deutschland untersucht, ergab, dass 100 % der (zum Großteil weiblichen) Pflegekräfte aus wirtschaftlichen Gründen emigrierte.

In jüngster Zeit hat sich Deutschland zum viertwichtigsten Auswanderungsziel der Mexikaner entwickelt, eine Tendenz, die meiner Einschätzung nach noch deutlich steigen wird. Wir Mexikaner schließen uns schon jetzt zu Gemeinschaften zusammen; es gibt Veranstaltungen und mittlerweile ist es einfacher, an gewisse Produkte und Lebensmittel zu kommen, was den Aufenthalt im zunächst fremden Land deutlich vereinfacht.

NEUES DEUTSCHLAND

Auch wenn es zutrifft, dass die AfD und gewisse rechtsextreme Bestrebungen auf dem Vormarsch sind, schaffte es der Fußball im Sommer 2024 wieder einmal, Deutschland als ein plurales und weltoffenes Land zu präsentieren, in dem wir alle Platz finden.

Anlässlich der Europameisterschaft schaltete Adidas die Werbekampagne Typisch Deutsch, um die neuen Heimtrikots der Nationalmannschaft zu bewerben. Mit ihrer Darstellung eines neuen Deutschlands trafen sie dabei genau ins Schwarze. In fast 100 Sekunden zählen verschiedene Personentypen traditionell deutsche Eigenheiten auf und stellen sie gleichzeitig in Frage. Damit zeichnen sie das Bild eines neuen Deutschlands: Es ist okay, quasi zwei Mannschaften im Turnier haben, da die Deutschen nun einfacher Doppelstaatler werden können; eine junge Frau bestellt einen Döner, „aber bitte ohne Scharf“. Auf humorvolle Weise sehen wir typisch deutsche Motive, etwa eine übergroße Bratwurst, Socken in Sandalen, mit Handtüchern reservierte Liegen und eine missmutige alte Frau, die geräuschvoll um Ruhe bittet.

So ist die Lage heute. Das ist das neue Deutschland.

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