Wir berühren hier, das kann für ein Magazin des Goethe-Instituts gar nicht anders sein, eines der großen Mysterien der Welt: Was ist Zeit? Wie ist das Verhältnis von Zeit und Welt, oder, um es noch dicker aufzutragen: das Verhältnis von Zeit und Universum? Und was bedeutet das für die Mission der westlichen Ökonomie, das ewige Wachstum?
Wenn etwas an den Urknall-Theorien dran ist, kam das Universum vor ca. 13,8 Milliarden Jahren ins Dasein. Wir alle wissen, dass dieser Urknall sich nicht innerhalb eines Raums ereignete, sondern vielmehr, zugleich mit Materie und Zeit, diesen erst hervorbrachte. Und vorher? Wobei ja schon das Konzept des „vor“ nur unter der Annahme Sinn macht, dass es Zeit gegeben habe, bevor Zeit entstanden gewesen war.Ein weiteres Rätsel ist, dass sich dieses Universum nun in einem alles menschliche Vorstellungs- und Begreifvermögen überschreitenden Expansionsprozess befindet (wohin?), der an seinen Rändern sogar mit höherer als Lichtgeschwindigkeit vonstattengeht. Diese unendliche Inflation stellt uns vor Erkenntnisprobleme gravierender Art: Nicht nur verstehen wir nicht, was dieses Unendlich sein soll, da uns nur gegeben ist, einen Anfang und ein Ende zu denken; vielmehr bewirkt das Phänomen der die Lichtgeschwindigkeit übersteigenden, der superluminaren Geschwindigkeit das Phänomen des sich von uns fortbewegenden Ereignishorizontes, hinter dem sich Phänomene für immer und für alle Zeiten und immer weiter unserer Erkenntnis entziehen werden.
Das Universum expandiert in linearer Zeit hinaus ins Nichts
Nun fragen Sie sich, liebe Leser*in, was diese kosmologischen Spekulationen mit dem Thema unseres Magazins zu tun haben: Die Vorstellung eines unendlichen Wachstums, als welches man die scheinbar an keine Grenzen stoßende, vielmehr Grenzen selbst erst ins Nichts hinausschiebende Expansion des Universums verstehen kann, ist mit der Empfindung eines Grauens verbunden, gegen das das Grauen vor dem Erhabenen, dem wühlenden Ozean und der Eiswüste der Berge, von dem Kant schrieb, Puppenstubenhorror ist. Doch ist nicht unsere emotionale Reaktion hier entscheidend, sondern die glasklare Einsicht, dass mit der Vorstellung eines unendlichen Wachstums nicht nur Paradoxien verknüpft sind, die keine ökonomische Theorie würde lösen können; sondern auch Vorstellungen der Zeit, die sich keineswegs von selbst verstehen.Die Vorstellung eines beständigen Wachstums erweist sich nur als nachvollziehbar, wenn man ihr eine lineare Zeitvorstellung zugrunde legt, nicht aber beispielsweise eine zirkuläre, spiralförmige oder anderweitig in sich rückläufige, wie sie beispielsweise die indische (Natur-)Philosophie mit ihrer mathematisch genau kalkulierten unendlichen Abfolge der vier Zeitalter kennt.
Das Ziel am Horizont der Zeit ist eine Fata Morgana
Im europäischen Denken verknüpfte sich die lineare Zeitvorstellung mit dem Problem der Teleologie, einer säkularen Version der Idee, die Geschicke der Welt und das Schicksal der Menschen steuerten auf ein bestimmtes, wenn auch in den Einzelheiten unbekanntes Ziel zu. Das Christentum kannte das Jüngste Gericht als den finalen Punkt der Geschichte, an dem ein manchmal verärgerter, aber immer gerechter Gott das letzte Wort sprechen würde, woraufhin sich zwei einander entgegengesetzte Unendlichkeiten, die des endlosen Schmerzes und der Bestrafung und die des endlosen Glücks, öffnen würden. Die Aufklärung ersetzte die Welteinrichtung durch diesen gerechten und weisen Gott durch ein letztes Ziel bzw. einen letzten Grund, auf den alles zuzulaufen habe. Denn, selbst wenn sich alle Dinge einer Ursache verdanken, muss am Anfang der Kausalitätskette eine Sache stehen, die selbst nur Ursache, aber keine Folge von irgendetwas ist, da ansonsten der (s. Universum) Horror der unendlichen Regression drohte. An Gott wollte man nicht mehr glauben, es sei denn als regulative Idee, also musste ein anderer letzter Zweck her, den man notfalls im Menschen selbst, im Weltgeist oder aber im preußischen Staat zu erblicken meinte.Womit für die mir hoffentlich immer noch geneigten Leser*innen deutlich werden dürfte, was ihnen schon längst schwante: Dass alle Vorstellungen über das Ziel aller Zeit sich Bedingungspunkten in der Zeit verdanken und alle Überlegungen über letzte Gründe, Ziele und Zwecke, trotz herbeigedonnerter Metaphysiktheatralik, sich verblüffend schnell als philosophische Leichtgewichte erweisen.
Ökonomisches Wachstumsparadigma basiert auf einer variantenreichen Ausbeutung
Kehrt man zu der im ökonomischen Denken noch immer vorherrschenden Ideologie des Wachstums (insbesondere: des beständigen Wachstums) zurück, so ist diese, auch wenn das wie eine unzulässige Vereinfachung klingen mag, offenkundig ein Kind des europäischen Denkens, das nach dem Zweiten Weltkrieg das Licht der Welt erblickte, als es seinen älteren Vettern, Kolonialismus und Imperialismus, an den Kragen ging. Es ist längst ein Gemeinplatz, dass globales Wachstum nur möglich ist aufgrund der Tatsache, dass an irgendeinem (bzw. einer ganzen Menge von) Flecken auf der Erde der Mehrwert mittels Ausbeutung produziert wird: Ausbeutung von Arbeitskräften in Ländern mit geringerem Lohnniveau, Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Ausbeutung von in der Kosten-Nutzen-Rechnung nicht berücksichtigten Kostenfaktoren wie Erziehung, Betreuung und Pflege.Wollen Volkswirtschaften wachsen, sind sie darauf angewiesen, immer neue Möglichkeiten der Schöpfung von Mehrwert zu entdecken. Diese neuen Kontinente des Profits finden sie in Steueroasen und Billiglohnländern. Streckte die Krake des Kolonialismus auf der Suche nach Rohstoffen ihre Tentakel um den Globus, breiten dem Wachstumsparadigma folgende Ökonomien ihre Netze über den Planeten aus, um bspw. Mehrwert mithilfe der Lohndifferenz zu erwirtschaften. Dass in diesem Spiel nicht allein der böse Globale Norden die Rolle des Unholds spielt, ist klar: Autokratisch-kapitalistische Staaten wie China oder riesige Volkswirtschaften wie Indien beuten ihre eigene Bevölkerung mitleidlos aus, um als Investitionsmarkt für ausländische Zukunftsindustrien interessant zu bleiben und an der rauschenden Fahrt Richtung Zukunft teilnehmen zu können.
Während gerne der Zusammenhang zwischen Wachstumsparadigma und Arbeitsmarkt debattiert wird, wird über den Zusammenhang zwischen Wachstum und der steigenden Bedeutung des Finanzsektors meist geschwiegen. Denn Wachstum in der Realwirtschaft scheint lediglich unter der Bedingung unerlässlich, dass Verbindlichkeiten des Finanzmarktes durch Anwachsen des Giralgeldes und die Zunahme von Zinszahlungen durch ein steigendes Bruttoinlandsprodukt kompensiert werden müssen. Wo aber sich die Finanzwirtschaft längst schon von der Realwirtschaft entkoppelt hat, wird das Wachstumsparadigma obsolet. Man muss kein Marxist sein, um diese Ideologie beispielsweise mit dem Hinweis zu kritisieren, dass der Trickle-Down-Effekt, den die Finanzökonomie versprochen hatte, sich nirgendwo hat einstellen wollen. Die Akkumulation von Reichtum hat sich, ganz im Gegenteil, weiter konzentriert; und die Armen blieben arm oder wurden ärmer.
Zum Wachstum gehört auch der Tod, die Regression ins Nichts
Die Überzeugungskraft des Paradigmas „Wachstum“ rührt möglicherweise daher, dass es eine Übernahme aus dem Bereich der Biologie in den Bereich der Ökonomie ist. Alles Organische wächst; dass auch die Wirtschaft wachse, scheint dann das Selbstverständlichste dieser Welt zu sein. Was dabei vergessen wird – und das vergisst auch die abendländische Teleologie – ist, dass zum Wachsen das Schrumpfen und der Tod gehören; die Regression ins Nichts.Die Absurdität eines Wachsens zum Tod kompensiert die Teleologie durch den Sprung in die der Religion entlehnte, säkularisierte Endzeiterwartung. Ein Telos muss her! Wenn auch für das Individuum die sich jeweils abwickelnde Lebenslinie ein Wachstum ins Nichts ist, ist doch, so jede teleologische Konstruktion, der Beitrag dieses einzelnen Lebens zum Gedeihen und Wachstum des Menschengeschlechts (oder des Volkes oder der Gattung: Hauptsache groß) von Belang. Am Ende tragen wir alle dazu bei, dass sich der Weltgeist manifestiere. Doch die scheinbare Selbstverständlichkeit des Biologischen wird wiederum konterkariert durch eine andere Selbstverständlichkeit: die des Zirkulären, das zu beobachten wir unter anderem jeden Morgen und jeden Abend, am Beginn und am Ende jedes Jahres Gelegenheit haben.
Rettet die Geschichtsphilosophie (und die Wachstumsideologie) die Linearität der Zeit durch die Säkularisierung von „Transzendenz“, ignoriert sie zugleich das Ineinandergreifen von Zirkularität und Linearität in der natürlichen Welt und damit auch die löchrige Konsistenz der eigenen Metaphorik. Der Marxismus fand für das Problem von Linearität und Zirkularität die Lösung periodisch wiederkehrender Krisen, Alois Schumpeter entwickelte die Theorie von Konjunkturzyklen und der zerstörerischen Kreativität des Kapitalismus, die unweigerlich seinen Zusammenbruch herbeiführen würde.
Nicht größer, sondern besser
Wer es etwas weniger dramatisch haben will, könnte sich mit dem Gedanken eines qualitativen anstelle eines quantitativen Wachstums anfreunden, letzteres uns immer noch als alternativlos von ideenlosen Kapitalismusapologeten gepredigt, die, wo man quantitatives Wachstum kritisiert, gleich den Fortschritt und das Menschheitsglück in Gefahr sehen. Ein qualitatives Wachstum schließt technischen Fortschritt aber nicht aus, sondern setzt ihn voraus. Effizienzsteigerung braucht avancierte Technologie; qualitatives Wachstum bedeutet nicht Rücknahme von Lebensqualität, sondern Entwicklung intelligenter Lösungen mit Hilfe technischer Innovation. Sowohl die Wachstumskritiker*innen, die gerne auf vormoderne Gesellschaftsformen hinweisen und von Ganzheitlichkeit schwärmen, als auch die konservativen Wachstumsideologen, die vor einem Rückfall in die Steinzeit warnen, liegen falsch: Der Entzweiung ist so wenig zu entkommen wie die Revision der Wachstumsideologie zu vermeiden ist.Qualitatives Wachstum meint: Dinge, die man kann, noch besser machen. Dass Fortschritt nicht immer mit Transgression einhergehen muss, wie ja auch die herrschende westliche Kunstideologie insinuiert (womit wir uns wieder unserem genuinen Geschäftsfeld, der Kultur, annähern), zeigen Kunstpraktiken, bspw. in Süd- und Ostasien, die nicht den Traditionsbruch, sondern die Verfeinerung und Verbesserung traditioneller künstlerischer Techniken und Gattungen präferieren. Man wird nicht größer, sondern besser; man geht nicht in die Fläche, sondern in die Tiefe; man überschreitet nicht Grenzen, sondern lotet sie aus; man verbraucht nicht, sondern nutzt. Warum, wohin, weshalb und wie lange noch das Universum expandiert, werden wir wohl nicht mehr herausfinden; seine Grenzen liegen schon hinter dem uns auf immer entzogenen Ereignishorizont. Die Grenzen des Wachstums aber liegen hier, und zwar als von uns zu lösende Aufgabe.
Dr. Leonhard Emmerling zum Verhältnis von Wachstum und Zeit
September 2023