Genug muss reichen!  Das Goldlöckchen Manifest

Mädchen am Tisch mit drei Schüsseln vor ihr
Goldilock © Goethe-Institut Los Angeles

Ich sitze in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer – in meinem komfortablen Mittelschichts-Umfeld in Los Angeles – trinke Kaffee und lese Zeitung. Ein Artikel fällt mir besonders auf. Er handelt von der Superyacht eines berühmten Milliardärs, deren Bug eine Meerjungfrau schmückt.

Kurze Zeit später bespreche ich mit einem Mitstreiter Details einer Spendenaktion, an der wir gerade arbeiten. Er lebt in einem anderen Teil der Stadt, eingebettet in seinen eigenen Mittelschichts-Komfort. Das Ziel der Veranstaltung ist es, Geld zu sammeln, um dringend benötigte Unterkünfte für Obdachlose in unserer Metropole zu bauen. Während unserer Unterhaltung erwähnt mein Gesprächspartner einen jungen Bekannten seiner Familie. Rein zufällig sind die Eltern dieses Kindes besagter Milliardär und seine Frau, von deren Aussehen inspiriert, die im Artikel erwähnte Meerjungfrauenfigur an der Yacht geschaffen wurde. Da beschreibt mein Freund plötzlich ganz beiläufig, wie einer der reichsten Männer der Welt kürzlich mit den Kindern in seiner Küche stand und Mittagessen kochte. Und auf einmal, sicher in unserem Mittelschichts-Komfort sitzend, befinden wir beide uns in einem erstaunlichen, wenn auch sehr Los Angeles-typischen Zusammentreffen von zu viel, genug und fast gar nichts.

„Genug“ (Adjektiv): in zufriedenstellendem Maß; ausreichend; genügend

In unserer momentanen Phase des Finanz-Kapitalismus ist die globale Gesellschaftsordnung auf der Basis unaufhörlichen Wachstums und endloser Vermögensanhäufung aufgebaut. Dementsprechend bestreitet ein Teil der Hautevolee ihren Alltag in enger Nachbarschaft zu Menschen, die gerade so mit kaum dem Nötigsten über die Runden kommen. Oftmals treffen diese Gegensätze direkt aufeinander, in Städten wie Los Angeles passiert das jeden Tag. Und manchmal platzt dieser Widerspruch auf noch dramatischere Weise in das öffentliche Bewusstsein. Wie, beispielsweise, als folgende Gegenüberstellung die Schlagzeilen dominierte: Milliardenschwere Abenteuertouristen versterben auf der Jagd nach teurem Unterwasser-Nervenkitzel, während mittellose Migranten vor dem Erreichen der europäischen Küste ertrinken. Der extreme Kontrast, der durch die zwei Schiffskatastrophen illustriert wurde, steht häufig im Vordergrund. Direkt unter unserer Nase stößt plutokratische Extravaganz auf desolateste Entbehrungen. Zugleich dominiert hustle Kultur die (sozialen) Medien, von grind-Evangelisten gepredigt, die das hochbetagte Wohlstandsevangelium neu interpretieren. Wir sind kulturell darauf programmiert zu glauben, dass das Streben nach unserem eigenen Anteil an diesem zu viel nicht nur unser gottgegebenes Recht ist, sondern sogar ein edles Ansinnen. Warum sollten wir uns damit zufrieden geben, gemütlich unseren Kaffee zu trinken, wenn wir uns doch auch nach Yachten und nach Spielzeug für Superreiche sehnen können? Schließlich ist doch alles möglich, nicht wahr? Angesichts der Polarität von zu viel und so gut wie nichts, setzen zu viele von uns ihr Vertrauen in diejenige, die dem Lager derer angehören, die sich teuren Tiefseetourismus leisten können. In unserem auf Wunschdenken basierenden Bestreben verbünden wir uns mit den Interessen von Wirtschaftsmagnaten und hoffen, dass das uns davor bewahren könnte, jemals zu denjenigen zu gehören, die so gut wie nichts haben. Aber diese beiden Extreme sind nicht die einzige Möglichkeit, es gibt Raum für weitere Alternativen, es gibt das Genug. Lasst uns zusammen auf eine Reise in die Genug-O-Sphäre gehen.

Genug ist das Gefühl, dass etwas „genau richtig“ ist, der magische Zustand, den Goldlöckchen – bekannt aus dem englischen Goldilocks Märchen – zu finden versucht. Nicht zu heiß, nicht zu kalt; Nicht zu viel, nicht zu wenig – das ist das „Goldlöckchen-Prinzip“. Dieser Ausdruck wird in einer Vielzahl von Disziplinen verwendet, um genau diesen idealen Zwischenzustand zu bezeichnen, und das sollte im Mittelpunkt unseres kulturellen Diskurses stehen. Anstelle von bitterer Armut und materiellem Überfluss müssen die Grundbedürfnisse aller in ausreichendem Maße sichergestellt werden – Genug sollten wir uns als Ziel setzen. Diese alte Weisheit verkündete schon Aristoteles anno dazumal. Weder zu viel noch zu wenig ist wünschenswert, viel besser ist es wir suchen die goldene Mitte. Unser Dasein kann sich in einem ausgeglichenen, geregelten Zustand befinden, in dem unsere Lebensgrundlagen gesichert sind und sich ein Gefühl von Nachhaltigkeit, Sicherheit und Hinlänglichkeit verbreiten kann.

Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.

Epikur

Inmitten des Chaos und der existenziellen Angst, die durch Klimawandel, Autoritarismus, Krieg und dem real-existierenden Horrorszenario, in dem Millionäre neben Obdachlosenlagern leben, hervorgerufen werden, kann Genug uns den Weg weisen, wenn wir es in den Mittelpunkt stellen. Diese goldene Mitte könnte der passende Leitfaden sein, um den Exzessen und Entbehrungen zu entkommen, die von dem “cannibal capitalism” verursacht werden, wie ihn die Philosophin Nancy Fraser in ihrem Buch “Allesfresser” so treffend bezeichnet. Es ist ein System, das sich in seinem unaufhaltsamen Streben nach mehr wie ein mythischer Ouroboros selbst auffrisst, bis nichts mehr übrig ist. Genug war immer schon die Lösung. Nicht das Erbauen von Unternehmensimperien oder die Hoffnung darauf, plötzlich auf wundersame Weise reich zu werden. Genug ist cool, Genug ist sexy, Genug ist die Antwort – nicht die Clique alternder Titanen der (Tech-)Industrie, die versucht, sich die Coolness, die sie in ihrer Schulzeit nie hatte, zu erkaufen. Der gehetzte Drang zur Vermögensanhäufung zusammen mit Wachstum um des Wachstums willen, ist ein Strudel, der alles verschlingt. Das Genug kann das Gegenmittel hierzu sein. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Zwischenbereich ist längst überfällig.

Zeitgenössische Abolitionismusbewegungen, sowie manche Forscherinnen, die sich mit degrowth Themen oder kritischer Theorie auseinandersetzen, arbeiten auf eine Gesellschaft hin, in der das Genug im Mittelpunkt steht. Schließen wir uns diesem Projekt an, mit dem Ziel, Genug zu definieren, darum zu ringen und uns auf ein gemeinschaftliches Genug zuzubewegen. Lasst uns auf Ideen von Nachhaltigkeit aufbauen, von Reparierbarkeit, Fürsorge und Solidarität, statt von zu viel oder so gut wie nichts. Wir können eine Genug-O-Sphäre erbauen, die uns alle beherbergen kann. Dazu brauchen wir eine semantische Entkopplung von „Wachstum = Fortschritt“ und „mehr = besser“.

Wir müssen die Milliardäre auslachen, die als Herren mittleren Alters ihre muskulösen Körper zur Schau stellen und sich auf Freudsche Raketenwagnisse einlassen. Wir müssen uns unseren Ängsten stellen und dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die so gut wie nichts haben. Eine Yacht? Nein danke... aber ein Ja zu sauberem Wasser für alle. Extremer Abenteuertourismus? Lieber nicht... aber gebt uns ausreichend Ruhe und Erholung. Eine Villa mit 25 Badezimmern? Na ja... stattdessen lieber angemessenen Wohnraum für alle. Die Meerjungfrau kann uns nicht den Weg weisen, aber das Genug kann uns dorthin bringen, wo wir hinmüssen.

 

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