Rosinenpicker | Literatur  Motel Loreley

Loreleyblick Maria Ruh bei Urbar (mit Buchcover) © Jörg Braukmann, CC BY-SA 4.0 / Buchcover: Rowohlt

Andreas Stichmann, in Bonn geboren, hat schon viel Wasser den Rhein hinunterfließen sehen. Seine Erzählungen spüren den Menschen am Fluss hinterher: ihren Wünschen, Sehnsüchten – und ihren Arrangements mit der Realität.

Ein bisschen Rheinromantik steckt drin, in Andreas Stichmanns Erzählband Loreley. Doch wer Oden auf den mythischen Fluss erwartet, sieht sich getäuscht. Vielmehr sind es Erzählungen, die vom Aufeinanderprallen von Vertrautheit und Fremdheit erzählen, von Fernweh und Heimat, von Verlust und Enttäuschung – und all das versetzt mit Lakonie, Komik und Humor. Stichmann dreht in seinen Erzählungen die nüchterne Wirklichkeit auf links und kehrt auf diese Weise die Skurrilität hervor.

Punk am Rhein

Den Auftakt in dem schmalen Band macht die Erzählung Heimatgedicht. Sie erzählt von Motte, einer jungen Punkerin, die sich dazu entschieden hat, in ihrer eigenen Stadt zu zelten. An ihrer Seite durchstreifen wir den topografische Raum Bonn: Kaiserplatz, Hofgarten, Kennedybrücke. Über all dem schwebt der titelgegeben Felsvorsprung in Sankt Goarshausen und die Legende der Loreley

Die Geschichte und der Mythos: In Stichmanns Erzählungen sind sie Referenzrahmen, Relikte einer vergangenen Zeit, zu denen in der modernen Welt eine merkwürdige Distanz vorherrscht, was Stichmann mal subtil, mal ostentativ zum Ausdruck bringt. „Steffanies Augen kreiseln, wie es die Flügel der Windmühlen bis vor wenigen Hundert Jahren hier noch überall getan haben mögen.“

Kontinuitäten bleiben alt und schwer, so auch der Rhein, der in nahezu allen Erzählungen Erwähnung findet. Motte fühlt sich deshalb zu punkigen Elegien inspiriert: „grunzt du, du wasser? du flüssiger hund?/ich grunze mit!/ach, all beauty must die!/ vorbei: loreley.“

So oder so ähnlich muss diese Rhein-Punk-Poesie geklungen haben. Denn ob das Gedicht richtig wiedergegeben wurde, ist unklar. Der Erzähler der Geschichte ist vor allem ein grübelnder. Sicher ist schlussendlich nur, dass es „da unten am Rhein, ein Mädchen namens Motte gegeben“ hat.

Unentschlossener Erzähler

Diese unzuverlässige Erzählhaltung findet sich auch in der Geschichte Verwechslungen wieder. Ein Text, den Stichmann beim Ingeborg Bachmann Preis 2023 vorlas und der kontrovers diskutiert wurde. Darin berichtet der Ich-Erzähler in sechs Episoden von einem Aufenthalt in einer Allergieklinik. Kurios sind die Passagen, in denen er von dem als Demütigung erfahrenen Präsent seiner Ex-Frau erzählt, die ihn ein Liegendfahrrad schenkte. Die bemühten Skype-Calls mit seinen Kindern reihen sich gleichermaßen in die skurrilen Momente der Geschichte ein. Gerahmt wird die Erzählung von einer Begegnung mit einer Person, die der Ich-Erzähler für einen alten Bekannten namens Alexander Germ hält.

Fortlaufend ringt der Erzähler mit sich um eine adäquate Beschreibung: „Der Mann wirkte im Ganzen etwas hängend. Nur seine Stirnfalten transportierten noch dieses Schlitzohrige von damals, wobei ich schlitzohrig nur verwende, weil ich kein passendes Wort finde. Amaturenbretthaft-dämonisch würde es vielleicht treffen, ich weiß es nicht.“ Der Erzähler stellt vorlaufend Mutmaßungen an, schweift ab, irrt sich, korrigiert sich, verliert sich, beteuert, sich nicht mehr genau zu erinnern. Unvermittelt wechselt er vom Gedankenstrom in die wörtliche Rede, wodurch die Aussagen nicht mehr eindeutig zuordenbar sind. Kurz: Wir haben es mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun.

Spekulative Behauptungen gehen nahtlos in enthusiastische Suaden über, stets komisch und häufig amüsant. Zuletzt erfahren wir, dass Alexander Germ gar nicht Alexander Germ ist, sondern ein Pfleger namens Pepe Schwertens.

Ein Ort für verlorene Seelen

Alexander Stichmann gelingt es, die Charaktere in seinen Erzählungen schnell zu etablieren, ohne diese zu Schablonen verkommen zu lassen. So auch in der Geschichte Motel, in der Beate, inzwischen Witwe, „ein kleines pfirsichfarbenes Motel an einer unscheinbaren Kurve der B42“ unter den Namen Motel Loreley eröffnet. Sie bewirtet verlorene Seelen, die aus der Zeit gefallen geraten zu sein und einen Ort zum Verweilen suchen. Beate selbst sucht Gesellschaft, doch findet sie nicht bei ihren Gästen, die zu keinem Zeitpunkt der Geschichte greifbar werden. Durch den Blick der Witwe tauchen die Figuren immer auf und ab, kommen und gehen – und verlassen schließlich die Szenerie. Mit einem letzten Blick auf die flüchtigen Gestalten verabschiedet sich Stichmanns Erzählband, seine Figuren im Fluss der fortlebenden Vergänglichkeit zurücklassend.
 
Andreas Stichmann: Loreley. Erzählungen
Hamburg: Rowohlt, 2024. 128 S.
ISBN: 978-3-498-00701-0