Förderung von Zugehörigkeit   Der Dritte Raum

Thirdspaces © Dalle-E/OpenAI, angestiftet von Klaus Kaluppke

Sich als Teil einer Gesellschaft zu fühlen und auch von anderen Mitgliedern als solcher anerkannt zu werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Physische Anwesenheit oder rechtliche Zugehörigkeit sind sicherlich Grundvoraussetzungen für das Dazugehören, aber das wahre Gefühl der Zugehörigkeit umfasst komplexe emotionale, soziale und kulturelle Dimensionen.

Der Dritte Raum ist ein transzendentes Konzept, das sich ständig erweitert, um die „Anderen“ mit einzubeziehen, und so die Anfechtung und Neuverhandlung von Grenzen und kultureller Identität ermöglicht.

Edward W. Soja, „Thirdspace“ Malden (Mass.): Blackwell, 1996. Druckausgabe S. 61, eigene Übersetzung

Es fällt leicht, in einer neuen Umgebung Wurzeln zu schlagen und ein neues Zuhause zu finden, wenn man sich dazugehörig fühlt. Diese Wahrnehmung ist eine zentrale Komponente der erfolgreichen Integration neuer Gesellschaftsmitglieder und langfristig für die Wahrung des sozialen Friedens. Doch die Suche nach im Bereich des Machbaren liegender politischer Strategien gestaltet sich aufgrund der Komplexität der zum Teil sehr persönlichen Faktoren und ihrer Interaktion mit der Gesellschaft als schwierig. Hier kommt die Thirdspace-Theorie ins Spiel, die es ermöglicht, diese Faktoren in einen „Raum“ zu projizieren.

Die Thirdspace Theorie ist ein grundlegendes Konzept im Bereich der Stadt- und Sozialgeografie, das tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis hat, wie der Raum Identität, Zugehörigkeit und soziale Integration beeinflussen kann.

Die Theorie beschreibt einen Ort, in dem traditionelle Gegensatzpaare wie Heimat und Fremde, Selbst und Anderes überwunden werden können und in dem stattdessen Hybridität und Fluidität ein Potenzial für das Entstehen neuer Identitäten eröffnet. Sie wurde vom amerikanischen Soziologen Edward Soja im Jahre 1996 entwickelt, und greift zurück auf die frühere Idee des Autoren Ray Oldenburg, ebenfalls Soziologe, der den Begriff des „Dritten Raumes“ in seinem Buch The Great Good Place von 1989 zur Beschreibung öffentlicher Orte wie Bibliotheken oder Bars in Abgrenzung zum zuhause, dem ersten, und dem Arbeitsplatz, dem zweiten Raum, eingeführt hatte. Später wurde sie von anderen, insbesondere vom indischen Theoretiker Homi K. Bhabha weiterentwickelt.

Drei Räume

Die Theorie sieht drei städtische Räume vor: Der erste Raum ist die physische, gebaute Umwelt, die kartiert, quantifizierbar gemessen und in der realen Welt „gesehen“ werden kann. Er ist das Produkt von Planungsgesetzen, politischen Entscheidungen und städtischen Veränderungen im Laufe der Zeit. Der zweite ist der konzeptionelle Raum - die Art und Weise, wie dieser Raum in den Köpfen der Menschen, die ihn bewohnen, konzipiert ist. Er ist ein Produkt von Marketingstrategien, (Re)Imagination und sozialen Normen, die bestimmen, wie Menschen in diesem Raum handeln oder sich verhalten. Der dritte ist der „reale und imaginierte“ Raum, der gelebte Raum, die Art und Weise, wie die Menschen tatsächlich in diesem städtischen Raum leben und ihn erleben.

Umgebungen, in denen verschiedene Kulturen und Identitäten aufeinandertreffen, neue soziale Bedeutungen und Beziehungen schaffen können, so der Kern der Theorie. Sie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis davon, wie der Raum Identität, Zugehörigkeit und soziale Integration beeinflussen kann. Soja betont, dass der dritte Raum nicht nur physisch ist; er ist (gleichzeitig) auch ein konzeptioneller Raum, in dem Individuen zusammenkommen, um Identitäten auszuhandeln und gemeinsam Bedeutungen zu kreieren, die außerhalb der etablierten Normen liegen: Sie teilen eine Idee, ein Ziel, eine Begeisterung oder einen Traum, oder sie sind neugierig auf die Vorstellungen Anderer.

Beispiele für dritte Räume, in denen beide Definitionen zusammenkommen, sind Gemeinschaftszentren, Kulturfestivals, öffentliche Parks oder lokale Cafés – Orte, an denen verschiedene Gruppen sinnvoll interagieren können. Diese Räume stellen die traditionelle Dichotomie von „wir“ und „sie“ in Frage und fördern eine Atmosphäre von Inklusion, Verständnis und Zusammenarbeit.

Aber die Gesellschaft —und die Politik—müssen sie wollen

Für Eingewanderte und Geflohene ist der Weg, sich in einem neuen Land zu Hause zu fühlen, oft mit Herausforderungen wie Isolation, kultureller Entfremdung und schmerzhaften Prozessen der Assimilation verbunden. Und insbesondere für diejenigen, die vor Konflikten fliehen, sind geschützte, einladende Umgebungen ohne Angst vor Verurteilung oder Diskriminierung von enormer Bedeutung. In geeigneten Räumen können Neuankömmlinge Teile ihrer kulturellen Identität durch Teilen ihrer Tradition und Geschichten bewahren und gleichzeitig in ein neues soziales Gefüge integrieren. Multikulturalismus im besten Sinne.

Die Annahme des Konzepts Dritter Räume kann zu wahrhaftigem kulturellen Austausch führen und ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit für alle Individuen innerhalb einer Gemeinschaft fördern. Ihre Schaffung wäre auch gar nicht so schwierig oder kostenintensiv, Gemeinschaftszentren, Sportstätten und Veranstaltungsräume gibt es ja schon. Aber die Gesellschaft muss sie wollen und sich in einer aktiven Willkommenskultur engagieren. Dabei wäre es im Interesse aller ihrer Mitglieder —wie auch der Politik—, Barrieren abzubauen, Immigrierte und Geflohene willkommen zu heißen und schnellstmöglich in Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu integrieren.

Am Beispiel Deutschlands ist der Handlungsbedarf offensichtlich: Bei knapp 2 Millionen neuer Immigrierter in nur einem Jahr (2023, Statista), einer aktuellen Immigranten-Arbeitslosenquote von rund 15% (2024, Statista) und einer Abwanderung von über einer Million Immigranten pro Jahr (2023, Statista) wird schnell klar, wie viel es noch zu tun gibt. Positive, reziproke Verbindungen schaffen neue Bürgerinnen und Bürger, solche, die bleiben und mitgestalten wollen, die zu einer nuancierten und inklusiven gesellschaftlichen Erzählung beitragen. Die aktuelle Situation macht es nur allzu deutlich: Eine Gesellschaft, die nur die ersten beiden Räume fördert, die aus Steinen und Regeln, und nicht die der gelebten, gefühlten Realität, wird scheitern.


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Lektüre

Edward W. Soja: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Hoboken, NJ, USA: Wiley-Blackwell, 1996, 352 S. ISBN: 978-1-557-86675-2.

Ray Oldenburg: The Great Good Place. New York, NY, USA: DaCapo Press, 1989, 384 S. ISBN: 978-1-569-24681-8

Homi K. Bhabha: The Location of Culture. New York, NY, USA: Routledge, 1994/2004, 440 S., ISBN 9780415336390