Die Corona-Pandemie stellte in vielen Sparten einiges auf den Kopf: Messen fanden nicht statt, Publikationen verzögerten sich, und vielerorts herrschte Stillstand. Nicht so in der Comicszene: ein Blick auf die Neuveröffentlichungen des vergangenen Jahres.
Alle Jahre wieder werfen wir ein Auge auf die Trends der deutschsprachigen Comicszene. Diesmal kann man resümieren: Die Comicszene hat die Zeit der Corona-Pandemie für sich genutzt und unbeirrt weitergearbeitet. Die Früchte dieser Zeit sind beeindruckend: Das inhaltliche wie ästhetische Spektrum aktueller deutscher Comics hat sich erneut deutlich erweitert.
Vor allem im Graphic-Novel-Bereich sind viele autobiografische oder autofiktionale Werke entstanden, oft von Newcomern, die persönliche Erfahrungen widerspiegeln oder von solchen inspiriert sind. So zum Beispiel die sensible Erzählung Coming of H, in der sich Hamed Eshrat vom eigenen Heranwachsen in der deutschen Provinz, Drogenerfahrungen und erster Liebe anregen ließ. Besonders auffallend ist aber der Trend, Erzählungen auf historischen Begebenheiten oder Mythen aufzubauen. Dafür greifen die Autor*innen mal mehr, mal weniger weit in die Geschichte zurück.
Die Geschichte der Menschheit in Bildern
Gleich zwei Werke aus 2022 führen zurück in die Siebzigerjahre – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Für Madame Choi und die Monster haben sich die Zeichnerin Sheree Domingo und der Autor Patrick Spät zusammengetan. Sie erzählen eine kuriose wie abgründige historische Anekdote der 1970er- und 1980er-Jahre um ein prominentes südkoreanisches Schauspieler*innen-Ehepaar und den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-il. Während ihre Graphic Novel mit vielen fantastischen Elementen geschmückt ist, schildert Jennifer Daniel in Das Gutachten realitätsnah das Klima der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren. In flächig aquarellierten Zeichnungen entfaltet sie eine Kriminalstory zwischen bürgerlichem Biedersinn und aufkommenden Terrorismus. Mit der Hauptfigur „Herr Martin“ gelingt ihr eine komplexe Charakterstudie.
Der Österreicher André Breinbauer wendet sich hingegen der Antike zu. Mit Medusa und Perseus gelingt ihm ein originelles Update des mythischen Stoffs, indem er einen Bogen hin zu aktuellen feministischen Diskursen spannt: Medusa ist kein Monster, sondern eine Frau, und Perseus ein Held wider Willen. Die leicht grotesken Zeichnungen zitieren antike Darstellungen, wirken zugleich aber modern und beeindrucken durch einfallsreiche Seitenarchitekturen.
Ein besonders ambitioniertes Projekt widmet sich dem Versuch, die gesamte Erd- und Menschheitsgeschichte abzubilden. Jens Harder startete es bereits 2009 mit dem Band ALPHA … directions, in dem er den Urknall darstellte, und legte nach BETA ...civilisations volume I nun den dritten voluminösen Band BETA ...civilisations volume II vor, der die Geschichte vom Beginn unserer Zeitrechnung bis heute abdeckt. Darin schneidet er ikonische Bilder – von Werken aus der Kunstgeschichte bis hin zu Popmotiven der vergangenen Jahrzehnte – zu einem Bilderstrom zusammen, der nur gelegentlich erklärenden Text enthält. Wer meint, dass das Projekt damit abgeschlossen sei, ist jedoch auf dem Holzweg: ein weiterer GAMMA-Band ist geplant. Er soll sich der Zukunft zuwenden.
Seine ganz eigene Idee, die Menschheitsgeschichte zu erzählen, hat Simon Schwartz entwickelt: Der Zeichner und Autor hat bereits mehrere Bände mit pointierten Lebensläufen gezeichnet, wie Das Parlament, eine Zusammenstellung kurioser Biografien von Abgeordneten in deutschen Parlamenten, die zunächst als One-Pager in Zeitungen erschienen. Vita Obscura – Life Bizarre schließt mit weiteren 50 Biografien daran an und führt erneut Schwartz’ Talent vor Augen, ganze Schicksale auf jeweils einer Seite komprimieren und zuspitzen zu können. Vom erschütternden Leben des Anton Wilhelm Amo, der als schwarzes Kind im Deutschland des 18. Jahrhunderts aufwuchs und ein wichtiger Philosoph wurde, reicht die Auswahl bis zur bewegten Biografie der Ostberliner Transperson Charlotte von Mahlsdorf. Es sind auch viele unerwartete Personen zu finden: die Schaufensterpuppe Cynthia etwa, seinerzeit Star des New Yorker Nachtlebens – eine Berühmtheit ohne Seele, aber mit viel Gips.
Frankenstein und Geisterjäger
Darf es auch ein bisschen schaurig sein? Historische Bezüge haben 2022 nicht zuletzt auch einige Gruselgeschichten auf den deutschen Graphic-Novel-Markt gebracht. So legte die Newcomerin Lara Swiontek mit Verwandlung die Adaption einer Erzählung von Frankenstein-Autorin Mary Shelley vor. Swiontek macht aus der fast 200 Jahre alten Geschichte eine zeitlose Parabel um einen selbstverliebten Hedonisten. Ingo Römling und Autor Peter Mennigen wiederum schuf mit dem Dämonenjäger Malcolm Max ein Serial in spätviktorianischem Ambiente, das in bislang fünf Bänden durch zeichnerische Virtuosität und spannend erzählte Abenteuer überzeugt.
Ebenfalls in England spielt die Kindercomicreihe Alan C. Wilder Ltd.. Sie handelt von einem kindlichen Geisterjäger, der von seinem toten, aber noch quicklebendig herumspukenden Vater bei seinen Fällen unterstützt wird. Liebevoll spielen Ulf K., der seit den 1990er-Jahren einen unverkennbaren, klaren Zeichenstil pflegt, und sein Autor Patrick Wirbeleit mit dem Gruselgenre. Für die sich an Erwachsene richtende Reihe Die Unheimlichen, in der Horrorklassiker neu interpretiert werden, hat Ulf K. mit Pickmans Modell zudem eine pointierte Adaption einer H. P. Lovecraft-Geschichte geschaffen.
Und zu guter Letzt: Das Marsupilami ist zurück!
Das wollen wir natürlich nicht vorenthalten nach so viel auferstandenen Mythen: Auch das Marsupilami ist zurück. Nach Spirou in Berlin aus 2018 wandte sich der Berliner Zeichner Flix alias Felix Görmann 2022 erneut einem belgischen Comic-Klassiker zu und zeichnete mit Das Humboldt-Tier eine fantasievolle Hommage an das Marsupilami. In seiner Version wird das Fabeltier von Alexander von Humboldt entdeckt und begegnet 1931 in Berlin einem kleinen jüdischen Mädchen in prekären Verhältnissen. Flix gelingt ein anspielungsreicher Unterhaltungscomic für die ganze Familie.
Dezember 2022