Rosinenpicker  Kein Mensch ist eine Insel

Buchcover: Zur See © Penguin / Canva

Dörte Hansens neuer Roman ist ein Schwanengesang auf das Alltagsleben der ursprünglichen Bevölkerung einer kleinen Nordseeinsel. Bei genauem Hinsehen glimmen jedoch immer wieder auch Hoffnungsschimmer zwischen den dunklen Wellen hervor.

Hansen: Zur See © Penguin Der Elefant im Raum ist in Dörte Hansens drittem Roman Zur See ein Wal am Strand. Dessen mächtiger toter Körper wirft die Leben von Familie Sander gehörig aus den Bahnen. Durch ihre Adern mag das Blut von Grönlandfahrern fließen, doch die Realität der modernen Gesellschaft hat sie längst eingeholt. „Die Leute von den Inseln müssen nicht mehr frieren, und sie müssen auch nicht mehr zur See. Sie dürfen sich, wie alle anderen, erschrecken, wenn sie an einem Wintermorgen, kurz nach Sonnenaufgang, einen Pottwal in der Brandung finden.“

Fortan schwebt der junge Wal, „der sterben musste, weil er sich verschwommen hatte“ als unübersehbares Symbol über der Familie, die zum alten „Inseladel“ zählt und Fragen nach der Selbstverständlichkeit ihrer Lebensläufe niemals gestellt hat. „Sie hätten es wohl besser wissen müssen. Aber etwas anderes, als ihren Ältesten auch auf ein Schiff zu schicken, ist ihnen gar nicht eingefallen.“ Doch mit einer der Fähren vom Festland hat offenbar auch Adorno angelegt – hinter dem Knochenzaun des schönsten Hauses der Insel lässt sie sich bald nicht mehr vermeiden, die Frage nach dem richtigen Leben im Falschen.

Balancieren an den Rändern

Hansen hat sich in ihrem gesamten Erzählwerk – und auch mit Zur See – dem ländlichen Raum Norddeutschlands verschrieben. Ihr aktueller Roman ist noch weiter an der Peripherie des Wattenmeers angesiedelt. Der Roman spielt auf „einer Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ – die Ungenauigkeit der Lokalisierung ist kein Zufall, scheint das Schicksal der Insel und ihrer Bevölkerung doch emblematisch für den gemeinhin gültigen Strukturwandel dieses besonderen geografischen Raums.

Vom Fischfang lässt es sich nämlich nur mehr schlecht als recht leben und zur See gefahren wird höchstens noch für gelegentliche Bestattungen auf dem offenen Meer. Stattdessen ist der scheinbar unaufhaltbar wachsende Tourismussektor der ökonomische Treiber des Insellebens. In Scharen suchen mittlerweile fast ganzjährig „Entschleuniger“ und „Runterkommer“ auf der Insel Zuflucht vor dem hektischen Alltag der modernen Welt: „Die Atemlosen, die die Insel nutzen wie ein Sauerstoffgerät.“

Die einheimische Bevölkerung hat sich mit dieser Doppelbödigkeit des Zusammenlebens längst arrangiert, viele sind es von klein auf gewohnt, ihre Kinderzimmer im Sommer für Feriengäste aufzugeben und ihre Statistenrollen im Inselstück zu spielen. Sie haben es perfektioniert, „das Balancieren an den Rändern“, und so gelingt es ihnen gerade noch, die immer kleiner werdenden Freiräume des Insellebens für sich zu beanspruchen – beim frühmorgendlichen Bad im Meer nach der Nachtschicht ist man sogar hier noch ganz für sich.

Eine letzte Inselchronik

Inseln sind seit langem Sehnsuchtsorte für Glückssuchende jeglicher Couleur. Sie dienen als Projektionsflächen und üben eine Faszination aus, die nicht zuletzt von der Erzählliteratur über die Jahrhunderte immer wieder angefacht wurde. Hansen schreibt gewissermaßen gegen diese Tradition an und ist um ein realistisches Sittenbild der Insel bemüht. Ihre Inselchronik richtet das Scheinwerferlicht auf das alltägliche Leben, auf die häuslichen Probleme des Inselpfarrers und die Nachtschichten im Altenpflegeheim, die koexistieren mit Shanty-Chören in falschen Trachten auf dem Inselfest und romantischen Kutschenrundfahrten, die direkt beim Fähranleger gebucht werden können.

Hansens Figuren reiben sich auf an den Stereotypen, die von außen an die Insel herangetragen werden, an Klischees von wartenden Seemannsfrauen und malerischen Leuchttürmen auf Ölgemälden. Gleichzeitig können sie sich der Tatsache nicht entziehen, dass ihr eigenes Leben untrennbar mit der Insel und ihrer Geschichte verbunden ist. Auf ihre eigene nüchterne Art kämpfen sie alle darum, einen letzten Rest authentischer Inselkultur zu bewahren.

„Es gibt hier nichts Beständiges. Das Fließen, Strömen und Verlanden, Stürmen, Außeinanderreißen hört nie auf. Land gewonnen, Land zerronnen. Alles will hier Horizont sein.“ Mit Zur See bäumt sich Hansen gegen den Sturm der kulturellen Nivellierung auf, der über den Lebensraum Nordseeinsel fegt und stellt, zumindest für einen flüchtigen Moment, ihre Geschichte als vertikales Denkmal des alltäglichen Insellebens an die Hafenkante.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Dörte Hansen: Zur See. Roman.
München: Penguin Verlag, 2022. 253 S.
ISBN: 978-3-328-60222-4

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