Rosinenpicker | Literatur  Zwischen Mama und Mutter

Dobler: Ein Sohn von zwei Müttern © Tropen / Canva

Über sein Leben als Adoptivkind wollte Franz Dobler lange kein Buch schreiben. Nun hat er es doch getan – zum Glück.

Franz Dobler verfasst seit Jahrzehnten Bücher, Romane und Erzählungen, aber auch Sachbücher. Seine Liebe zur Country-Musik mündete zum Beispiel in eine Johnny-Cash-Biografie. Erfolgreich war er zuletzt mit Krimis. 2015 wurde Dobler für Ein Bulle im Zug (2014) mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, mit dem Nachfolger Ein Schlag ins Gesicht (2016) landete er 2017 auf Platz 3. Nun hat sich der Augsburger Schriftsteller mit seinem Roman Ein Sohn von zwei Müttern dem Thema Adoption zugewandt.

Adoption ist für Dobler ein persönliches Lebensthema. Obwohl er als Adoptivkind aufgewachsen ist, zögerte er lange, darüber ein Buch zu schreiben, sammelte aber Notizen. Das Gefühl, das Thema „aus dem Weg räumen zu müssen“, bewog ihn schließlich, diesen an sein Leben angelehnten Roman zu schreiben. Seine Erfahrungen hat er in der Figur eines deutsch-iranischen Adoptivsohnes verarbeitet. Einen Seitenhieb auf das autofiktionale Schreiben, das gerade en vogue ist, kann sich Dobler in Ein Sohn von zwei Müttern nicht verkneifen:

Was für viele und anscheinend immer mehr Autor:innen das höchste der Gefühle war – das eigene Leben ... zu erforschen und literarisch aufzubereiten –, langweilte ihn schon beim Gedanken daran.

 

Ein Netz von Mutterproblemen

Die Geschichte beginnt in einem Flugzeug. Der Protagonist fliegt mit seiner Frau nach New York zur leiblichen Mutter, die er seit 30 Jahren nicht gesehen hat. Ob er dort wirklich ankommen will, weiß er nicht. Er fabuliert über einen möglichen Absturz und zündet sich seine vermeintlich letzte Zigarette an, was zu einer Auseinandersetzung mit einem anderen Fluggast führt. Anschließend sinniert er über die Bedeutung der Mutter im Leben eines Menschen. Für ihn ein doppeltes Problem, da er ja neben der Mutter, die ihn gebar, eine „Mama“, die ihn adoptierte, hatte. Letztere war 20 Jahre älter als seine Mutter und schon tot. Für ihn liegt „ein Netz von Mutterproblemen“ über der Welt, angesichts dessen er sich fragt, warum es überhaupt noch so viele Menschen gibt.

Doblers literarisches Alter Ego wächst in der Eisenbahnersiedlung einer oberbayerischen Kleinstadt in den 1960er-Jahren auf. Der Junge hat eine durchschnittliche Kindheit, mit Eltern, die für ihn da sind. Dass der Heranwachsende mit ihnen, insbesondere mit dem Vater, wegen langer Haare oder seinem Faible für Punk, Jazz und Literatur Ärger hat, ist nichts Besonderes. Als er einem älteren Freund erzählt, er sei ein Adoptivkind, um sich interessanter zu machen, antwortet dieser nur: „Ist doch scheißegal, alle Eltern sind scheiße.“ Diese lakonische Betrachtungsweise macht sich der Protagonist zu eigen. Als er in seiner Studentenzeit im München der 1980er-Jahre aus Neugier eine Selbsthilfegruppe für Adoptivkinder besucht, geht ihm die „Betroffenheitskacke total auf die Nerven, ich will mich da nicht drin rumwälzen, gibt ja wohl noch was anderes im Leben“.

Dennoch ist es ein langer Weg zu der Einsicht, dass Herkunft im Leben nicht die entscheidende Rolle spielt, dass man sich von ihr – zumindest teilweise – frei machen kann. Dobler greift damit auch das Thema Identität auf. Identität ist in den Augen der Hauptfigur, mittlerweile selbst als Schriftsteller tätig, aber weder im Singular zu haben noch abschließend zu klären

Zumal man bei unklarer Herkunft mit einer unschätzbaren Anzahl von Identitätsmöglichkeiten rechnen musste, begleitet von einer unüberschaubaren Anzahl von Problemen, die nicht zu lösen waren.

Veranlagung zum Serienkiller?

Der Roman folgt dem Prinzip der literarischen Montage und enthält – neben den erzählerischen Passagen – zahlreiche Reflexionen, Erinnerungen und Zitate. Passende Bezeichnungen für sein „kurioses Unterfangen“ sind für den Erzähler „Bruchstücke, Splitter, Fetzen“. Am Ende des Romans gibt es eine Literaturliste mit „Quellen und Inspirationen“. Eine davon ist Peter Wawerzineks Roman Rabenliebe (2010), vor dem sich Dobler verneigt, es sei „das schwersterträgliche wie auch großartigste Stück Literatur, das aus der Problemzone Mutter-Heim-Adoption-Erinnerungen erzählte“. Ein knalliger Input stammt aus der US-Sitcom Seinfeld. In einer Episode wird behauptet, Adoptivkinder würden häufiger als der Durchschnitt Serienmörder. Auch wenn die statistischen Grundlagen dieser These etwas obskur sind, greift Dobler dieses reißerische Klischee gerne auf, frei nach dem Motto: „Jede Assoziation ein Überfall.“

Der leibliche Vater kommt übrigens nur am Rand vor. Er hatte einen One-Night-Stand mit der Mutter, sein Name ist nicht überliefert, vielleicht hieß er Ali. Als der Protagonist eines Tages nach vielen Jahren zu einer Lesung mal wieder in seinem Geburtsort ist, wird ein ironischer Hinweis platziert, auf einem Plakat steht: „Endlich wieder Rock ’n’ Roll all night long mit DJ Ali!

Mit dem Adoptivvater, Papa genannt, werden zwar die üblichen Vater-Sohn-Konflikte geschildert, gleichwohl existiert ein Grundvertrauen:

Selbst als die Brücke zum Adoptivsohn vollständig unpassierbar geworden war, hatte der Sohn nie einen Zweifel, dass der Papa sofort da wäre, wenn der Sohn um Hilfe rufen würde, auch wenn er die Art der Hilfe natürlich selbst entscheiden würde.

Ruppig und einfühlsam

Distanz zu der Geschichte stellt Dobler über die Erzählperspektive her. Es ist ein auktorialer Erzähler, der die Geschichte des Adoptivsohns in der dritten Person erzählt. Im Roman gibt es auch immer wieder eckige Klammern, in denen dieser Erzähler seinen Text kommentiert bzw. sich noch öfter selbst kritisiert oder ermahnt: „[nicht mit Zitaten überfrachten!]“, „[weniger umständlich wäre besser]“.

Dobler legt die Hauptfigur in Ein Sohn von zwei Müttern wie die scheinbar hartgesottenen Ermittler in seinen Krimis an, sie ist so ruppig wie einfühlsam. Und so wie der Protagonist zu Beginn im Flugzeug sitzt, aber gar nicht so recht am Ziel ankommen mag, verhält es sich auch mit diesem intellektuell anregenden, aber auch emotional tiefgründigen Roman, bei dem der Erzähler weiß, dass er „keinen Abschluss, kein Ende finden und nicht fertig werden würde“. Adoptierte befinden sich wohl häufig auf einer lebenslangen Suche, können aber nirgendwo mehr ankommen, weil eine Reise in die Vergangenheit zwangsläufig ohne Ziel ist.
 
Franz Dobler: Ein Sohn von zwei Müttern. Roman
Stuttgart: Tropen, 2024. 224 S.
ISBN: 978-3-608-50422-4
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