Die kafkaeske mexikanische Heiterkeit  Existenzieller Humor

Posada quer 1 José Guadalupe Posada, Public domain, via Wikimedia Commons
Zum Konzept des Todes in Mexiko hatte schon der deutsche Kunsthistoriker Paul Westheim geschrieben: in seiner bahnbrechenden Studie von 1952 berichtet er zunächst über die Reaktionen des Publikums in Paris auf eine heute berühmte Ausstellung antiker und moderner mexikanischer Kunst. Diese Ausstellung war die erste große Bemühung, die mexikanische Kultur in Europa bekannt zu machen. Der Kurator Fernando Gamboa begann 1950 mit der Planung dieser von der mexikanischen Regierung geförderten Ausstellung, in der er die mexikanische Kunst und Kultur über mehrere Jahrhunderte hinweg widerspiegeln wollte. Mit diesem Ziel wurde die Ausstellung in vier Bereiche aufgeteilt: Präkolumbische Kunst, Kolonialkunst, moderne und zeitgenössische Kunst und Volkskunst.

Als eine „Überraschung, geradezu einen Schock“ beschreibt Westheim die Reaktion der europäischen Ausstellungsbesucher beim Anblick der Statue der Coatlicue, der Göttin der Fruchtbarkeit, die als Mutter der Götter verehrt wird. Auf der bekanntesten Darstellung trägt sie ein Schlangengewand mit einer Halskette aus menschlichen Händen und Herzen und in der Mitte einen Schädel. Genauso reagierte das Publikum auf einen Totenkopf aus Bergkristall, auf die Stiche von Künstlern wie Manuel Manilla und José Guadalupe Posada, in denen tragische, politische und alltägliche Ereignisse durch Skelette satirisch verarbeitet werden, und auf die Ausstellungsstücke aus der Volkskunst, in der Totenköpfe ein häufig wiederkehrendes Motiv sind.

Westheim nimmt Bezug auf die Chronik des französischen Kunsthistorikers Paul Rivet aus dem Jahr der Ausstellung in Paris, “Signification du succès de l’art mexicain” („Bedeutung des Erfolges der mexikanischen Kunst“). Hier wird das Staunen und auch Unbehagen in den Reaktionen der Ausstellungsbesucher wegen ihres „morbiden, grausamen und makabren“ Charakters beschrieben und die Frage aufgeworfen, wie diese den Europäern so ferne Welt aufzufassen sei, in der der Tod nicht etwa als ein Albtraum, sondern mit Humor und Ironie gesehen werde.

WANN DARF GELACHT WERDEN?

Die Frage ist nun, ob in uns, wenn wir uns mit einer Erzählung von Kafka beschäftigen, nicht ganz ähnliche Gefühle aufkommen wie laut Rivet bei den Parisern, die in jener Ausstellung bei der Betrachtung mexikanischer Kunst durch alle Epochen hinweg immer wieder Totenköpfe vor sich hatten. Wie war es möglich, die eigene Vergänglichkeit im Angesicht des Todes zu feiern?

Analog dazu wird, obwohl manche Lesarten durchaus Humor in Kafkas Texten feststellen, dieser humoristische Aspekt bei der Lektüre oder Interpretation seines Werks wohl am meisten übersehen. Wobei Humor bei Kafka natürlich innerhalb einer düsteren Stimmung verstanden werden muss, was für viele Menschen per se ein Widerspruch zum Begriff der Heiterkeit ist.

Kafka selbst hielt seine Texte für lustig. Bekannt ist die von seinem Freund Max Brod überlieferte Anekdote, der zufolge Kafka nicht aus dem Lachen herauskam, als er einer Gruppe von Freunden in Prag die ersten Seiten aus seinem Werk Der Prozess vorlas. Diese Schilderung durch Brod zeigt bereits Überraschung und Erstaunen über eine solche Heiterkeit – ähnlich dem Erstaunen, das in Rivets Bericht über die Reaktion des europäischen Publikums auf die Ausstellung mexikanischer Kunst mitschwingt.

In der erwähnten Studie führt Westheim die mexikanische Heiterkeit dem Tod gegenüber auf die  im antiken Mexiko herrschende Sichtweise zurück: Sterben bedeutet nicht, dass man, je nach dem, was man verdient hat, in den Himmel oder in die Hölle kommt, erklärt Westheim. Nach dieser Sichtweise ist „das Schreckliche nicht die Vergänglichkeit der irdischen Dinge. Das Tragische ist, den dämonischen, okkulten Kräften ausgeliefert zu sein, die ‚nach ihrem Gutdünken schalten‘, wie Tezcatlipoca.“[1] Diese als Gott des Schicksals bekannte Gottheit kann als göttlicher Trickster verstanden werden, als ein Zauberer, der Menschen und Götter täuscht und ihnen ohne ersichtlichen Grund böse mitspielt. Macht Kafka nicht genau dasselbe mit seinen Figuren? Er setzt sie den tragischsten und absurdesten Situationen aus – und scheint das lustig zu finden.

Natürlich sind Tezcatlipoca, Quetzalcóatl (Gott des Lebens und des Wissens, auch bekannt als die helle Gegenfigur zu Tezcatlipoca, da er die Dualität des menschlichen Daseins in sich trägt) und die gesamte Mystik des antiken Mexikos seit der Eroberung durch die Spanier derart verwässert worden, dass wir nicht genau sagen können, wie viel davon in den volkstümlichen Traditionen wie dem heute weltweit so bekannten „Día de Muertos“ (Totentag) bewahrt worden ist. Aber im modernen Mexiko finden sich immer mehr Beispiele dafür, wie der Tod als Fest und als Person verstanden werden kann. Hier sind die Künstler Manilla und Posadas nicht wegzudenken. Noch einmal: Humor und Ironie werden anhand düsterer, makaberer und tragischer Elemente geschaffen.

HÄTTE KAFKA IN PARIS GELACHT?

Gewöhnlich haben die Orte, die in Kafkas Werk vorkommen, keine Namen und existieren in Wirklichkeit nicht. Allerdings weist Reiner Stach, einer der wichtigsten Biographen und Kafkakenner, auf eine Ausnahme hin: Der zwischen 1912 und 1913 geschriebene Roman  Amerika, der in den Vereinigten Staaten spielt. Kafka war nie in Amerika, aber um diesen Roman zu schreiben, informierte er sich in Büchern und Berichten und befragte sogar Bekannte, die dort gewesen waren. Dennoch fallen einige Ungenauigkeiten und Fehler im Text auf. Das meistzitierte Beispiel ist der Name der Stadt „Oklahama“ statt Oklahoma. Oder die falsche Verortung der Stadt San Francisco, die sich im Roman an der Ostküste und nicht wie eigentlich korrekt an der Westküste befindet.

Außerdem zeigt Stach einen weiteren „Fehler“ auf, dessen Bedeutung weitreichender sein könnte. Im ersten Abschnitt des Romans wird die Freiheitsstatue beschrieben, die nicht etwa eine Fackel, sondern ein Schwert gen Himmel streckt. Während der Text zur Veröffentlichung überarbeitet wurde, wies man Kafka auf diesen Ausrutscher hin, so dass er ihn hätte korrigieren können. Aber er tat es nicht: Seine beißende Ironie, ebenso symbolisch wie humoristisch, setzte sich gegen die „eindeutige Objektivität“ der Tatsachen durch. Man könnte die Beibehaltung des Schwertes für eine Art halten, über die amerikanische Vorstellung von Freiheit einen Scherz zu machen – mit schwarzem Humor. Genau diesen Humor haben die Mexikaner, wenn es um die  Vergänglichkeit des Daseins geht. Während Heidegger die Angst als Sein zum Tode bezeichnet, machen sich mexikanische Illustratoren wie Manilla und Posada lustig über den Tod, verwandeln ihn in ein tanzendes und lachendes Skelett, geben ihm Spitznamen wie „der Glatzkopf“ oder verfassen spaßige Reime auf ihn. Nun könnten wir uns fragen: Wie hätte Kafka wohl reagiert, wenn er sich die Ausstellung mexikanischer Kunst in Paris angesehen hätte?

[1] Paul Westheim, Der Tod in Mexiko. La Calavera, aus dem Spanischen von Mariana Frenk, Müller & Kiepenheuer, Hanau 1986, S. 41